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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 139 Bewertungen
Bewertung vom 05.12.2021
Drei Lebende, drei Tote
Jorjoliani, Ruska

Drei Lebende, drei Tote


sehr gut

Ein kurioses Cover, das mich tatsächlich veranlasst hat, genauer hinzuschauen - skurril, minimalistisch, wie ein Stillleben - den Tod vor Augen - der arme Fisch - der glückliche Angler - auf die Perspektive kommt es anscheinend an.
Und so geht es auch weiter im Roman - auf die Perspektive kommt es an - und diese wechselt immer wieder, wir betrachten von Innen, von Außen, reisen in der Zeit in die Vergangenheit und die Zukunft, lernen neue Figuren kennen und erleben eine gewisse Verwirrung in dieser chaotischen Zeit des zweiten und später auch ersten Weltkrieges.
Hauptfigur ist Modesto, ein junger Mann, der durch einen anonymen Brief seine Contenance verliert und seinem aktuellen Leben entflieht. Zurück bleibt die schwangere Frau, die sich mit einem Geliebten trifft, ihren Mann hintergeht und nicht weiß, wessen Kind sie erwartet. Der Gatte seinerseits hat sich seiner Ehefrau entfremdet und trifft sich ebenso mit einer Geliebten.
Später erfahren wir von Modestos Kindheit und Jugend, einem bewunderten und gefürchteten Onkel, dem sanften Vater, der abwesenden, da früh verstorbenen Mutter und den Schrecken des ersten Weltkriegs, teilweise etwas traumartig, nebulös, aber auch extrem intensiv und spannend, so z.B. die Schilderungen von Kriegserlebnissen, Gräueltaten oder das grausame Handeln des autoritären Onkels, der sich wie ein Usurpator aufspielt und seine Gunst bzw. seine Verachtung verteilt.
Der Erzählstil fasziniert, fordert und belohnt, wenn man nicht vorschnell aufgibt. Auch die verschiedenen inhaltlichen Verstrickungen finden zueinander und lassen sich z.T. entwirren - keine leichte Kost, aber das Lesen lohnt trotzdem und die Lektüre bietet ambivalente, exquisite und verstörende Eindrücke.
Seien wir gespannt auf weitere Romane der Autorin Ruska Jorjoliani!

Bewertung vom 03.12.2021
Das Geschenk
Bronsky, Alina

Das Geschenk


sehr gut

Das passende kleine Geschenk zur Vorweihnachtszeit - ein kurzweiliges Lesevergnügen, unterhaltsam, anregend, sprachlich amüsant. Eine Geschichte, die von Sein und Schein handelt, von Freundschaft und Liebe, von Respekt und Zuneigung. Es geht um das Offensichtliche, das sich teilweise als etwas ganz anderes entpuppt, um Erwartungen, die nicht erfüllt werden, um ein Weihnachtsfest, das so anders ist als erwartet.
Zwei Paare in den späten 50-ern beschließen nach Jahren, Weihnachten wieder einmal gemeinsam zu feiern, ein Fest, das mit vielen Erwartungen und Hoffnungen verknüpft ist. Die Kinder sind aus dem Haus, alte Traditionen und Verpflichtungen können über Bord geworfen werden und man kann sich neu orientieren. Aber an die Geschichte von damals kann eben doch nicht einfach angeknüpft werden, man ist sich fremd geworden, erkennt den alten Freund nicht mehr. Außerdem stehen immer wieder Vergleiche im Raum, wie hat man selbst das Leben bewältigt? Was hat man erreicht? Wer ist erfolgreicher? Attraktiver? Wer vom Alter weniger gezeichnet? Wer hat das Glück gepachtet? Solche Überlegungen und Betrachtungen können aber nicht zielführend sein, ein schales Gefühl bleibt zurück und die Frage nach einem erfüllten, glücklichen Leben gibt dem Buch eine tiefere Ebene als ursprünglich vermutet.
Im Vergleich zu Alina Bronskys anderen Romanen wie „Spiegelkind“, „Scherbenpark“ oder „Baba Dunjas letzte Liebe“ ist diese Erzählung leichter und harmloser, aber der bittere Kern ist doch auszumachen. Schade, dass die Erzählung so schnell schon beendet ist, ich hätte doch gerne noch erfahren, wie es mit den beiden Paaren und Neujahr weitergeht.

Bewertung vom 27.11.2021
Love. Alles was du liebst
Doyle, Roddy

Love. Alles was du liebst


ausgezeichnet

Zwei Männer, eine lange Nacht und das ganze Leben - Zwei Männer, eine lange Nacht und das ganze Leben -
Dave, zu Besuch bei seinem kranken Vater in Dublin, trifft seinen alten Schulfreund Joe und gemeinsam ziehen die beiden 60-Jährigen durch die Kneipen, trinken zu viel, reden zu viel, knüpfen an, bleiben sich fremd und es geht um das ganz große Thema: die Liebe in all ihren Facetten - Frauen, Lust, Begierde, Sehnsucht nach der einen großen Liebe, die eine Lebensbeziehung, aber auch die Liebe zu den Eltern, zu den eigenen Kindern und die Liebe zum Freund werden angesprochen.
Joe hat viel zu erzählen, hat er sich doch gerade von seiner Frau getrennt und ist mit seiner Jugendliebe zusammengekommen. Aber so einfach wie es scheint, ist es nicht, er möchte erklären, für Verständnis werben, aber immer wieder tauchen Missverständnisse auf.
Bei diesen Erzählungen schweifen Daves Gedanken ab und der Leser taucht auch in seine Biographie ein, die erste Freundin, die plötzliche Trennung, seine große Liebe, die Beziehung zu seinem Vater.
Hören sich die beiden überhaupt zu? Wollen sie einander verstehen? Beide vom Teufel und vom Alkohol geritten, verlieren wir den Überblick, was wahr und was Wunschdenken ist. Können wir den Erzählungen trauen? Gibt es die objektive Wahrheit? Geht es überhaupt darum?
Sprachlich sehr geschickt und unterhaltsam führt uns Roddy Doyle durch den Abend und auch durch die Jugend und das Leben der beiden, denn schon damals saßen sie immer wieder in Irish Pubs, um Mädchen kennenzulernen, aufzureißen, über Gott und die Welt zu sprechen und wir gucken ihnen beim Erwachsenwerden zu. Rasant, originell, voller Situationskomik, Lebensklugheit und Sprachwitz - ein anspruchsvolles Lesevergnügen zum Mitdenken und Ausbuchstabieren.

Bewertung vom 20.11.2021
Das Archiv der Träume
Machado, Carmen Maria

Das Archiv der Träume


sehr gut

Das Traumhaus der Finsternis
Was für ein Buch! Roman? Biographie? Autofiktion? Eine Mischung aus alledem, eine Achterbahnfahrt, rasant, ein Fluss voller Geheimnisse, dunkler Bilder, Märchenmotive, Filmausschnitte, Popvideos, philosophischer Gedankengänge - die Lektüre ist ein fesselnder Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Eine traumatische Beziehung wird geschildert: die reizvollen, vielversprechenden Anfängen des ersten Verliebtseins, die Phase der Ernüchterung und der ersten Vorboten der Gewalt und Entfremdung, das katastrophale Ende - die schreckliche Abhängigkeit der Autorin von ihrer ehemaligen Geliebten, die Demütigungen, die physische Gewalt und der Psychoterror, von dem sie sich kaum befreien kann und der sie zu einem unselbstständigen, abhängigen, verunsicherten Menschen macht.
Originell erzählt, voller überraschender Vergleiche und Parallelen aus Kunst und Kultur beschreibt die Autorin die reale Beziehung zu ihrer damaligen Partnerin en Detail und man kann nur immer wieder den Kopf schütteln, wozu Menschen in der Lage sind - egal ob hetero oder lesbisch - die Struktur in diesen toxischen Beziehungen ist die gleiche, aufgebaut auf einer ungleichen, zerstörenden Partnerschaft, einem Täter und einem Opfer, auch wenn beide nicht glücklich und erfüllt sind und beide Hilfe und psychologischen Beistand bräuchten.
Eine mutige, persönliche Lektüre, die es schafft, auf ein Tabuthema aufmerksam zu machen, ein dichter, verstörender Blick auf die verwundete Psyche der Autorin.

Bewertung vom 07.11.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


sehr gut

Eine Familie im Zusammenbruch
Die Italienkrankheit

Erst verlässt die Mutter Manuela die Familie in Rumänien und geht als illegale Arbeitskraft nach Italien, um finanziell für ein gesichertes Einkommen und eine gute Schule für die beiden Kinder Manuel und Angelika zu sorgen. Später verabschiedet sich auch noch der Vater, um als Fernfahrer in der Fremde zu arbeiten. Die beiden Jugendlichen werden nun von den Großeltern liebevoll aufgezogen, aber diese sind alt und können nur bedingt die Eltern ersetzen.
Der Roman handelt von den Auswirkungen des Verlusts der Kinder, von der Einsamkeit, der Sehnsucht nach Familie und Gemeinschaft, aber auch dem Überlebenswillen, dem Wunsch der Mutter, den eigenen Kinder mehr bieten zu können und für ein glückliches, erfülltes Leben zu sorgen.
Aber wir ahnen bereits, dass Glück nicht käuflich ist und sich die Probleme häufen werden. Wie gehen die beiden Geschwister mit der traumatischen Erfahrung um? Kann der materielle Zugewinn das Fehlen der Eltern ersetzen? Wo beginnt Verantwortung? Wer lädt Schuld auf sich? Und ist ein gemeinsames Leben danach noch möglich?

Die unterschiedlichen Erzählperspektiven lassen den Erzähler die Figuren kennenlernen. Besonders gelungen ist Maro Balzano die Darstellung des jugendlichen Manuels; diese Sicht und Erzählweise lässt uns in die Psyche des Jungen mit all den Widersprüchen und Wünschen eines Heranwachsenden eintauchen und er wächst uns schnell ans Herz. Fremder dagegen bleiben Mutter und Tochter und ihr Handeln ist nicht immer nachvollziehbar.
Aber dennoch: Alle haben mein Mitgefühl, es gibt nur Verlierer in dieser materiellen Welt.
Der Autor thematisiert die Problematik der Menschen, die im Ausland illegal arbeiten (müssen), um Geld nach Hause schicken und damit eine ganze Familie ernähren zu können. So viele unterbezahlte, häufig illegale, d.h. nicht angemeldete Arbeitsstellen - Putzfrauen, private Altenpflegerinnen, Bauarbeiter, Erntehelfer - für die keine einheimischen Arbeitskräfte gefunden werden. Menschen, die unter unwürdigen Bedingungen existieren und immer nur in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft leben.
Insgesamt ein lohnenswertes und wichtiges Thema, das bis jetzt leider kaum in der Literatur vorkommt - vermutlich, weil zu viele in unserer Welt von diesem System profitieren.

Bewertung vom 23.10.2021
Erfahrungen eines schönen Mädchens
Shulman, Alix Kates

Erfahrungen eines schönen Mädchens


sehr gut

Ein 50 Jahre alter Klassiker der Frauenemanzipation neu übersetzt? Lohnt sich das? Ein Roman, der zu seinem Erscheinen auf der Seite des Establishments eine Welle der Entrüstung nach sich gezogen und auf der anderen Seite viele junge Frauen inspiriert und ihnen einen möglichen Weg in die Freiheit aufgezeigt hat.
In Alix Kates Shulmans Roman begegnen wir Sasha, einer jungen, wunderschönen und intelligenten Frau, die in den gesellschaftlichen Netzen ihrer Zeit gefangen ist - eigentlich eine Prinzessin auf der Erbse auf der Suche nach ihrem Glück lässt sie sich von Männern immer wieder ausnutzen und fremdbestimmen. Ihre Fixierung auf ihr Aussehen ist für uns heute sehr befremdlich! Wir haben das Gefühl, eine Frau wie Sasha, die von Fortuna geküsst ist, hat diese totale Abhängigkeit von Äußerlichkeiten doch gar nicht nötig.
Roxanne, ihre Freundin - geschieden, alleinerziehend, beruflich erfolgreich, intellektuell - ist ihr da schon ein weites Stück voraus und zeigt ein modernes Selbst- und Rollenverständnis - eine Figur, mit der man sich auch heute noch identifizieren kann.
Es geht um eine unglückliche Kindheit, um desaströse Liebesverhältnisse, Schikane am Arbeitsplatz und sexuelle Nötigung, Doppelmoral, Schwangerschaftsabbruch, ungewollte Mutterschaft, Vergewaltigung in der Ehe und immer wieder die Suche nach Freiheit, Leichtigkeit und Glück.

Zurück zur Ausgangsfrage: Ist die Neuübersetzung der „Erfahrungen eines schönen Mädchens“ für uns heute noch ein Gewinn?
Nun ja, wir sind aufgeklärt und emanzipiert, verbinden Arbeit und Familie, tummeln uns erfolgreich auf dem gesellschaftlichen Parkett, werden Ärztin, Professorin, Kanzlerin, sind bei der Partnerwahl beteiligt und lassen uns nichts vorschreiben - glücklicherweise hat sich innerhalb dieser Jahrzehnte viel getan und wir begleiten die Protagonistin Sasha ungläubig in ihrem Netz voller Verpflichtungen und Abhängigkeiten.
Andererseits ist der Roman hochaktuell - der Drang nach Schönheit, Bestätigung, Fitness ist allgegenwärtig: Bei vielen jungen Mädchen ist das Aussehen so wichtig wie nie und dominiert ihr Leben - erkennbar an den Auswirkungen wie Anorexie oder Bulimie und den vielen YouTube Influencern mit ihren Followern, deren Gedanken ständig um Themen wie Mode, Aussehen, Fitness, Ernährung kreisen.
Sowohl im Bereich des extremen Körperkults, des Schönheits- und Jugendwahns als auch im Rahmen der #Me-too-Debatte ist die Aktualität (leider) immer noch gegeben und somit auch die Wiederentdeckung des Romans ein Gewinn!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.10.2021
Pop ist tot
Mulitzer, Thomas

Pop ist tot


sehr gut

„Lieber ein Dilettant, der Vollgas gibt, als ein Profi, der nicht mit Herz und Seele bei der Sache ist.“
Die vier ehemalige Bandmitglieder der Punkband „Pop ist tot“ wollen es noch mal wissen und nehmen die Herausforderung aus unterschiedlichen Motiven an: Sie gehen auf eine Revival-Tour und träumen von Freiheit, Jugend und Punk.
Mir gefallen die vier Männer im besten Alter, wie sie versuchen, wieder an ihre alten, wilden Tage anzuknüpfen - und alle sind sofort dabei und schaffen es, sich auf den alten Traum noch mal einzulassen.
Einige der Musiker hätte ich gerne etwas genauer kennengelernt - Branko z.B., über den wir nur sehr wenig erfahren. Günther, der Drummer, ist die treibende Kraft hinter allem, vielleicht auch, weil er der ewige Rebell ist, der es in der „normalen“ Welt nicht sehr weit gebracht hat und weder Job noch Frau, Kinder und Einfamilienhaus im Grünen aufweisen kann. Ich-Erzähler Franz, Sänger mit Stimmproblemen, ist gleich dabei, auch sein Leben ist zu bedeutungslos und langweilig, er nutzt die Chance ohne lang zu überlegen. Bei Hansi, dem Gitarristen, sieht es etwas anders aus - erfolgsverwöhnt mit allem, was zu einer gelungenen Karriere dazugehört, lässt er sich trotzdem auf dieses Abenteuer ein.
Besonders erfolgversprechend ist die Tour allerdings nicht, aber darum geht es auch nicht - der Weg ist das Ziel! Und immer wieder wird betont: Wir sind Helden!
Dieser Roadtrip nimmt uns mit auf eine Fahrt mit Upps and Downs, Alkoholexzessen, ungewöhnlichen Fans, gewaltbereiten Rechten, Schlagerschnulzen und alternde Groupies. Kurzweilig, amüsant und spritzig - ein Lesevergnügen, das gute Unterhaltung, viel Sprachwitz und auch kritische Untertöne bietet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.10.2021
Vertraute Welt
Sok-Yong, Hwang

Vertraute Welt


sehr gut

Es geht um eine große Freundschaft in einer unvorstellbaren Welt des Drecks, Gestanks und Ungeziefers. Die beiden 10- und 13-jährigen Jungen Glupschaug und Glatzfleck lernen sich auf einer Müllhalde kennen, da ihre beiden Eltern ein Verhältnis miteinander eingehen, und sie werden unzertrennlich, überwinden schwierige Momente, erkunden ihre Umgebung, durchleben Abenteuer, lernen voneinander und passen aufeinander auf. Ist so viel Normalität in einer so unfassbaren Welt möglich? Die Sehnsucht nach Verlässlichkeit, Freundschaft, Gemeinsamkeit und Glück ist überall die Gleiche.
Wir Leser werden aber von einer Umgebung eingeholt, die mit nichts zu vergleichen ist - die Ärmsten der Armen leben vom Müll der Reichen, durchforsten ihn nach Brauchbarem, Essbarem, trennen, sortieren und verwenden oder verkaufen auch noch den letzten Rest und versuchen, sich ein Leben in Würde in diesen menschenunwürdigen Verhältnissen der Armut und des Zerfalls zu bewahren.
Die Beschreibung der Müllberge ist faszinierend - fast zärtlich und liebevoll wirken sie wie ein Pastell: Im Licht der aufgehenden Sonne färbt sich der Himmel rötlich und der Müll wird mit allen Sinnen dargestellt - farbig, funkelnd, dehnbar, Geruch ausströmend, zum ohnmächtig werden - aber vor allem kommt er Glupschaug zu Beginn "fremd und unvertraut" vor: die "jungfräulich daliegende Kipperladung".
Sprachlich bezaubert Hwang Sok-Yong durch ungewöhnliche Metaphern, lässt Bilder entstehen und kreiert eine völlig unbekannte Umgebung. Die Ebene des Traumhaften, die Suche nach Schönheit und Hoffnung auf Veränderung, das blaue, geheimnisvolle Licht erinnern an die blaue Blume der Romantik. Aber es ist jeweils die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, nach dem Traum, der absoluten Schönheit. Das Übernatürliche bildet eine reizvollen Gegenwelt, Elemente des magischen Realismus werden gekonnt eingewoben in den düsteren Alltagskampf ums Überleben.
Allerdings wirken die Dialoge des Romans immer wieder etwas steif und unauthentisch, was im Gegensatz zu dem sonst so bildhaften und elegantem Stil steht. In Verbindung mit der teilweise etwas langatmigen Beschreibung der Müllverwertung entstehen einzelnen Längen.
Trotzdem ist der Roman eine klare Leseempfehlung - ein Besuch in einer anderen Welt, der zum Nachdenken und Überdenken eigener Verhaltensmuster anregen kann.

Bewertung vom 13.10.2021
2001
Lehner, Angela

2001


ausgezeichnet

Du bist halt eine, die das Glück erst zwingen muss.

Ein Coming-of-Age-Roman, der einen ganz anderen Ton anschlägt, als die bekannten Vertreter dieses Genres - es wird hier düster und bedrückend, die Chancenlosigkeit der Dorfjugend aus der „Restmüllklasse“ steht im Vordergrund, es gibt kaum Hilfe von außen, von Erwachsenen - Eltern oder Lehrern - sondern jeder ist sich erstmal selbst der Nächste. Dass der Roman trotzdem so viel Humor, so viel Leichtigkeit und Esprit aufweist, schafft Angela Lehner durch ihren grandiosen Sprachwitz, die vielen überschäumenden, bissigen, bösartigen und schnellen Dialoge, die so real und wie aus dem Leben gegriffen erscheinen und einfach ein großartiges Lesevergnügen bereiten.
Die Hauptfigur Julia wächst dem Leser ans Herz - voller Widersprüche, Lethargie, Verweigerung und Wut, dann aber auch wieder voller Herzlichkeit, Lebenstüchtigkeit, Originalität und Temperament - eine Freundin, die für ihre Freunde alles tut, jemand, auf den man sich in den unmöglichsten Situationen verlassen kann. Identifizieren kann ich mich nicht mit ihr, dafür begeht sie zu viele offensichtliche Fehler, handelt zu impulsiv und unüberlegt, aber ich möchte sie oft gerne schütteln und wachrütteln, damit sie einfach ihre Chancen und ihre Kreativität nutzen kann.
Ein kritischer und unterhaltsamer Roman, der aktuelle Probleme Heranwachsender thematisiert, ohne eine schnelle Lösung oder den richtigen Weg anzubieten; ein Roman, der Schullektüre werden könnte.

Bewertung vom 12.10.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Was kann eine Kinderpsyche alles ertragen? Unter welchen Umständen ist eine gesunde Entwicklung möglich?
Am Anfang will man noch an die intakte Familie glauben, doch Brüche und die Frage nach dem Wohlergehen der Schwächsten tauchen auf: Ein Familiendrama voller Geheimnisse, Tabus und Unaugsgesprochenem wird vor unseren Augen entlarvt. Die scheinbare Familienidylle - Sommerhaus, See, Ferien, Unbeschwertheit, Vater, Mutter, drei Brüder - bekommt Risse und wir blicken hinter die Fassade, hinter der Ängste, Sorgen und Grausamkeiten lauern. Die Ambivalenz der Eltern ist verwirrend und man möchte das ‚Warum‘ erkennen und verstehen. Aber ganz so einfach ist es nicht, in dieser Konstellation gibt es nicht schwarz-weiß, gut-böse.
Die Handlungsstränge laufen aufeinander zu, Vergangenheit und Gegenwart berühren und vermischen sich und es wird deutlich, dass ein lange zurückliegendes Trauma bearbeitet werden muss, bevor Frieden, Versöhnung und Stabilität möglich sind. Wird es die Überwindung der Sprachlosigkeit, der inneren Erstarrung für die Überlebenden geben?

Ein außerordentlich bewegender Roman, dessen Handlung in der Vergangenheit liegt. Verdrängung, Schuld und Tod, aber auch Liebe, Sehnsucht und Hoffnung bestimmten den Verlauf. Die poetische Sprache Schulmans lässt Bilder entstehen und schafft eine intensive Atmosphäre. Ein Buch, das mich nachdenklich zurücklässt, eine traurige Geschichte, die zeigt, was Familie im Positiven und Negativen bedeutet, die aber auch mit einem Hoffnungsschimmer endet - Überwindung und Neuanfang sind denkbar.