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Rezensentin aus BW

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 30.12.2020
Die wunderbare Kälte
Rettelbach, Elisabeth

Die wunderbare Kälte


ausgezeichnet

Wir lernen die eigenbrötlerische und eigenartige Maskenbildnerin Kai kennen, die Schwierigkeiten hat, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und die in ihrer eigenen Welt lebt, in der ihre eigenen Regeln gelten und in der die Grenzen, Bedürfnisse und Gefühle Anderer keine große Rolle spielen.

Kai ist verhaltensauffällig, betrügt, manipuliert, verfolgt und stalkt.
Sie spielt mit ihrer Umwelt und die Spiele sind bzw. bleiben nicht harmlos.

Ihre Gedanken sind oft sprunghaft und nicht nachvollziehbar, ihre Wahrnehmungen oft verzerrt und ihre Handlungen äußerst fragwürdig und befremdlich.

Kai hat aber auch eine gefühlvolle und herzliche Seite, kann das Leben genießen und sich freuen.

Diese Polarität und das Extreme ihrer Persönlichkeit machen Kai zu einer Romanfigur, an die man noch lange denken wird. Sie stößt nicht nur ab, sie zieht auch an.

Kai ist zugleich sadistisch und masochistisch.
Sie provoziert den Knall.
Von Anfang an vermutet man, dass das alles nicht gut ausgehen kann.

Es ist äußerst interessant und spannend, sich auf die mindestens psychisch auffällige, wenn nicht gar psychisch kranke und behandlungsbedürftige Protagonistin Kai einzulassen und in ihre ganz spezielle Welt einzutauchen.

Elisabeth Rettelbach hat mit „Die wunderbare Kälte“ ein außergewöhnliches, originelles und verstörendes literarisches Werk mit Tiefe geschaffen.

Der eigenwillige Schreibstil und die poetische, wortgewaltige und bildkräftige Sprache machen den Roman zu etwas Besonderem. Die Erzählperspektive, der gesamte Roman wurde aus der Sicht Kais und in der Ich-Perspektive geschrieben, ist gut gewählt, denn sie bringt uns dem Innenleben der Protagonistin näher.

Es ist ein beeindruckendes Debut, das ich sehr gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 27.12.2020
Das weite Herz des Landes
Wagamese, Richard

Das weite Herz des Landes


ausgezeichnet

„Das weite Herz des Landes“ erschien 2014 im Original und ist eines der letzten Bücher des kanadischen Autors, der 2017 mit nur 62 Jahren verstorben ist.

Richard Wagamese sah sich innerhalb seines Volkes, dem Stamm der Ojibwe, als Geschichtenerzähler und nach der Lektüre dieses Romans weiß man auch warum. Er ist sogar ein begnadeter Geschichtenerzähler, dem man gebannt lauscht und in dessen Geschichte man sich gern fallen lässt.

Eldon ist von den Folgen seines langjährigen Alkoholkonsums gezeichnet und sehr krank. Er spürt, dass er bald sterben wird und möchte nach Art seiner Vorfahren auf dem Ojibway-Kriegerweg mit Blick nach Osten bestattet werden. Auf der Reise dorthin begleitet ihn auf seinen Wunsch hin sein 16-jähriger Sohn Frank, der mutterlos bei einem alten Farmer aufgewachsen ist.

Diese letzte gemeinsame Reise durch das raue Herzland British Columbias, auf der dem Leser auch die Schwierigkeiten der indigenen Bevölkerung und die beeindruckende Wildnis Kanadas bildhaft vor Augen geführt wird, wird eine ganz besondere Unternehmung für die beiden Männer.

Frank erfährt viel Neues und bis dahin Unbekanntes von seinem ihm nahezu fremden Vater und die beiden kommen einander (wieder) näher.

Wir erfahren vom nicht gerade einfachen Verhältnis eines Jungen zu seinem alkoholkranken Vater, von leeren Versprechungen und großen Enttäuschungen.

Wir erleben mit, wie dieser Junge bzw. junge Mann seinem Vater trotzdem einen Wunsch erfüllt, wodurch er endlich das Geheimnis seiner Wurzeln und Herkunft erfährt.

Es ist die erste und letzte gemeinsame Reise von Vater und Sohn, eine Reise zu sich (Frank) selbst und eine Reise in die Vergangenheit … und ich hatte das Gefühl, hautnah dabei zu sein.

Der 1955 in Kanada geborene Richard Wagamese ist, wie bereits oben erwähnt, ein begnadeter Geschichtenerzähler, der mich von Anfang an mit seiner Art zu erzählen in seinen Bann zog und mit „Das weite Herz“ einen berührenden, ergreifenden, klugen und literarisch überzeugenden Roman über eine Vater-Sohn-Beziehung geschrieben hat.

Auf den ersten Blick scheint es eine recht einfache und melancholische Geschichte zu sein, aber nach einem Blick hinter die Kulissen erkennt man eine Tiefe, die fesselt, ergreift und beeindruckt.
Umso mehr, weil es u. a. ums Sterben und „klar Schiff machen“ geht und der Roman einer der letzten vor Richard Wagameses eigenem Tod ist.

Für mich ist dieser abenteuerliche, tiefgründige und auch philosophisch angehauchte „Roadmovie“, der an autobiographische Details angelehnt ist, ein faszinierendes Highligt, dessen beide Hauptcharaktere gekonnt, äußerst feinfühlig und in all ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität gezeichnet werden. Frank und Eldon werden fassbar und begreifbar, kommen uns nahe und berühren.
Richard Wagamese unterhält uns prächtig und niveauvoll, regt zum Mit- und Nachdenken an, schreibt flüssig und erweitert mit seinem Text den Horizont.

Wenn man Interesse an differenziert beschriebenen Vater-Sohn-Beziehungen und indigenen Völkern hat und gerne tiefgründig und glaubhaft erzählte Lebensgeschichten, spannende Abenteuerromane und interessante Roadmovies liest, wird man hier sein Lesevergnügen haben.

Ich freue mich schon auf „Der gefrorene Himmel“, einen weiteren Roman von Richard Wagamese, der im Frühjahr 2021 im Karl Blessing Verlag erscheinen wird.

Bewertung vom 26.12.2020
Brandmeldungen
Altschäfer, Martina

Brandmeldungen


ausgezeichnet

Bereits mit „Andrin“ hat mich die 1960 geborene Schriftstellerin positiv überrascht.
Mit ihrem abwechslungsreichen und phantasievollen Kurzgeschichtenband hat sie mich nun überzeugt.

Sie hat das Talent, ihre Leser im Nu mitten in die Erzählung hinein zu ziehen und sie gebannt darin zu halten, bis sie schließlich wieder auftauchen müssen, weil die Geschichte zu Ende ist.

Acht völlig unterschiedliche Erzählungen verschaffen ein kurzweiliges Lesevergnügen.

Ich wusste nicht, welche Art von Texten auf mich zukommt und so war ich in „Brandmeldung“ einigermaßen überrascht, denn ich habe nicht mit einer skurrilen Geschichte von einem Auto gerechnet, das in einem Wohnungsflur steht.
Der Text liest sich wie der Traum oder die Phantasie eines Kindes, dessen Eltern nicht daheim sind.

In „Die Abseitsfalle“, meiner Lieblingsgeschichte, haben Freundinnen für die Sommerferien ein Forschungsprojekt geplant. Es geht dabei um einen mysteriösen Mann ohne Schuhe, der plötzlich in der Stadt auftaucht und deren Bewohner aufrüttelt.
Die Mädchen observieren den sogenannten Piraten, der irisches Bier statt Rum trinkt und wollen so herausfinden, was es mit diesem Fremden auf sich hat.

In „Alpenpassage“ reiten Mutter und Tochter ins Tal hinab. Im Zentrum der nächsten Stadt passieren sie auf dem Rücken ihrer Pferde ein Tor, das sie auf den prächtigen, dicht mit Menschen bevölkerten Innenhof eines eindrucksvollen und dekorativen Gebäudes führt und was da passiert, ist irgendwie schräg.

Die recht sonderbare Geschichte „Der fliegende Hund“, in der Wilpert tierische Geburtstagsgeschenke macht, war die einzige, mit der ich nicht so viel anfangen konnte, dafür war „Die zukünftige Schwiegermutter“, in der demonstriert wird, wie man mit wenigen Fragen und Bemerkungen sein Gegenüber einschüchtern und manipulieren kann, umso amüsanter und interessanter.

„Nach Süden“ erzählt das wundersame Ende eines nicht besonders gelungenen Urlaubs und in „Schwarzer Kater“ stört ein eindringlich miauender Kater eine Malerin bei ihrer Arbeit. Nach ihrer barschen Zurückweisung fährt der Vierbeiner sämtliche Geschütze auf und das Ende ist ganz in seinem Sinn.

Die letzte Erzählung, „Der Pekinese“ hat mich sehr berührt, denn ein Fremder, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht und das Haus beobachtet, hat gute Gründe für sein Tun.

Es sind allesamt sonderbare, fantastische, verträumte, originelle, surreale, skurrile, märchenhafte und berührende Geschichten.
In jeder stößt man auf eine Wendung, mit der man nicht gerechnet hat.
Man wird von Pointen überrascht, die einen schmunzeln oder staunen lassen bzw. zum Nachdenken bringen.

Ich empfand viele der Geschichten wie einen Traum, den der Träumer seiner Psychoanalytikerin erzählt, um sich anschließend durch freies Assoziieren gemeinsam einen Reim darauf zu machen.

Martina Altschäfer hat ihre tollen Ideen unaufgeregt, sprach- und bildgewaltig umgesetzt und fesselnd erzählt.
Sie fokussiert einen kleinen Ausschnitt im Leben des oder der jeweiligen Protagonisten und erzählt dann anschaulich, prägnant und fesselnd.
Sie bringt die Dinge in Windeseile auf den Punkt, schreibt lebendig und flott, manchmal ironisch und gewitzt.

Dieses außergewöhnliche und besondere Werk wird noch aufgewertet und bereichert durch wunderschöne Zeichnungen und Textcollagen aus Zeitungsschnipseln, alles Kunstwerke der Autorin.
Besonders beeindruckt hat mich ihre Zeichnung von einem sitzenden Mann, den sie mit nur wenigen Strichen skizziert hat; genauso wie sie ihre Geschichten mit nur wenigen Worten und Sätzen skizziert und auf den Punkt bringt. Chapeau!

Die Künstlerin hat mich mit Andrin, Brandmeldungen, ihren Zeichnungen und ihren Textcollagen gewonnen.
Ein Geheimtipp!

Bewertung vom 25.12.2020
Judith und Hamnet
O'Farrell, Maggie

Judith und Hamnet


ausgezeichnet

Was für ein Buch über das literarische Genie Shakespeare!
Man weiß nicht viel über sein Leben, aber die irisch-schottische Schriftstellerin Maggie O‘Farrell füllt die Lücken und strickt daraus eine herausragende und berührende Geschichte.

Wir lernen Shakespeare hier als namenlosen Sohn, Lateinlehrer, Bräutigam und Ehemann von Agnes und Vater von drei Kindern, darunter Judith und Hamnet kennen und dürfen in eine außergewöhnliche, magische, facettenreiche und poetische Geschichte rund um Agnes und diese drei Kinder eintauchen.

Judith und Hamnet ist ein historischer Roman, eine Liebesgeschichte und eine Familiengeschichte, erzählt von einer Fernbeziehung und hat auch was von einem Fantasyroman.

Agnes wächst mit ihrer Stiefmutter und ihrem Vater auf einem Bauernhof auf. Ihre Mutter verstarb, als sie noch klein war.
Später begegnet sie dem jungen Lateinlehrer Shakespeare und sie lernen sich kennen und lieben.
Um trotz der Missbilligung ihrer Familien heiraten zu können, wird Agnes schwanger.
Einmal, zweimal, dreimal.
Erst eins und dann noch die Zwillinge Judith und Hamnet.

Nach Jahren bemerkt der 11-jährige Hamnet, dass seine Zwillingsschwester hohes Fieber und Schwellungen hat.
Sie hat die Beulenpest!
Der schwarze Tod hat sie am Wickel.
Und dann passiert etwas Unfassbares und Unerklärliches!

Wir betrachten das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven und begleiten Agnes, die eigentliche Romanheldin und eine etwas sonderbare, aber willensstarke Frau mit Kräuterkenntnissen und seltsamen, aber zutreffenden Vorahnungen, auf verschiedenen Zeitebenen: in ihrer Kindheit, um ihre Hochzeit herum und nach dem Tod ihres Kindes.
Aber nicht streng chronologisch nacheinander, sondern alternierend, locker zwischen ihnen hin- und herspringend und in Rückblicken begleiten wir die Familie Shakespeare.

Für mich ist „Judith und Hamnet“ ein brillant, feinfühlig, sinnlich und detailreich komponiertes Highlight, das mir das Leben, die Umstände, Normen und Zwänge im England des 16. Jahrhunderts, im ruhigen Stratford-upon-Avon und im quirligen London, bildhaft, stimmungsvoll und lebendig vor Augen geführt und mich wunderbar unterhalten hat.

Bewertung vom 24.12.2020
Der Fremde aus Paris
Hammad, Isabella

Der Fremde aus Paris


ausgezeichnet

Identität und Zugehörigkeit ... Innere und äußere Konflikte.
Ein komplexer, interessanter und lesenswerter Roman!

„Der Fremde aus Paris“ spielt vor dem Hintergrund der Konflikte des Nahen Ostens von 1914 bis 1936 und ist angelehnt an die Lebensgeschichte des palästinensischen Urgroßvaters der Autorin.

Midhat, den seine Großmutter aufgezogen hat, weil seine Mutter verstarb, als er noch sehr klein war, lebt in Palästina und ist der Sohn eines reichen Tuchhändlers.

Eines Tages, unmittelbar vor Beginn des ersten Weltkrieges, schickt ihn sein Vater nach Frankreich, um dort Medizin zu studieren.

Midhat ist erstaunt, beeindruckt und regelrecht überwältigt von dieser neuen und ihm fremden Welt, in die er sich nur bedingt integrieren kann. Vergeblich versucht er, in Montpellier Fuß zu fassen.
Sowohl in seiner Gastfamilie, in der Universität als auch auf den abendlichen Feierlichkeiten und Festen bleibt er außen vor.
Auch was die Liebe zur Tochter seines Gastgebers, eines Professors, betrifft, hat er keinen Erfolg.

Schließlich zieht er nach Paris, wo er letztlich ungebunden und weiterhin als Fremder und mehr oder weniger als Außenseiter mehrere Jahre mit zahlreichen wechselnden Frauengeschichten verbringt, bevor ihn sein Vater nach insgesamt fünf Jahren in seine Heimat, in das Dorf Nablus, zurückruft.

Dort kommt er erneut dem Wunsch seines Vaters nach: er heiratet die Muslimin Fatima und gründet mit ihr eine Familie.
Midhat wird Vater von vier Kindern und Besitzer eines Tuchladens.
Und das alles vor dem Hintergrund gewalttätiger Unruhen, kämpferischer Auseinandersetzungen mit Rebellen und Kriegen zwischen Juden und Arabern.

Während der Lektüre empfand ich viel Mitgefühl und Sympathie für Midhat, der sich weder in Frankreich noch später in seiner ursprünglichen Heimat zugehörig fühlt.
In Frankreich zu sehr Palästinenser und zu wenig Europäer.
In seinem Dorf zu wenig Palästinenser und zu viel Europäer. Hier wie dort kommt er sich heimatlos und fremd vor.

Es war unglaublich interessant über Midhat und seine Geschichte eine andere, mir ziemlich fremde Kultur, Geschichte und Geographie kennenzulernen und Einblicke in das Leben der Palästinenser und den Alltag von Muslimen zu bekommen.

Die britisch-palästinensische Schriftstellerin Isabella Hammad ist eine präzise Beobachterin und eine begnadete Erzählerin, die in ihrem Debutroman unaufgeregt, detailreich, geistreich und feinfühlig eine vielschichtige und atmosphärische Geschichte erzählt, die den damaligen Zeitgeist wunderbar vermittelt.
Mit Midhat hat sie einen sympathischen Protagonisten entworfen, den sie tiefgreifend, vielschichtig und mit all seinen Ecken und Kanten beschreibt.

Ich empfehle diesen klug und raffiniert komponierten historischen Roman, der in einer schönen, leicht und flüssig lesbaren Sprache geschrieben ist, sehr gerne weiter. Obwohl dieses imposante Werk über 700 Seiten umfasst, empfand ich es zu keinem Zeitpunkt langweilig oder langatmig.
Ich fühlte mich sehr gut unterhalten und konnte meinen Horizont erweitern.
Was will man mehr?

Ein Debutroman? Chapeau!

Bewertung vom 23.12.2020
Cloris
Curtis, Rye

Cloris


ausgezeichnet

Rückblick und Veränderung vor dem Hintergrund einer Odyssee durch die Wildnis.

Wir lernen in diesem lesenswerten Abenteuerroman die kinderlose 72-jährige Texanerin Cloris Waldrip kennen, die im August 1986 einen Flugzeugabsturz im Norden der USA überlebt hat und unerwartet und unbeabsichtigt in der öden, einsamen, trost- und gnadenlosen Wildnis der Bitterroot Mountains gelandet ist.

Ihr Ehemann, mit dem Cloris diesen Privatflug über die Bitterroot Mountains in Montana unternommen hat, und der Pilot der kleinen Propellermaschine haben leider nicht überlebt.

Obwohl eine Rettung unwahrscheinlich ist, scheint es, als wäre die zähe, widerstandsfähige, beharrliche, hartnäckige und manchmal wunderliche alte Dame, die nicht viel mehr als eine kleine Bibel, einen Stiefel ihres Mannes, Hausschlüssel, Taschentücher und Karamellbonbons dabei hat, nicht schutzlos und allein.

Und das scheint nicht nur so, denn ein Mann mit Kapuze wacht im Verborgenen über sie, während sie sich tapfer durch’s Dickicht schlägt und die etwas eigentümliche und ruppige Rangerin Debra Lewis glaubt daran, das Flugzeug und die Vermisste zu finden.
Die Enddreißigerin Debra ist trotz der hoffnungs- und ausweglos erscheinenden Situation zuversichtlich und macht sich mit ein paar skurrilen Freunden und Bekannten, darunter der exzentrische, alleinerziehende Vater Steven Bloor, auf die Suche.
Wahrscheinlich stellt dieses mutige Unterfangen auch eine überraschende und willkommene Abwechslung im Leben der in einer abgelegenen Hütte alleinlebenden Rangerin Debra dar, die von ihrem Mann übel betrogen wurde und Frust und Kummer in Rotwein zu ertränken versucht.

„Cloris“ wird ungeschönt und detailliert erzählt und ist eine mitreißende, spannende, oft komische und teilweise makabre und brutale Lektüre mit tollen Landschaftsbeschreibungen und zwei außergewöhnlichen und beachtlichen Frauen, deren Charaktere vielschichtig und glaubhaft gezeichnet sind.

Es macht Spaß, den beiden sonderbaren Frauen und den anderen schrägen Figuren zu folgen.
Nur eine, die einen Flugzeugabsturz überlebt und nur eine, die an deren Überleben glaubt.
Viele Menschen suchen eine Frau. Alle sind zudem auch auf der Suche nach sich selbst.
Alle haben ihre Macken, Sorgen und Nöte.

Ich empfehle diesen berührenden, unterhaltsamen und lebensklugen Debutroman von dem Texaner Rye Curtis sehr gerne weiter!

Er war kurzweilig und hat mir großes Lesevergnügen bereitet, auch wenn so Manches überzeichnet und bizarr und der Schluss etwas unrealistisch scheint.
Mir gefiel das, denn hinter diesem Schein kann man eine beeindruckende Tiefe entdecken und befindet sich eine komplexe Welt voller Abgründe, Ambivalenzen, Beschädigungen, Nöte, Probleme, Unregelmäßigkeiten und Brüche.

Es kommt auf die Lesart an und ist wie immer eine Geschmacksache. Und meinen Geschmack hat Rye Curtis getroffen.

Bewertung vom 21.12.2020
Scherbentanz
Kraus, Chris

Scherbentanz


ausgezeichnet

Wir lernen in diesem Roman die nach außen hin erfolgreiche und durchaus präsentable Unternehmerfamilie Solm kennen, die vom dominanten Vater Gebhard gelenkt und geführt wird.

Wenn man jedoch einen Blick hinter die ansehnlichen Kulissen wirft, ahnt man sehr schnell, dass da nicht alles Gold ist, was glänzt. Da wird geschwiegen, tabuisiert, verheimlicht und gelogen.
Viele Geheimnisse werden unter dem Deckmäntelchen der Harmonie, des Schönen und des Guten verborgen gehalten.
Beim genauen Hinschauen erkennt man eine zerrüttete Familie mit einer komplizierten Geschichte.

Der 33-jährige flippige, unkonventionelle und leider nicht besonders erfolgreiche Modedesigner Jesko, gelernter Schneider, hat das alles längst satt. Er hat sich von dem einengenden Korsett befreit und geht andere und eigene Wege.
Die unterschiedlichen Haltungen und Einstellungen von Vater und Sohn machen ein einvernehmliches Zusammenleben kaum möglich.
Jeskos Angewohnheit, Röcke zu tragen, könnte man durchaus als äußeres Zeichen seiner Rebellion interpretieren.

Tja, und nun braucht Jesko einen Knochenmarkspender, denn er ist an Leukämie erkrankt.
Seine leibliche, psychisch kranke und geistig verwirrte Mutter Käthe käme dafür in Betracht, aber diese Möglichkeit lehnt Jesko aus gutem Grund ab.
Nicht umsonst hat er bereits vor vielen Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen.

Im weiteren Verlauf lernen wir Jesko und seine etwas besondere Familie und deren Geheimnisse und jahrelang tabuisierten Geschichten und Verhältnisse bis in die Großelterngeneration hinein kennen.

Der 1963 in Göttingen geborene Chris Kraus hat mit „Scherbentanz“ einen besonderen, äußerst tiefgründigen, ernsthaften und tragischen Roman entwickelt, der aber nicht schwer und belastend, sondern gut lesbar, erfrischend, lebendig und unterhaltsam daherkommt.
Der Autor schreibt bildhaft und pointiert, einfühlsam, berührend und oft zynisch und würzt das Ganze mit einer guten Prise Humor.

Er hat mit „Scherbentanz“ eine ganz außergewöhnliche und brillante, teils bitterböse, aber auch humorvolle Familiengeschichte geschrieben, in der er die Vielschichtigkeit und Konflikthaftigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen ganz hervorragend herausgearbeitet hat.

Ich empfehle diesen flott erzählten Generationenroman mit dem abgeklärt wirkenden und zynisch-ironisch kommentierenden Ich-Erzähler Jesko, einem nachdenklichen jungen Mann, der sich zwischen sarkastischem, bösem und liebevollem Auftreten bewegt, sehr gerne weiter!

„Scherbentanz“ ist ein tragikomischer Pageturner der Extraklasse. Ich habe so ein Buch ehrlich gesagt noch nie gelesen. Chapeau!

3 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.12.2020
Die Geschichte einer afrikanischen Farm
Schreiner, Olive

Die Geschichte einer afrikanischen Farm


ausgezeichnet

Olive Schreiner war eine südafrikanische Schriftstellerin, die sich für Unterdrückte einsetzte und als eine frühe Vertreterin der Frauenbewegung und als Pazifistin gilt.
Sie wurde 1855 geboren und starb 1920.

Mit 28 Jahren erschien ihr erster, autobiographisch geprägter Roman, den sie allerdings unter dem männlichen Pseudonym Ralph Iron veröffentlichte.
Schon kurz darauf erschien auch die erste deutsche Übersetzung und dieses Jahr wurde er vom Manesse Verlag neu aufgelegt.

„Eine afrikanische Farm“ ist ein Roman, der die Themen Sexualität und Schwangerschaft vor der Ehe, Macht von Kirche und Religion gegenüber Frauen und weibliche Emanzipation, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung behandelt.

Auf der Handlungsebene geht es um die junge, unverheiratete, kluge, schöne und widerspenstige Lyndall, die zusammen mit ihrer gutmütigen, friedfertigen und bodenständigen Cousine Em, der Tochter der Farmerin Tant’ Sannie und mit Waldo, dem religions- bzw. gotteskritischen Sohn des bibeltreuen Farmverwalters Otto, auf Sannies Farm aufwächst.

Es geht um das gemeinsames Aufwachsen von Lyndall, Em und Waldo und um deren Leben vor dem Hintergrund eines kolonialen Farmlebens inmitten der Karoo-Wüste, einer endlosen afrikanischen Steppenlandschaft.

Während die unbescholtene, angepasste und treuherzige Em auf der Farm bleibt, geht die wissensdurstige Lyn auf ein Mädchenpensionat und kehrt auch der ruhige und introvertierte Waldo der Farm den Rücken.
Lyndall sträubt sich dagegen, konservative Rollenklischees zu übernehmen und will auch als sie schwanger wird nicht heiraten.
Sie schwört auf Bildung, Gleichberechtigung und Freiheit.

Eine solch‘ willensstarke, rebellische und unangepasste Heldin wie Lyndall, die nicht wenige Konventionen und Normen hinterfragt und über den Haufen wirft, wird heute bewundert.
Beim Erscheinen des Romans 1883 löste sie Erstaunen, Aufsehen und wahrscheinlich auch Unmut aus.
Noch ein zweiter Punkt zog große Aufmerksamkeit auf sich: es ist dies die Beschreibung und die subtile Kritik an den heuchlerischen Weißen, die einerseits Glauben und Frömmigkeit predigen und andererseits vor Gewalt und Unterdrückung nicht Halt machen.
Skandalträchtige Inhalte am Ende des 19. Jahrhunderts!

Ich empfehle diesen poetischen, anspruchsvollen und interessanten Roman sehr gerne weiter. Er hat mich gut unterhalten und meinen Horizont erweitert.
Genauso, wie es meiner Meinung nach sein soll.

Bewertung vom 18.12.2020
Feenstaub
Travnicek, Cornelia

Feenstaub


ausgezeichnet

Cornelia Travnicek erzählt in „Feenstaub“ die ergreifende Geschichte dreier Strassenkinder in einer Großstadt, auf einer Insel in einem Fluß, in einem namenlosen Land.
Die Namen der drei Jungen lassen mich vermuten, dass es sich um Rumänien handelt.
Oder es sind Roma- oder Sinti-Kinder, die im Ausland unter schlimmsten Bedingungen aufwachsen.

Petru, Cheta und Magare sind keine wirklichen Freunde, sondern eher Leidensgenossen, die durch ähnlich schwere Schicksale miteinander verbunden sind.
Sie sind heimatlos, vermissen ihre Eltern und sind einsam und traurig. Ihre Not hat sie zu Krakadzil geführt, dessen Schatzkiste sie füllen müssen, indem sie als Taschendiebe durch die Straßen und Gassen ziehen. Sie befolgen Befehle, werden ausgebeutet und wehe, wenn sie ihren fordernden und brutalen Herrn nicht zufriedenstellen.
Ein Lichtblick in ihrem düsteren Alltag ist der Feenstaub, den sie von Krakadzil bekommen, wenn sie ihre Sache gut gemacht haben.

Eines Tages lernt der Protagonist Petru, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird und der mit der Zeit skeptisch wird, zu hinterfragen und zu rebellieren beginnt, Marja kennen. Er erfährt, was Freundschaft und Familie ist.

Und dann müssen die drei heimatlosen Taschendiebe einen Neuling ausbilden...

„Feenstaub“ hat, wie der Titel schon erwarten lässt, etwas Märchenhaft-Träumerisches und Abenteuerliches, aber auch etwas Knallhartes, Derbes, Grobes und Grausames.
Die Gnadenlosigkeit und Bedrohlichkeit dieser knallharten und grausamen Realität kommt dabei besonders deutlich zum Vorschein, weil sie so poetisch, feinfühlig, zart und bildhaft geschildert wird.
Durch diese Polarität wird das Schreckliche noch deutlicher und klarer.

Die Lektüre ist ein intensives und fesselndes Leseerlebnis.
Erst am Ende wird einem das Ausmaß und die Bedeutung des Gelesenen wirklich bewusst und erkennt man den Realitäts- und Gegenwartsbezug.
Wir lesen hier von Menschenhandel, Kindern, die zu Kleinkriminellen gemacht werden, Ausbeutung, Gewalt und Gefügig machen durch Drogen.

Die Autorin hat hier ein faszinierendes und originelles Werk geschaffen, wobei sie brisante politische und gesellschaftskritische Themen in eine märchenhafte und poetische Sprache einbettet. Aber ein Märchen ist dieser Roman bei weitem nicht.

Ich bin begeistert!

Bewertung vom 16.12.2020
Marilyn und ich
Lee, Ji-min

Marilyn und ich


sehr gut

Mit Aufklappen des Buches reisen wir ins Jahr 1954 nach Korea.
Der Krieg ist gerade mal überstanden, dem Frieden ist noch nicht zu trauen und von Alltag und Normalität kann noch keine Rede sein.

Vor diesem düsteren Hintergrund ereignet sich eine gleichermaßen eindrucksvolle wie ergreifende Geschichte:
Die junge Übersetzerin Alice, die sehr zurückgezogen lebt, soll bzw. darf Marilyn Monroe vier Tage lang als Dolmetscherin auf ihrer Rundreise durch Korea begleiten.

In diesen vier Tagen, in denen der Hollywoodstar die amerikanischen Soldaten in den Kasernen durch ihre Auftritte bei Laune halten soll, kommen sich Alice und Marilyn näher. Sie lernen sich kennen und verstehen und entdecken hinter ihren Fassaden Parallelen.

Diese vier Tage stellen aber auch einen Wendepunkt im Leben von Alice dar, weil sie sich mit den vergangenen Kriegsjahren und mit bis jetzt verdrängten traumatischen Erfahrungen und schlimmen Erinnerungen auseinandersetzt und dadurch mit der Frage konfrontiert wird, wie es weitergehen soll und kann.

Im Mittelpunkt steht, entgegen sich zunächst aufdrängenden Erwartungen, nicht Marilyn, sondern Alice.
Für einen Kunstgriff halte ich, dass dieser Weltstar zwar eine Nebenrolle hat, aber m. E. aus gutem Grund eingeführt wurde.
Der Kontrast zwischen der schillernden und vor Lebensfreude sprühenden Schauspielerin und dem vom Krieg gebeutelten Korea, sowie der traumatisierten Alice verdeutlicht die große Not und die schwierige Situation des Landes und seiner Bewohner. Der Glanz hebt Drama, Tragik und Not hervor.

Ich habe mich bisher nicht mit dem Koreakrieg (1950 - 1953) auseinandergesetzt und fand es interessant und wichtig, durch diesen Roman etwas über diesen militärischen Konflikt zu erfahren. Auch der Kontakt mit dieser fremden Kultur und mit deren gesellschaftlichen und individuellen Problemen fand ich bereichernd.

Die Autorin vermittelt Atmosphäre und Stimmungen spürbar und glaubhaft. Sie beschreibt ungeschönt, bildhaft und sprachlich brillant und fesselt den Leser sowohl mit dem Plot ihrer mitreißenden und ergreifenden Geschichte, als auch mit ihren anschaulichen Metaphern.

Alice, eine Repräsentantin dieser vom Krieg gezeichneten Generation, wird als vielschichtige Person dargestellt, die sowohl eine selbstbewusste und starke, als auch eine fragile und verletzte Seite hat.

Ich empfehle diesen interessanten und unterhaltsamen Roman der koreanischen Autorin Ji-Min Lee gerne weiter! Ein wichtiges Thema wird aufgegriffen und ich finde die Kombination aus realen Geschehnissen (Koreakrieg, Marilyns Auftritte vor Tausenden begeisterten US-Soldaten) originell.