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kaffeeelse

Bewertungen

Insgesamt 580 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2023
Stirb doch, Liebling
Harwicz, Ariana

Stirb doch, Liebling


ausgezeichnet

Ein Büchlein. Von der Seitenzahl vielleicht, denn es sind nur 126 Seiten. Vom Thema her ist es aber überhaupt kein Büchlein. Schon der Titel klingt recht scharf gewürzt, ist irgendwie eine Ansage, eine Ansage, die innehalten lässt. Eine Ansage, die neugierig macht.
Für mich war dieses Buch ein intensiver, düsterer und nachhallender Blick auf die Rolle der Frau, ich bin tief beeindruckt über den Mut der Autorin so etwas zu schreiben in unserer Männerwelt, in unserer Männerwelt, die uns Frauen zu dominieren weiß. Auch dieses Buch zu verlegen finde ich wunderbar vom C. H. Beck Verlag. Ein durchhallender und langanhaltender Applaus ertönt von meiner Seite deswegen an die Autorin Ariana Harwicz und auch an den C. H. Beck Verlag, wie auch an die großartige Übersetzerin Dagmar Ploetz!
"Stirb doch, Liebling" ist ein Buch, welches polarisiert, welches zu Diskussionen anregt, welches die geneigte Leserschaft nachdenken lässt. Und "Stirb doch, Liebling" ist ein Buch, welches einer größeren Lesergruppe bekannt sein sollte. Man sieht es recht wenig auf den bekannten Seiten, in den Communitys. Das ist etwas, was sich ändern sollte. Denn dieses Buch besticht, schockiert nicht nur thematisch. Es ist auch sprachlich ein Genuss. Natürlich wird dieses Buch nicht Jedem gefallen. Man sollte schon einen etwas weiter gefächerten Geschmack besitzen, nicht so eingeengt im Denken sein, über den Tellerrand schauen können.
In dem Buch spricht eine Frau, eine Mutter über destruktive, zerstörerische Gedanken, über ihre Unzufriedenheit in ihrer Rolle, in ihrer ihr zugedachten Rolle. Diese Gedanken klingen bedrohlich, schockieren. Aber sie regen auch zum Nachdenken an. Geht wirklich jede Frau in ihrer Mutterrolle auf? Oder ist diese Zeit für manche Frauen nicht auch mit unschönen Attributen verknüpft. Man könnte dieses Empfinden der Hauptperson ins Kranke abschieben, abdriften lassen. Aber macht man es sich damit nicht etwas zu einfach? So dass alles wieder in unsere ach so hochgelobte Rollenverteilung passt. Denn gibt es nicht manchmal diese Gedanken in uns diesem manchmal drögen Trott entfliehen zu wollen? Eine andere Welt zu haben. Frei zu sein.
Ein nachhallendes und nachdenklich machendes Buch, welches sprachlich begeistert, welches durch zugespitzte Gedanken schockiert, schockieren soll. Ein interessantes Buch!

Bewertung vom 04.04.2023
Lamento
Nielsen, Madame

Lamento


ausgezeichnet

Schon mit "Der endlose Sommer" hatte mich Madame Nielsen verzaubert/berührt/beschäftigt. Da ist etwas Einzigartiges in ihrer Schreibe, in den Worten, im Klang. Man könnte es Poesie nennen, aber irgendwie trifft es auch diese Schublade nicht richtig. Madame Nielsen schreibt intensiv, durchdringend, einzigartig, dunkel, düster, bedrohlich. Da ist eine immense Kraft, das spürt man, aber diese immense Kraft muss diese Autorin auch haben, wenn man an ihren Werdegang denkt.

Auch in "Der endlose Sommer" beschäftigt sich die Autorin mit dem Leben, mit der Leidenschaft. Aber in "Lamento" steht sie noch zentraler, die Leidenschaft, das Feuer, die Möglichkeit zu brennen. Aber auch die Möglichkeit, dass das Feuer erlischt und man später in der Zukunft auf diese Vergangenheit/auf dieses vergangene Brennen schaut. Eine Erinnerung bei sich behält. Eine kleine Flamme bei sich behält, sie behütet und nicht vergisst.

Auch "Lamento" besteht aus diesem außergewöhnlichen Schreibstil, der die Leserschaft schier überrollt. Lange schachtelartige Sätze, die aber hier in "Lamento" den Lesefluss nicht behindern, was in "Der endlose Sommer" leider noch teilweise so war. Aber dennoch denke ich dieses Buch/diese Schreibe ist nicht für jeden etwas. Man muss sich darauf einlassen können. Ich konnte dies und mich hat dieses Buch auch mitgerissen. Noch mehr als "Der endlose Sommer". Dieser künstlerische Blick auf das Leiden, auf die Leidenschaft, aufs Brennen verzaubert und dieser Blick hallt nach. Dieses Buch besteht aus einer poetischen und kraftvollen Sprache, die klingt und hallt und brennt und das Thema hakt sich ein in den Gedanken, in den Gefühlen und im Hirn. Wer selbst schon lichterloh brannte, wird sich hier gut wiederfinden können, wird das Geschriebene gut nachvollziehen können, denke ich. Vielleicht erklärt dieser Gedanke dieses unterschiedliche Empfinden von Madame Nielsens Schreibe.

Bewertung vom 04.04.2023
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


ausgezeichnet

5 Sterne für dieses Buch! Schon mit "Rose Royal" hatte mich der französische Autor Nicolas Mathieu begeistert und auch mit "Connemara" schafft Mathieu dies.
Hélène und Christophe, eine gemeinsam verbrachte Jugend und ein erneutes Aufeinandertreffen zu späterer Zeit. Die Vergangenheit und Jetzt treffen aufeinander und münden in einer Affäre. Doch dieses Buch auf eine Affäre zu reduzieren wäre unverzeihlich. Denn obwohl diese Affäre in dem Buch einen hohen Stellenwert hat, steht sie doch in meinen Augen nicht zentral. Denn dieses Zentrale in dem Buch ist in meinen Augen eine intensive Abrechnung mit der französischen Gesellschaft. Denn Hélène und Christophe treffen in einer kleinen Stadt im Osten Frankreichs aufeinander, genau die Stadt, in der sie ihre Jugend verbracht haben und genau die Stadt, der Hélène entfliehen konnte. Und damit steht ein Stadt-Landgefälle zentral. Aber nicht nur dies. Nicolas Mathieu lässt Hélène auf ihr Gestern, auf ihren Werdegang und auf ihr Jetzt blicken und darin lässt sich ebenso diese Geschlechterungleichheit erkennen. Ein feministisches Buch eines männlichen Autors. Schon in "Rose Royal" ließ sich diese Kritik an dem Umgang mit der Weiblichkeit in unserer patriarchalen Gesellschaft ablesen und auch in "Connemara" ermöglicht Nicolas Mathieu einen feministischen Blick. Dies ist etwas, was ich sehr schätze. Denn in genau dieser Ungleichheit liegt ein großes Problem in unserer Gesellschaft, ja, auch in unserer Gesellschaft, nicht nur in der französischen Gesellschaft, die der Autor hier schildert. Aber nicht nur dieses Thema steht zentral, sondern ebenso blickt Nicolas Mathieu hier auf unser Wirtschaftsleben, auf die Brutalität in diesem, auf diesen männlichen Krieg in dieser Wirtschaftswelt. Ein Krieg und ein Druck, welcher gefährlich und sezierend in unseren Gesellschaften wirkt, die Schere in unseren Gesellschaften immer weiter auseinanderdriften lässt und schlussendlich die Gefahr des Zusammenbruchs beinhaltet. Denn irgendwann versteht die Wirtschaftswelt/die großstädtische Welt die anderen Bevölkerungsschichten nicht mehr und darin liegt eine beträchtliche Gefahr in meinen Augen.
Schon in "Rose Royal" konnte Nicolas Mathieu mit einem wachen und intensiven Blick auf seine Charaktere und auf unsere Gesellschaft punkten. Auch in "Connemara" gelingt ihm dies bravourös und genau deshalb bekommt "Connemara" von mir auch diese 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 04.04.2023
Die Süße von Wasser
Harris, Nathan

Die Süße von Wasser


sehr gut

Bücher über die Südstaaten ziehen mich immer magisch an. Woran dies liegt? Nun denn, an verschiedenen Komponenten. Erst einmal mag ich es sehr, mir diese schwüle, süße und grüne Welt vorzustellen. Diesen schon klebrigen Duft der Blumen, das Wasser, den dschungelartigen Wald, die Sümpfe, die Wasservögel, die Alligatoren. Eine in meinen Augen sehr sinnliche Welt. Dann die Menschen. Die alten indianischen Kulturen des Südostens, ihre Klassengesellschaften, ihre recht eindrücklichen Riten, ihre Städte, ihre Tempel, ihre sehr eindrucksvolle und einzigartige Welt, ein Übergang von den Jägerkulturen des Nordens zu den mächtigen Staaten Lateinamerikas. Eine interessante und eindrückliche Welt. Eine verschwundene Welt, aber gleichzeitig auch eine Welt, die Spuren hinterlassen hat. Dann die Eroberung durch die neuen spanischen, französischen und englischen Herren. Eine Entvölkerung, die bald den Zuzug von Arbeitskräften aus Afrika aus der Sicht der Eroberer bedingt. Eine Verbindung der alten indianischen Bewohner und der neuen Einwanderer erfolgte, beide sind durch die Europäer unterdrückt worden, schon dies erzeugte Gemeinsamkeiten, neue Kulturen entstanden. Ein Bürgerkrieg, vordergründig um die Entrechtung und Versklavung der afrikanischen Einwanderer geführt, hintergründig geht es aber wie immer beim Menschen um Gier, Macht und Geld. Die Krankheiten der alten weißen Männer halt. Nun denn, es gibt also Vieles, was ich mit den Südstaaten assoziiere. Und damit entsteht auch eine gewisse Erwartungshaltung. Eine Erwartungshaltung, die "Die Süße von Wasser" bedingt erfüllen konnte. Aber was ist "Die Süße von Wasser" für mich. Dieses Buch ist ein Abenteuerroman, welcher mit den gesellschaftlichen Verwerfungen nach dem Bürgerkrieg spielt und sich dabei leider etwas übernimmt. Denn manchmal erscheint mir das Ganze durchaus etwas langatmig und auch etwas zu konstruiert. Dieser Eindruck kann aber durchaus an meinen Erwartungen an Südstaatenromane liegen, denn eine gewisse Spannung besitzt "Die Süße von Wasser" durchaus und ich habe diesen Blick auf Schwarz und Weiß und auch diesen Blick auf die Konflikte zwischen Nord und Süd dennoch gern gelesen und die vier Sterne von mir sprechen ja durchaus für dieses Buch.

Bewertung vom 04.04.2023
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


sehr gut

Ich habe mich auf den neuen Roman von Fernando Aramburu gefreut, habe gleichzeitig aber auch etwas Angst gehabt. Denn mit "Patria" hatte mich der Autor erreicht und begeistert. Dies baut ja einen gewissen Druck, gewisse Erwartungshaltungen auf. Dies ist sicher nichts Hilfreiches, ist aber dennoch so. Nun ist aber "Die Mauersegler" thematisch von "Patria" weit entfernt. "Patria" blickt auf eine Gemeinschaft, blickt auf den Horror, blickt auf den Terror und beleuchtet die Folgen aus diesem schrecklichen Tun. "Die Mauersegler" schaut aber eher auf einen Mann, blickt auf dessen Denken, blickt auf einen Antihelden. Einen nicht wirklich sympathischen Charakter. Dies macht es der Leserschaft in meinen Augen auch sehr schwer sich auf diesen Antihelden Toni einzulassen. Denn dieser macht es der Leserschaft natürlich nicht einfach. Dennoch entsteht nach und nach in mir eine Neugier, den Fernando Aramburu erschafft diesen Toni nicht nur in einem sehr negativ wirkenden Charme, er beschreibt auch das Warum, er lässt die Leserschaft verstehen, wenn man denn verstehen will. Denn natürlich gibt es Gründe, warum Menschen zu den Personen werden, die sie sind. Und diese Gründe, diese Zeichnung eines Menschen, diese Einblicke in eine Seele lassen mich dann nach und nach den verdienten vierten Stern zücken. Denn dieses Psychogramm des Toni in seiner Tiefe verdient Aufmerksamkeit, lässt Erinnerungen an die Zeichnungen der Charaktere in "Patria" hochkommen, lässt mich schneller durch dieses Buch schweben. Allerdings braucht man eine gewisse Zeit um warm zu werden mit diesem doch recht patriarchalen und damit doch sehr abstoßenden Toni. Und obwohl Fernando Aramburu hier eher auf einen Menschen schaut, gelingt es ihm dennoch auch Blicke auf ein Land einzubauen, Blicke auf Spanien zu ermöglichen. Kritische Blicke. Blicke, die nachdenklich machen. Denn diese Tonis gibt es wohl überall. Wenn man denn genauer hinschaut. Diese sich von der Welt verraten fühlenden Männer, diese von der Weiblichkeit verletzten Männer, die aber nicht weiterblicken können und/oder wollen. Denn diese Schuldzuweisungen an Andere machen den Blick auf das eigene Sein runder/einfacher/lebbarer/sinnvoller. Bis es das dann nicht mehr lebbar ist und es zu gewissen Reaktionen kommt. Reaktionen, die ein soziales Netz abfedern könnte, wenn man denn eines hat!
Fernando Aramburu hat mit "Die Mauersegler" ein lehrreiches Buch verfasst, dessen Zauber man aber erst nach und nach in der Lektüre erkennt. Ein Buch, welches bis auf die Tiefe der Charakterzeichnung so gar nichts mit "Patria" zu tun hat. Ein Buch, welches aber dennoch berührt, wenn man sich denn auf diesen doch sehr abstoßenden Toni einlassen kann.

Bewertung vom 04.04.2023
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


ausgezeichnet

Mit diesem Buch erreicht mich Celeste Ng vollkommen. Mit ihrem vorigen Buch "Kleine Feuer überall" schafft sie eine 4-Sterne-Bewertung bei mir. Aber bei diesem nachhallenden Buch hier greife ich zum verdienten fünften Stern.

Celeste Ng erschafft in mir fast sofort eine Verbindung und erreicht mich vollkommen. Die Autorin trifft mit ihrer Geschichte, mit Bird und seinem Vater, mit der fehlenden Mutter Margaret Miu und ihrem Weggang, mit den Gründen für diesen Weggang fast sofort mein Herz. Dieser dystopische Staat und die Einteilung seiner Bürger und die Überwachung des Einzelnen durch den Staat knipsen mich auch fast sofort an. Ich bin hin und weg, wie man so schön sagt.



Der amerikanische Traum und dieses Amerika First, schon seit dem 11. September 2001 lässt sich eine Veränderung im amerikanischen Denken, im amerikanischen Tun bemerken. Wenn man dies denn will. Wie wird es dann wohl amerikanischen Autoren gehen, die in diesem Land leben, mit seinem Tun konfrontiert werden und damit auch mit eigenen Ängsten. Und was tun Autoren dann? Sie schreiben gegen die eigenen Ängste an. Und lassen die Kultur zu einer Waffe gegen Überwachung und Angst werden. Eine Kultur, die hoffentlich viel Aufmerksamkeit erfährt. Denn diese Veränderungen zu mehr Überwachung sind wohl in vielen Winkeln der Erde zu finden, diese Angst vor dem Bürger blüht an verschiedenen Orten und in verschiedensten Institutionen. Das ist etwas, was Angst macht, nicht nur den Autoren, auch den normalen Menschen, die mit offenen Augen durch ihre Zeit schreiten.



Und auch aus diesem Grund kann man nur hoffen, dass eben diese dystopischen Werke, die altbekannten, wie auch die neueren nie in Vergessenheit geraten und der Mensch wachsam gegen gewisses Tun in der Welt, in der Politik ist. Damit nicht erst die Kultur eine Waffe werden muss, wie in diesem beeindruckenden Buch von Celeste Ng.

Bewertung vom 04.04.2023
Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Krien, Daniela

Irgendwann werden wir uns alles erzählen


ausgezeichnet

Und wieder gelingt Daniela Krien ein 5 Sterne Buch in meinen Augen. "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" ist eine intensive Coming of Age Story und ein berührender Blick auf eine Obsession. Ein starkes Stück Literatur und für mich ein weiterer Beweis, dass Daniela Krien eine wunderbare Autorin ist. Eine Autorin, die ich schon ein Stück begleite und die ich noch lange begleiten werde.

Eine 17-jährige Lolita beginnt eine Affäre zu einem deutlich älteren Mann. Und dies passiert 1990 in einem Dorf in Thüringen. Maria ist ebenjene Lolita und Henner ist der ältere Mann. Dass das Ganze in einem Dorf passiert und unbemerkt bleibt, mag einerseits verwundern, andererseits ist Irren menschlich und vielleicht hat ebenjene Maria noch keinen weiblichen Zorn in diesem Dorf geweckt, sich etwaige Feinde eingehandelt. Dann scheint die Familie von Maria in eigenen Dramen zu verharren, Mutter und Tochter sind verlassen worden vom Mann/vom Vater. Die literarische Welt erscheint der Maria verlockender als das Leben, als die reale Welt. Wunden, Verletzungen und Pubertät. Vielleicht bewirkt dieses Szenario ein leichteres Verfallen in dieser Obsession für den Charakter der Maria. Keine Ahnung. Dennoch erschafft Daniela Krien hier wieder eine Intensität, der man sich nicht entziehen kann und will. Dies gelingt ihr schon bei ihrem Erstling. Das ist bemerkenswert und lässt mich noch auf viele weitere Bücher hoffen. Interessant ist bei diesem Buch auch die Verbindung zu den russischen Autoren, denn ihr Faible für Gefühlsirritationen und dann ein Buch über eine Obsession. Das ist interessant und sicher kein Zufall. Und noch etwas, obsessives Verhalten kostet die Beteiligten etwas, ein Drama bahnt sich an. Auch etwas, was man aus den russischen Romanen kennt.

Bewertung vom 04.04.2023
Verräterkind
Chalandon, Sorj

Verräterkind


ausgezeichnet

Sorj Chalandon. Besonders nach den Leseerlebnissen von "Am Tag davor" und "Wilde Freude" hatte ich einen besonderen Anspruch an dieses neue Buch von dem französischen Autor. Denn diese beiden Bücher sind recht unterschiedliche Bücher, die auch unter den Lesenden sehr gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen haben. Besonders "Wilde Freude" hat hier sehr polarisiert.

Wenn dann bekannt wird, dass Verräterkind um die Väterschuld geht, um die Kollaboration im zweiten Weltkrieg, ein besonders in Frankreich brandheißes Thema und man bedenkt, was Chalandon in seinen Romanen so thematisiert und wie er dies tut, so wird man neugierig. Und diese Neugier ist begründet! Schon der Roman "Stella" von Takis Würger behandelt dieses schwere Thema der Schuld. Und auch dieser Roman macht etwas mit den Lesenden. Und dieses Anzünden der Leserschaft gelingt natürlich auch Sorj Chalandon. Er lässt in seinem Roman zwei Thematiken auch irgendwie gegeneinander antreten, einmal den Prozeß gegen Klaus Barbie und einmal den innerfamiliäre Prozeß gegen den eigenen Vater. Denn schon der Titel des Buches sagt etwas, denn wer will wohl ein Verräterkind sein, so genannt werden? Denn genau so ein Bezeichnen hinterlässt Wunden. Wunden, die kaum geschlossen werden können. Die Chalandon hier vielleicht schließen möchte. Doch ob er dies schafft???

Dann diese Frage der Schuld. Eine einerseits leicht zu verstehende Frage. Doch andererseits sollte sich jeder später Geborene fragen, was er oder sie wohl getan hätten. Was man getan hätte, wenn das eigene Leben gefährdet gewesen wäre. Denn diese Frage lässt sich eigentlich nicht beantworten. Manche wachsen über sich hinaus und werden zu Helden. Aber das Gros der Menschen neigt wohl eher zum Untertanen und versucht sich möglichst ohne Blessuren aus prekären Situationen heraus zu larvieren. Kann man dies bewerten? Vielleicht. Vielleicht auch nicht! Am meisten steht meiner Meinung nach eigentlich nur den Menschen eine Bewertung von so einem Handeln zu, die selbst zum Agieren in dieser Zeit gezwungen waren. Alle anderen sollten nachdenken.

Dass hier kein falscher Eindruck aufkommt, ich verurteile dieses menschenfeindliche Tun von jedem Mörder!

Chalandon versieht seinen Vater noch mit einem sehr wandlungsfähigen Charakter, was eine Bewertung noch mehr erschwert und dieses ganze Buch in meinen Augen brillant macht, denn manchmal ist es eben kein Schwarz und kein Weiß. Manchmal changiert einiges Tun in den verschiedenen Grautönen und die Frage nach dem eigenen Tun ist zum Glück meistens nicht beantwortbar. Ein schmerzhaftes Buch!

Bewertung vom 04.04.2023
Ich erwarte die Ankunft des Teufels
MacLane, Mary

Ich erwarte die Ankunft des Teufels


sehr gut

Einerseits sind es pupertäre Phantasien, die die 19-jährige Mary MacLane in ihrem ersten Buch "I await the Devil's coming", welches 1902 unter dem Namen "The Story of Mary MacLane" erschien. Andererseits wieder ist dieses Buch aber auch ein wacher und gesellschaftskritischer Blick, der provoziert und dadurch die Autorin selbst, aber auch die Mächtigen der Gesellschaft gefährdet. Umso mehr verwundert es mich, dass dieses Buch schon 1902 veröffentlicht wurde. Denn es ist ja auch eine Autorin in einer Männerwelt. Natürlich macht dieses Buch genau dies, was es auch soll. Es schockiert zutiefst! Es macht aber auch die junge Autorin bekannt und zu einem Star.

Ich hatte von diesem Buch noch nie gehört. Erstaunlich finde ich aber auch, dass dieses Buch so lange gebraucht hat, um im deutschsprachigen Raum veröffentlicht zu werden. Zeigt dies doch auch etwas über unsere Welt, die gestrige und die heutige. Denn im amerikanischen Sprachgebiet ist diese interessante Autorin bekannter. Dazu mag man sich dann eigene Gedanken machen, wie auch immer man möchte.

Der Text von "Ich erwarte die Ankunft des Teufels" liest sich auch überraschend wenig verstaubt. Fast könnte man diese Zeilen auch heutigen jungen Menschen in den Mund legen. Was mich verwundert. Und was eventuell die Denke der damaligen Zeit in einem anderen Licht erscheinen lässt. Denn obwohl dieses Buch schon einige Jährchen alt ist, mutet die Schreibe auch überraschend aktuell an. Zeugt von einer immensen Reife der Autorin, aber auch von ihrem pubertären Wesen. Eine interessante Mischung. Und ein Buch, welchem ich viele Leser wünsche!

Bewertung vom 04.04.2023
Fünf Tage im November
Hope, Anna

Fünf Tage im November


ausgezeichnet

Anna Hope schafft es wieder mich zu begeistern. Wieder ist es eine Geschichte von drei Frauen, doch sind diese Frauen hier nicht befreundet und gleichaltrig, wie in "Was wir sind". Adas achtzehnjähriger Sohn gilt als im ersten Weltkrieg verschollen, doch Ada kann sich nicht mit seinem Tod abfinden, die beinahe dreißigjährige Evelyn müsste nicht arbeiten, sie macht dies trotzdem, denn ihr Geliebter ist tot und sie versucht Kriegsgeschädigten Renten zu verschaffen und die Dritte im Bunde ist die neunzehnjährige Hettie, eine mietbare Tanzpartnerin, die nach der Traumatisierung des Bruders im Krieg einen Teil des Familienunterhalts durch diesen Job beisteuert. Doch nicht nur das Erleben der Folgen des Krieges verbindet diese drei Frauen, auch noch ein weiteres Geheimnis verbindet sie. Fünf Tage im November werden hier von der Autorin beschrieben, bis es zu einem staatlichen Feiertag anlässlich der vielen unbekannten Toten und zur Auflösung des verbindenden Bandes zwischen den drei weiblichen Charakteren kommt.



Anna Hope wirft in ihrem "Abgesang" oder in den "Fünf Tage im November" intensive Blicke auf Kriegstraumata und die Folgen dieser menschlich verheerenden Gelddruckmaschine. Und obwohl dieses Buch 1920 handelt, ist es dennoch hochaktuell und zeigt wie wenig der Mensch über die Heiligkeit und Unantastbarkeit des Lebens bisher zu lernen bereit war. Ein intensives und erschütterndes Buch! Und nach dem wunderbaren "Was wir sind" ein weiterer Beweis dafür, welche Qualitäten Anna Hope als Schriftstellerin hat.



Auch ihren nächsten Roman "Der weiße Fels", welcher am 20. 03.2023 erscheinen wird, habe ich mir schon auf meinem Wunschzettel notiert. Und auch dieses Buch wird sicher ein Fest!