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Zauberberggast
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München

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Insgesamt 155 Bewertungen
Bewertung vom 07.03.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


ausgezeichnet

"Dankbarkeiten" ist ein feinsinniger kleiner Roman über den Verlust von Sprache und darüber, was dieser Umstand mit uns macht. Eine Novelle über das Älterwerden, den unaufhaltsamen Verfall und darüber, wie wir ihm begegnen können. Fern von Fatalismus, aber dennoch mit einer großen Portion Tristesse angesichts des unvermeidlichen Wegs allen Irdischens erzählt Delphine de Vigan vom Altsein Michkas und ihren letzten Lebenswochen in einem Pariser Seniorenheim.

Die Tragik: Michka ist kinderlos und ohne Verwandte. Sie muss sich im Alter auf die Fürsorge derer verlassen, die dies freiwillig machen, so wie Marie, eine der beiden Ich-Erzähler des Romans. Oder eben auf das ungastliche Seniorenheim mit seiner nüchternen, distanzierten Direktorin. Denn alleine wohnen kann und will sie nicht mehr. Außerdem leidet sie an Sprachverlust, sie verliert die Wörter, ersetzt sie durch die, die ihr gerade in den Sinn kommen. Ironie des Schicksals, war sie früher doch Korrektorin, hat Texte verbessert, mit Wörtern gearbeitet.

Wenn Michka um die Worte ringt, gleichsam um sie kämpft und trotz allen Aufbäumens doch wieder in Kauderwelsch verfällt, dann ist das rührend, es geht ans Herz des Lesers.
Jérôme, der andere Ich-Erzähler, ist Michkas Logopäde. Er macht mit ihr und anderen alten Menschen im Seniorenheim Sprachübungen. Die Wortlosigkeit, die Alter, Alzheimer und Demenz mit sich bringen, ist sein täglich Brot und dennoch lässt sie ihn nicht kalt. Die mitunter bewegendsten Sätze des Buches sind seine Gedanken über die Tragik des Sprachverlusts.

Der Kurzroman heißt “Dankbarkeiten”, denn es geht auch um das Grundbedürfnis des Menschen, “Danke” zu sagen. Bevor Michka gehen kann, möchte sie noch Danke sagen und zwar jenen Menschen, die sie nach der Deportation ihrer Eltern während des Zweiten Weltkriegs gerettet haben - aus reinem Altruismus heraus. Der Logopäde Jérôme hilft ihr dabei.

Es ist mein erstes Buch von Delphine de Vigan, eine wirkliche Neuentdeckung für mich! Ein wirklich berührender, in sich geschlossener Kurzroman, bei dem kein Wort überflüssig ist.

Bewertung vom 01.03.2020
Das kann uns keiner nehmen
Politycki, Matthias

Das kann uns keiner nehmen


sehr gut

"Das kann uns keiner nehmen” ist ein Buch, das den Leser mitnimmt auf eine emotionale Reise durch Afrika - und auch durch die Lebenserinnerungen zweier Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten…

Der eine, Tscharli, ist ein bärbeißiger Exil-Bayer (Miesbach und München hat er hinter sich gelassen) mit dem Aussehen eines verlebten Altrockers, teilweise reaktionären Ansichten und einem sehr sensiblen Kern. Er ist ein Alltagsphilosoph vor dem Herrn und kann mit seinen Sentenzen und seiner Weltanschauung niemals hinter dem Berg halten. Er sagt, was er denkt und tut, wonach ihm der Sinn steht. Er hat nämlich nichts mehr zu verlieren...

Der andere, Hans aus Hamburg oder wie ihn der Tscharli aufgrund seiner improvisierten Kopfbedeckung auch - erst despektierlich dann zunehmend liebevoll - nennt, "Windelhans", ist das Alter Ego des Autors. 63 ist er, das deckt sich sehr genau mit dem Jahrgang seines "Erfinders" Matthias Politycki (1955) zur Zeit der Handlung 2018. Genau wie der Ich-Erzähler hat dieser einen rasierten Schädel und ist - es liegt in der Natur der Sache - Schriftsteller. Sicher teilt der Protagonist auch die iberal-weltoffene Gesinnung mit seinem Autor und die Vorliebe für das Reisen, schließlich ist Polyticki als polyglotter Schriftsteller bekannt, dessen Bücher in den unterschiedlichsten Erdteilen und Kulturen angesiedelt sind. Bei allen Analogien ist der Ich-Erzähler als nicht deckungsgleich mit dem realen Autor zu betrachten. Beide trennen die Vornamen, die Gutmenschen-Hornbrille (auch eine Beobachtung des Tscharlie) und der Buch-Schriftsteller ist außerdem wesentlich weniger erfolgreich als der echte. Dass der Roman nur autobiographische Züge trägt, aber keine 1:1-Nacherzählung realer Erlebnisse ist, erfahren wir spätestens im Nachwort.

Beide Männer begegnen einander gleichsam "lebenszielabhakend" und bergsteigend auf dem Kibo, dem höchsten Gipfel des Kilimandscharo-Massivs. Als Zweckgemeinschaft erleben und überleben die schon etwas älteren Männer den Aufenthalt im afrikanischen Gebirge. Hier nähern sie sich an und hier beginnt ihre "Sekundenfreundschaft", wie der Tscharli es formuliert, die nicht längern dauern wird als eine Woche. Dennoch beeindruckt die Begegnung mit dem kranken Tscharli den Erzähler Hans so nachhaltig, dass er sogar ein Buch über die Geschichte schreiben möchte - mit dem dezidierten Segen vom Tscharli. Nach dem Abstieg folgt eine emotionale gemeinsame Reise, die die beiden Sinnsucher bis auf die Insel Sansibar und wieder zurück führt. Und auch in die eigene Vergangenheit werden die Männer noch einmal reisen - zu Kiki und Mara - bevor es Zeit wird, Abschied voneinander zu nehmen.

Das Buch hat einen gewissen Charme, der mich schnell um den Finger wickeln konnte, ähnlich wie der Tscharli den Hans. Von todtraurig bis lebensbejahend, von ernst bis skurril, humorlos bis albern hat diese Geschichte alle möglichen Nuancen zu bieten. Wer vielschichtige Reise- und Bekenntnisliteratur mag, der sollte sich diesen Roman nicht entgehen lassen!

Bewertung vom 01.03.2020
Hannah Arendt
Sánchez Vegara, María Isabel

Hannah Arendt


sehr gut

Die Reihe “Little People Big Dreams”, in der Persönlichkeiten der Weltgeschichte im Bilderbuchformat präsentiert werden, ist ein voller Erfolg. Letzteres lässt sich daran ablesen, dass nunmehr ein neuer Schwung Bände ins Deutsche übersetzt wurde, darunter der Band über Hannah Arendt.

Die Bände zeichnen sich aus durch eine hochwertige bibliophile Gestaltung (Leinenrücken, thematisch wechselndes Vorsatzpapier, hochwertige Papierwahl), eine prägnante Bebilderung (wobei es verschiedene IllustratorInnen gibt) und eingängige, kurze Textbausteine, die die doppelseitigen Illustrationen ergänzen. Das Ganze wird durch ein 2-seitiges biographisches Nachwort mit zusätzlichem Informationsgehalt abgerundet.

Ziel der Bände ist es wie gesagt, berühmte Persönlichkeiten aus den Bereichen Kunst, Kultur, Wissenschaft, Gesellschaft, etc. einem jungen Publikum nahezubringen. Die Bände sind ab 4 Jahren empfohlen, wobei ich dies trotz aller Begeisterung für die Reihe kritisch sehe. Themen wie Gewalt, Rassismus und Mord (z.B. in den Bänden zu Agatha Christie, Anne Frank), die im vorliegenden Band auch eine Rolle spielen, sind meines Erachtens für Kleinkinder noch wo es geht zu vermeiden.

Das Leben von Hannah Arendt ist in jedem Fall erzählenswert, ist sie doch eine große Persönlichkeit der Philosophiegeschichte und eine brillante Denkerin. Ihr Schicksal sowie ihr Werk sind untrennbar mit dem Nationalsozialismus verbunden, war sie doch als Jüdin der unmittelbaren Bedrohung durch das Terrorregime ausgesetzt. Erst im Exil in den USA konnte sie sich frei entfalten, eine Universitätskarriere machen und sich philosophisch mit den Schrecken von Machtmissbrauch und dem Terror des NS-Regimes auseinandersetzen.

Wichtig ist hier auch wieder die Botschaft an die Kinder, dass man trotz einer gewissen Herkunft und der Determination durch das Geschlecht alles werden kann, was man sich erträumt (hier: Philosophin und Professorin).

Weshalb ich diesem Buch nicht die volle Punktzahl gebe: Die Illustrationen sind meiner Meinung nach an einigen Stellen nicht kindgerecht. Während die Hauptfigur sehr schön und differenziert gezeichnet wurde, sind die Statisten in diesem Buch sehr fratzenhaft und dadurch beängstigend illustriert worden. Natürlich sollen die Kinder, die Hannah auf dem Schulhof beschimpfen, nicht positiv dargestellt werden, aber ihr Anblick macht selbst mir ein wenig Angst. Auch von der Farbgebung ist das Buch recht düster, was natürlich auch mit an der teilweise negativen Thematik liegt. Ein Buch “ab 4 Jahren” ist es dadurch für mich auf keinen Fall!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.03.2020
Das Haus der Frauen
Colombani, Laëtitia

Das Haus der Frauen


ausgezeichnet

Dieses Buch ist einfach großartig, denn es geht zu 100 Prozent ans Herz. Ich habe das Debüt der Autorin - "Der Zopf" - noch nicht gelesen, werde das aber ganz sicher nachholen.

Solène, eine 40-jährige Anwältin aus Paris, fällt aufgrund des Suizids eines ihrer Mandanten und wegen der verflossenen Liebe zu ihrem Ex Jérémy in eine tiefe Depression. Dazu kommt ein Burnout, das es ihr unmöglich macht, ihren Beruf weiterhin auszuüben. Ihr Psychologe rät ihr zu sozialem Engagement, worauf sie sich etwas widerwillig einlässt. Sie bewirbt sich bei einem "Haus für Frauen", wo sie als "Öffentliche Schreiberin" tätig wird. Im "Palast der Frau" erledigt sie die Korrespondenz für die vom Leben gezeichneten Frauen, die hier Zuflucht gefunden haben.

Im historischen Teil, der parallel zur Geschichte von Solène erzählt wird, lernen wir Blanche kennen, die den “Palast der Frau” aus ihrem humanitären Engagement heraus in den 1920er Jahren gegründet hat. Blanche Peyron und ihr Mann Albin engagieren sich in der Heilsarmee und besonders Blanche nehmen die Schicksale der obdachlosen Frauen so sehr mit, dass sie ein Frauenhaus bauen möchte. Leider kostet das perfekte Gebäude mehrere Millionen Francs. Doch das stört die kämpferische, hoch intelligente und einfühlsame Frau nicht. Sie kämpft für die bedürftigen Frauen von Paris und wird schließlich reüssieren.
Blanche und Albin Peyron hat es tatsächlich gegeben, ihr Lebenswerk, der “Palast der Frau”, existiert noch heute.

Laetitia Colombani erzählt schnörkellos und mit viel Gefühl - eine wunderbare Mischung. An einigen Stellen im Roman sind auch bei mir alle Dämme gebrochen und ich musste weinen - Cvetanas "Brief an Elizabeth", die Geschichten von Binta und Sumeya, Cynthia, Viviane, Iris, Renée, Lily, etc., die Berichte von Blanche im historischen Teil. Die Frauen sind zwar fiktiv, ihre Geschichten stehen aber für so viel reales Leid, für das vielfältige Unrecht, das Frauen erdulden mussten und noch heute müssen. Sie alle zeigen exemplarisch, wie unfassbar ungerecht ein Leben verlaufen kann und dass es dennoch, trotz allem, Hoffnung gibt.

Die "beschädigten Biographien" gehen auch Solène nicht mehr aus dem Kopf und vor allem aus dem Herzen. Plötzlich steht ihr eigenes, allzu privilegiertes Leben auf dem Prüfstand. Kann sie sich aus ihrer Depression befreien und ein glückliches, erfülltes Leben führen? Und: Kann sie endlich ihren Traum, literarisch zu schreiben, ausleben?

Das Buch stellt das Thema Frauenschicksale in den Fokus und die Botschaft ist eindeutig politischer, gesellschaftskritischer Natur. Wir müssen integrieren statt abschieben, Brücken bauen statt sie einzureißen, empathisch und offen sein statt egoistisch und verschlossen. Dann funktioniert auch Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der alle ein Zuhause haben und Frauen - wie die im Roman oft zitierte Virginia Woolf so schön und richtig sagte - ein "eigenes Zimmer".

Bewertung vom 24.02.2020
Raffael - Das Lächeln der Madonna
Martin, Noah

Raffael - Das Lächeln der Madonna


ausgezeichnet

Komplexe historische Romane von einem gewissen Umfang zeichnen sich im Idealfall dadurch aus, dass sie die erzählte Zeit/Vergangenheit in all ihren Facetten vor den Augen des Lesers lebendig werden lassen und genau das gelingt Noah Martin in “Raffel - Das Lächeln der Madonna” mit Bravour.

Das Italien des frühen 16. Jahrhunderts ist ein Italien der Kleinstaaterei und der Machtkämpfe unter den Fürstentümern. Es ist das Italien, in dem die Borgia die Macht im Kirchenstaat innehaben und die Medici die Strippen ziehen. Aber es ist auch das Italien, in dem mit die größten bildnerischen Kunstwerke der Weltgeschichte innerhalb kürzester Zeit geschaffen wurden. Das Italien der Hochrenaissance von Leonardo da Vinci und Michelangelo, um nur die beiden vermutlich bekanntesten Künstler dieser Zeit zu nennen, die auch im Buch von Noah Martin vorkommen.
In dieses Italien der Renaissance wurde Raffael(o) Sanzio 1493 in Urbino hineingeboren, hier machte er seine kurze, aber intensive Karriere wurde zu einem der bedeutendsten bildenden Künstler aller Zeiten.

Noah Martin nutzt die Technik der Zeitsprünge, um Raffaels Leben zu erzählen. Zwischen den einzelnen Kapiteln liegen mehrere Monate oder sogar Jahre. Es wird demnach in Episoden erzählt und die Handlung umfasst das Leben Raffaels ab einem Alter von 9 Jahren bis zu seinem frühen Tod mit 37 Jahren. Die wesentlichen Stationen seines Lebens - Urbino, Perugia, Siena, Florenz, Rom - werden erzählerisch abgeschritten. Die bittersüße Liebesbeziehung Raffaels zur Bäckerstochter Margherita Luti (genannt "La Fornarina"), die er häufig portraitierte, ist dabei der rote Faden, der den Plot zusammenhält. Dazwischen nutzt Martin Nebenfiguren, um das lebendige Zeitgemälde, das sein Roman ist, zu illustrieren. Anhand ihrer verdeutlicht der Autor Intrigen und Politik im Vatikan und in anderen Teilen Italiens und gibt somit einen Einblick in die Gesellschaft der damaligen Zeit. Wie in vielen bekannten historischen Romanen epischen Ausmaßes (Ken Follett, Rebecca Gablé, etc.) bringt die Handlung eine Vielzahl fiktiver und historischer Personen zusammen, allein das Personenverzeichnis umfasst fünf Seiten.

Der Leser blickt Raffael bei der Entstehung einiger seiner Kunstwerke über die Schulter. Unter anderem dürfen wir ihm bei der Erschaffung von "Die Dame mit dem Einhorn” zuschauen. Später in Rom begleiten wir ihn dann bei der Arbeit an seinen berühmten Fresken für Papst Julius II. ("Die Schule von Athen"). Wir sind Zeuge, wie Raffael den letzten Schliff an seine "Sixtinische Madonna" setzt - die berühmten Engelchen. Und natürlich beim Malen der Bilder, in denen seine Muse Margherita Luti portraitiert wurde.
Diese fiktionale "biographische Werkgeschichte" macht für mich einen besonderen Reiz des Buches aus.

Martin ist die Begeisterung für die großen Maler der Renaissance anzumerken, ohne diese aber unnötig zu sakralisieren oder ihren Charakter zu verklären. Das finde ich so wunderbar erfrischend an dem Buch! Der Schlagabtausch zwischen den Maestros ist ein allzu menschliches "Battle", in dem trotz allem Genie niedere Motive wie Habgier, Eifersucht und Missgunst durchaus eine Rolle spielen. Die tätsächliche Begegnung und Konkurrenzsituation zwischen Leonardo da Vinci und Michelangelo lässt diese Giganten der Kunstgeschichte in einem völlig neuen Licht erscheinen. Wobei das Universalgenie Leonardo als Verbündeter Raffaels deutlich besser wegkommt als der eigenbrötlerische Michelangelo.

Das Buch ist opulent, bildgewaltig und großartig. Sicherlich ein Muss für jeden, der sich für die italienische Renaissance interessiert. Noah Martin ist hier wirklich ein ganz vortrefflicher historischer Roman und ein fulminantes Debüt gelungen! Bitte mehr davon, würde ich sagen (z.B. ein Roman über Botticelli, Dürer, Tizian, etc., die im Buch übrigens auch alle genannt werden).

Bewertung vom 08.02.2020
Marianengraben
Schreiber, Jasmin

Marianengraben


gut

Der Tod und das, was er mit den Überlebenden macht, ist das Thema von Jasmin Schreibers Debütroman "Marianengraben".
Die Biologie-Absolventin Paula betrauert den Tod ihres zehnjährigen Bruders Tim, der im Meer ertrunken ist - Ironie des Schicksals, denn Tim liebte das Meer und seine Bewohner über alles, wollte sogar Meeresforscher werden. Bei einem nächtlichen Besuch am Grab des Bruders trifft sie auf den 83-jährigen Helmut, der die Asche seiner Freundin und Ex-Frau Helga ausbuddelt, um diese in Südtirol zu verstreuen. Die skurrile Schicksalsgemeinschaft begibt sich auf einen schicksalhaften Roadtrip.

Die Idee den Roman so zu strukturieren, dass die Ich-Erzählerin mit jedem Kapitel ein paar Meter mehr aus dem Marianengraben auftaucht - im übertragenen Sinne - finde ich gut. So finden Inhalt und Form zusammen. Die Erzählerin spricht ihren verstorbenen Bruder direkt an, was dem Ganzen eine besondere Intimität verleiht. Ich als Leser habe mich dadurch aber auch etwas fehl am Platz und teilweise wie ein Voyeur gefühlt, so als wären die Worte Paulas exklusiv für Tim und niemand anderen sonst bestimmt. So fehl am Platz wie Paula sich in Helmuts Elternhaus fühlt, als sie das ehemalige Zimmer seine Schwester betritt.

Das Buch hat mich - anders als viele andere Rezensenten - emotional nicht so mitgenommen. Es ist ein solides Buch über Tod und Trauer, aber für mich war es kein Highlight in diesem Genre. Viele Dinge waren mir zu bemüht und klischeehaft, die Erzählung oft zu pathetisch, die Bildsprache zu gewollt, die Sprache zu flapsig. Ich habe weder zu Paula, noch zu Helmut einen richtigen Zugang gefunden. Paulas Denkweise finde ich für eine Mitte bis Ende 20-jährige (?) Doktorandin stellenweise sehr jugendlich-naiv. Die Charaktere sind außerdem überzeichnet, ohne dass Satire oder Schwarzer Humor intendiert wären. Mal von der Ausbuddel-Aktion, vom Roadtrip und von Paulas Unfähigkeit, tagsüber auf den Friedhof zu gehen, abgesehen: Die Reaktionen der beiden Protagonisten auf den Tod des jeweiligen Verstorbenen sind - für mein Verständnis - einfach übertrieben. Die Autorin lässt Paula nach der Nachricht vom Tod ihres Bruders ein Glas Mayonnaise “mit den Händen” am Straßenrand essen, danach muss sie sich deswegen übergeben. Helmut geht nach Helgas Tod in den Baumarkt und streicht sein Schlafzimmer grün, obwohl er die Farbe eigentlich hasst. Ich weiß nicht, das hat für mich sowas von: Ich lasse die beiden jetzt etwas ganz Originelles tun, weinen und zittern kann ja jeder.
Dazu kommen noch Handlungselemente, die eben weniger originell sind: Die Adoption eines ungewöhnlichen Haustiers mit Federn, dem man einen lustigen Menschennamen gibt; Klischee-Traumberuf MeeresforscherIn; die Schicksalsgemeinschaft von zwei sehr unterschiedlichen Menschen (hier: junge Frau in Lebenskrise und grumpy old man), illegales Verstreuen der Asche eines geliebten Angehörigen…
Die Koinzidenz mit den beiden Verlusten durch Ertrinken finde ich auch too much.

Wie gesagt: eine nicht ganz so begeisterte Stimme kann das Buch sicher vertragen und es ist ja auch nicht schlecht. Es hat mich persönlich einfach nur nicht umgehauen. Also "Marianengraben": It's not you, it's me!

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.02.2020
Nach Mattias
Zantingh, Peter

Nach Mattias


sehr gut

Mattias ist tot - und er hat Spuren hinterlassen. Die Menschen, die ihm nahestanden oder aber solche, die ihn nur flüchtig kannten oder sogar gar nicht, sind die Hauptpersonen dieses einfühlsamen Romans. Den titelgebenden Mattias lernen wir nur in der Retrospektive, in der Gedankenwelt seiner Angehörigen, Bekannten und Freunde, kennen. Jedes Kapitel ist aus einer anderen Perspektive erzählt. Die Figuren reflektieren sich und ihre Lebenssituation - nach Mattias, ohne ihn.

Da wäre seine Lebensgefährtin Amber (die als einzige Figur zwei Kapitel bekommt, die das Buch umrahmen), sein bester Freund Quentin, seine Großeltern Riet und Hendrik, seine Mutter Kristianne. Aber auch Menschen wie Issam, der Mattias nur über das Internet kannte (meine “Lieblingsfigur” übrigens) oder Chris, der eigentlich nur durch den Trauerprozess von Quentin in den Kosmos um Mattias eingetreten ist. Insgesamt sind es 8 Erzähler.

Für jede der Figuren hat der Tod von Mattias andere Konsequenzen und alle sind durch dieses traurige Ereignis miteinander verbunden. Wie Zahnräder greifen ihre Leben ineinander. Ihr Leben verändert sich, weil ein Mensch nicht mehr da ist. Diesen Aspekt finde ich das Interessante an dem Buch: was verändert unser Sein oder eben Nicht-Sein auf dieser Welt? Wie jeder individuell mit Trauer und der großen Lücke umgeht, die entsteht, wenn ein Mensch fehlt, darum geht es in "Nach Mattias".

Die Erzählungen der Figuren umkreisen den abwesenden Mattias wie Planeten einen Fixstern. Dadurch macht sich der Leser ein immer besseres Bild von Mattias, aber auch von seinem Umfeld, den Hinterbliebenen, denen, die mit ihm verbunden waren. Der Leser fragt sich, was eigentlich mit Mattias passiert ist - war es ein Unfall, eine Krankheit, Selbstmord oder etwas anderes? Ganz am Ende fügen sich die Puzzleteile zusammen, wir erfahren wie Mattias ums Leben gekommen ist und was die einzelnen Erzähler damit zu tun haben.

In die Reflexionen der Angehörigen fließen viele Betrachtungen über unsere momentane moderne Lebenswelt - "Nach Mattias" ist Gegenwart pur! Der Serien-Streaming-Dienst, die bekanntesten sozialen Netzwerke, Computerspiele, die Omnipräsenz und moderne Abhängigkeit von Smartphones, Sport und Selbstoptimierung, aber auch der Klimawandel, Integration von Flüchtlingen bzw. die Flüchtlingskrise im Mittelmeer: Präsente Dinge unseres Alltags(er)lebens, aber auch drängende politisch-soziale Fragen unserer Zeit werden hier literarisch verarbeitet.

Dieser Roman hat mich tief berührt. Einfach die Tatsache, dass ein junger Mensch gestorben, “von der Bildfläche verschwunden” ist und so vielfältige Spuren in den Herzen und Köpfen anderer Menschen hinterlassen hat. Jede Figur im Buch hat ihr eigenes Leben, aber "nach Mattias" ist es doch anders als zuvor. Und egal, ob es einfach der ausbleibende Online-Austausch über ein PC-Spiel ist oder die unfassbare Lücke, die der Tod des eigenen Partners, Kindes oder Enkelkindes hinterlässt: Mattias fehlt auf dieser verrückten Welt, die ohne ihn eine andere ist: “nach Mattias” eben.

Bewertung vom 27.01.2020
Das Gerücht
Kara, Lesley

Das Gerücht


sehr gut

Über die unheilvolle Eigendynamik, die sich entwickelt, wenn Klatsch und Tratsch verbreitet werden und die mitunter fatalen Konsequenzen für alle Beteiligten - davon erzählt die Britin Lesley Kara in ihrem Romandebüt “Das Gerücht”.

Durch die Augen der Ich-Erzählerin Joanna blicken wir auf die (fiktive) Kleinstadt Flinstead an der Atlantikküste, die jede englische Kleinstadt am Meer sein könnte. Sie ist mit ihrem sechsjährigen Sohn Alfie zurück an ihren Heimatort gezogen, nach vielen Jahren in der Metropole London. Hier ist ihre Mutter nach wie vor beheimatet, aber richtige Freunde hat sie im Ort noch keine, immerhin Bekannte und einen Job als Maklerin in Teilzeit. Mit Michael, dem Vater des Kindes, führt sie eine freundschaftliche Fernbeziehung, die manchmal eine “with benefits”-Komponente entwickelt. So weit, so gut. Wäre da nicht ein Gerücht, das Joanna an Archies Schule aufschnappt, verbreitet von einer der Mütter von Alfies Klassenkameraden. Die verurteilte Kindermörderin Sally McGowan, die als Zehnjährige einen fünfjährigen Jungen erstochen haben soll, soll unter neuer Identität in Flinstead leben. Joanna verbreitet das Gerücht und findet sich plötzlich in eine Rufmordkampagne verwickelt, die ihresgleichen sucht.

In "Das Gerücht" spielen Frauen - Mütter, Töchter, Nachbarinnen - die Hauptrolle. Die scheinbar so "weibliche" Neigung zu sozialer Interaktion und zum Verbreiten von Gerede ist ein Hauptmotiv dieses Romans.
Die Tatsache, dass Joanna als Maklerin arbeitet, ist clever konstruiert, denn so hat sie Zugang zu fremden Häusern und Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen, Einheimischen und Fremden. Auch dass ihr On-Off-Lebenspartner Michael Journalist ist, bietet sich geradezu als Movens für die Handlung an.

Es ist unheimlich, wie eine scheinbar so banale Sache wie ein Gerücht eine derartige Drohkulisse erzeugen kann. Das Gerücht bestimmt bald sämtliche soziale Interaktion in Flinstead. Es ist erschreckend, was Mobbing mit Tätern und Opfern machen kann, wie Missgunst und falsche Anschuldigungen ganze Leben zerstören können. In Zeiten des Internets ein sehr wichtiges Thema, das literarisch auch zum Glück immer öfter verarbeitet und damit angesprochen wird.

Manchmal wirkt Joannas Leben leicht "übererzählt", denn nicht alles hat unmittelbare Relevanz für die Story und trägt allenfalls zur Atmosphäre bei. Es hat mich aber nicht großartig gestört und der stets latent vorhandenen Spannung keinen Abbruch getan.

Der Twist am Ende des Buchs hat mich ebenfalls überrascht und somit ist “Das Gerücht” ein wirklich spannender, gut geschriebener “Soft-Thriller”. Gerne mehr von dieser Autorin!

Bewertung vom 22.01.2020
Drei Wünsche
Karasek, Laura

Drei Wünsche


sehr gut

3 Frauen "in der Bredouille"

Laura Karasek (Jahrgang 1982) portraitiert 3 Frauen ihrer Generation, so, wie sie eben sein könnten. Die Mädchen der neunziger Jahre mit ihren Tamagotchis sind Thirtysomething-Frauen in der Rushhour des Lebens geworden und schlagen sich mit den Themen und Problemen herum, die man in dieser Lebensphase eben hat: alternde und in diesem Fall sogar sterbende Eltern, eine eingefahrene Beziehung, Kinderwunsch, Schwangerschaft, die tickende biologische Uhr, Alltagssorgen, Affären, Karrieredruck und eben Steine, die einem dabei in den Weg gelegt werden, aus denen man aber leider nichts "Schönes bauen" kann, wie Goethe einst sagte (er war ja auch keine Frau um die 30).

Die metaphorischen Steine scheinen für Helena, Rebecca und Maxie eher das Format von Findlingen zu haben, so schwer tun sich die drei in der im Roman erzählten Gegenwart mit ihrem Leben, so sehr hadern sie mit ihrem Schicksal, so sehr eingesperrt sind sie im Gefängnis der gesellschaftlichen Erwartungen, obwohl es ihnen ja eigentlich gut geht in dieser "satten", bequemen Welt.

Helena ist die Verlagsangestellte mit dem kürzlich an Krebs gestorbenen Vater, die ganz normal von ihrem Mann schwanger wird und mit dem Zwiespalt zwischen Trauer und Freude zu kämpfen hat.
Maxie ist die erfolgreiche PR-Frau, die mit ihrem Kardiologen-Ehemann ein scheinbar perfektes Leben führt - bis ihre Affäre mit dem älteren, ebenfalls verheirateten Geschäftsmann Bobby verhängnisvoll wird.
Rebecca, ebenfalls irgendein perfekter Bürojob und ein perfekter Ehemann, ist schließlich die, die an ihrem überfüllten Kinderwunsch zu verzweifeln droht.

Karasek spricht Themen an, die Frauen, die mitten im Leben stehen, beschäftigen. Zum Beispiel die immer lauernde Gefahr, sich mit anderen zu vergleichen. Nicht zuletzt befeuert durch die Transparenz und Scheinwelt der sozialen Medien. Dann das latente oder auch direkte Mobbing im Job, das Frau im gewissen Alter erfährt, wenn sie sich nicht in die Rolle der “Allzeitbereiten” oder der “Mutter in spe” pressen lässt, wenn sie wirklich einfach nur Karriere machen möchte - ohne Besetzungscouch und Mutterschutz.

Wenn ich Kritik hätte an diesem Buch dann wäre es die, dass die Protagonistinnen sich zu sehr gleichen. Sie sind alle derselbe Typ, weiß, hetero, gutaussehende, schick gekleidete Karrierefrauen mit Make-up, die alle vor dem Problem des baldigen Alterns (damit einhergehend mit der Unfruchtbarkeit und der Finalität des Lebens) stehen. Ein bisschen mehr Diversität hätte dem Buch sicher gut getan und nochmal einen anderen Blickwinkel präsentiert.

Nichtsdestotrotz: Sprachlich hat mich das Buch beeindruckt. Karasek spricht die Sprache ihrer Generation, ohne dass es auf mich gekünstelt wirkt. Die häufige Verwendung der Accumulatio als Stilmittel feiere ich, denn sie spiegelt die endlosen Möglichkeiten wieder, die die Generation Y zu haben scheint und auch deren Beliebigkeit. Auch Karaseks Protagonistinnen und deren männliche Counterparts sind gefangen im Dilemma bzw. der Bredouille schier endloser Potentialität und Konjunktivität: "hätte", "wäre", "könnte" sind ihre Parolen.

Fazit:

Laura Karaseks Buch ist großartig, weil es einen mitnimmt in die Gefühls- und Gedankenwelt der Thirtysomething-Frauen der Generation Y und weil es sprachlich wagt, an die Grenzen der Erwartbarkeit und gesellschaftlichen Schicklichkeit zu gehen. Einzig die Unterscheidbarkeit und Individualität der Protagonistinnen hätte distinkter sein können.

Bewertung vom 19.01.2020
Die Saiten des Lebens
Prior, Hazel

Die Saiten des Lebens


ausgezeichnet

Wie sollte man reagieren, wenn einem ein wildfremder Mensch eine selbstgebaute Harfe schenkt, die sehr wertvoll ist? Vor dieser Frage steht die “Hausfrau aus Exmoor”, die Ex-Bibliothekarin Ellie, als sie den Harfenbauer Dan trifft und dieser ihr prompt eine Harfe aus seiner Sammlung zum Geschenk macht. Dass sich mit diesem Treffen Ellies Leben von Grund auf verändern wird, ahnt diese noch nicht.

Ich muss sagen, die Geschichte hat mich mit ihrer Nonchalence absolut gefangen genommen.
Eigentlich hatte ich keine hohen Erwartungen an dieses Buch. Das wunderschöne Cover hat mich angezogen, der Klappentext klang aber nach einer etwas esoterisch angehauchten “Selbstfindungsstory”. Dennoch habe ich dem Buch eine Chance gegeben und ich bin sehr froh darüber, denn es hat mich absolut positiv überrascht.

Der Roman ist eine sehr subtile Liebesgeschichte, ja, aber so unkonventionell und erfrischend, wie ich sie so noch nie präsentiert bekommen habe. Zwei Menschen aus absolut verschiedenen Welten (Dan und Ellie) nähern sich über ihre Liebe zur Musik (die Harfen bzw. das Harfenspiel) und zur Natur (das südwestenglische Naturschutzgebiet Exmoor und seine Flora und Fauna) an. Diese Annäherung ist so skurril, zärtlich und vorsichtig, wie sie nur sein kann.

Dan ist ein Individuum, dem gängige soziale Konventionen oft suspekt sind, er versteht die “normale” Welt und gesellschaftliche Vorgänge nur bedingt, vielleicht ist er sogar Autist. Er lebt quasi als Einsiedler in einer Scheune in der Natur, wo auch seine Harfenbauerwerkstatt untergebracht ist. Dans geradlinige Art zu denken, sein fotografisches Gedächtnis, seine Ehrlichkeit und Unvoreingenommenheit, kindliche Freude und Tierliebe machen ihn als Charakter total sympathisch und einzigartig.
Mit Ellie hingegen kann man sich als Leserin sehr gut identifizieren. Sie ist mit Mitte 30 noch kinderlos, lebt ein Leben als "normale" Hausfrau mit einem Mann (Clive), der augenscheinlich nicht zu ihr passt. Gedichte zu schreiben und in der Natur zu wandern, ist ihre Art des Eskapismus - bis sie das Harfenspiel für sich entdeckt.

Das Buch, das abwechselnd aus Dans und Ellies Perspektive geschrieben ist, liest sich stellenweise so spannend wie ein Krimi. Es ist ein Unterhaltungsroman, der auf eine ganzheitliche Art und Weise unterhält - mit Humor, mit Spannung, mit Herz und Verstand!

Selten begeistert mich ein Buch so, dass ich es kaum aus der Hand legen kann. Bei “Die Saiten des Lebens” war dies der Fall. Ich war absolut in Ellies und Dans Welt versunken und wollte unbedingt wissen, wie die Geschichte mit ihnen ausgeht.

Ein absoluter Lesegenuss für alle, die etwas unkonventionellere (Liebes-)Geschichten abseits des Mainstream - und Fasane - mögen!