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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 131 Bewertungen
Bewertung vom 13.10.2021
2001
Lehner, Angela

2001


ausgezeichnet

Du bist halt eine, die das Glück erst zwingen muss.

Ein Coming-of-Age-Roman, der einen ganz anderen Ton anschlägt, als die bekannten Vertreter dieses Genres - es wird hier düster und bedrückend, die Chancenlosigkeit der Dorfjugend aus der „Restmüllklasse“ steht im Vordergrund, es gibt kaum Hilfe von außen, von Erwachsenen - Eltern oder Lehrern - sondern jeder ist sich erstmal selbst der Nächste. Dass der Roman trotzdem so viel Humor, so viel Leichtigkeit und Esprit aufweist, schafft Angela Lehner durch ihren grandiosen Sprachwitz, die vielen überschäumenden, bissigen, bösartigen und schnellen Dialoge, die so real und wie aus dem Leben gegriffen erscheinen und einfach ein großartiges Lesevergnügen bereiten.
Die Hauptfigur Julia wächst dem Leser ans Herz - voller Widersprüche, Lethargie, Verweigerung und Wut, dann aber auch wieder voller Herzlichkeit, Lebenstüchtigkeit, Originalität und Temperament - eine Freundin, die für ihre Freunde alles tut, jemand, auf den man sich in den unmöglichsten Situationen verlassen kann. Identifizieren kann ich mich nicht mit ihr, dafür begeht sie zu viele offensichtliche Fehler, handelt zu impulsiv und unüberlegt, aber ich möchte sie oft gerne schütteln und wachrütteln, damit sie einfach ihre Chancen und ihre Kreativität nutzen kann.
Ein kritischer und unterhaltsamer Roman, der aktuelle Probleme Heranwachsender thematisiert, ohne eine schnelle Lösung oder den richtigen Weg anzubieten; ein Roman, der Schullektüre werden könnte.

Bewertung vom 12.10.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Was kann eine Kinderpsyche alles ertragen? Unter welchen Umständen ist eine gesunde Entwicklung möglich?
Am Anfang will man noch an die intakte Familie glauben, doch Brüche und die Frage nach dem Wohlergehen der Schwächsten tauchen auf: Ein Familiendrama voller Geheimnisse, Tabus und Unaugsgesprochenem wird vor unseren Augen entlarvt. Die scheinbare Familienidylle - Sommerhaus, See, Ferien, Unbeschwertheit, Vater, Mutter, drei Brüder - bekommt Risse und wir blicken hinter die Fassade, hinter der Ängste, Sorgen und Grausamkeiten lauern. Die Ambivalenz der Eltern ist verwirrend und man möchte das ‚Warum‘ erkennen und verstehen. Aber ganz so einfach ist es nicht, in dieser Konstellation gibt es nicht schwarz-weiß, gut-böse.
Die Handlungsstränge laufen aufeinander zu, Vergangenheit und Gegenwart berühren und vermischen sich und es wird deutlich, dass ein lange zurückliegendes Trauma bearbeitet werden muss, bevor Frieden, Versöhnung und Stabilität möglich sind. Wird es die Überwindung der Sprachlosigkeit, der inneren Erstarrung für die Überlebenden geben?

Ein außerordentlich bewegender Roman, dessen Handlung in der Vergangenheit liegt. Verdrängung, Schuld und Tod, aber auch Liebe, Sehnsucht und Hoffnung bestimmten den Verlauf. Die poetische Sprache Schulmans lässt Bilder entstehen und schafft eine intensive Atmosphäre. Ein Buch, das mich nachdenklich zurücklässt, eine traurige Geschichte, die zeigt, was Familie im Positiven und Negativen bedeutet, die aber auch mit einem Hoffnungsschimmer endet - Überwindung und Neuanfang sind denkbar.

Bewertung vom 09.10.2021
Baby & Solo
Posthuma, Lisabeth

Baby & Solo


ausgezeichnet

Eine wunderbare Coming-of-age-Geschichte eines jungen Mannes, der sich von seinem Elternhaus emanzipiert, sich seiner problembeladenen Vergangenheit stellt und diese überwindet und sein Leben selbstbestimmt in die Hand nimmt. Das schafft er natürlich nicht alleine - eine ganz besondere Freundin und eine ganze Gruppe unterschiedlicher, skurriler Charaktere helfen ihm dabei. Es geht um das große Ganze, um Liebe, Freundschaft, Sexualität, psychische Erkrankungen, Lebensbewältigung, Erwachsenwerden und Verantwortung.
Sprachlich sehr geschickt sind die Dialoge häufig urkomisch, salopp, und doch so ernst und nachvollziehbar, voller origineller Metaphern, Bilder, die im Kopf bleiben. Wir erleben die Protagonisten mit ihrer Verletzlichkeit, ihren Ängsten und Sehnsüchten und leiden mit ihnen bei der Aufarbeitung ihrer Probleme.
Ein Roman, der zu Herzen geht, der wichtige Themen ins Zentrum rückt und zeigt, wie verrückt, traurig, urkomisch das Leben sein und wie man zu sich selbst und seinem Glück finden kann. Eine klare Leseempfehlung nicht nur für ein jugendliches Publikum!

Bewertung vom 09.10.2021
Die tristen Tage von Coney Island
Crane, Stephen

Die tristen Tage von Coney Island


ausgezeichnet

Und immer wieder begegnen uns der Tod, das unaussprechliche Grauen, die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit im Angesicht der Bedrohung - zeitlich einzuordnen vor über 120 Jahren - und trotz dieser großen zeitlichen Spanne haben die Geschichten sowohl etwas Aktuelles als auch Existenzielles, das uns heute noch aufrütteln und berühren kann.
Themen der Kurzgeschichten sind der Krieg, der Kampf des Menschen gegen die Natur oder auch gegen seinen Widersacher, den Fremden. Männliche Hauptfiguren, die ihren Mann stehen müssen, befinden sich im Zentrum - haben sie eine Chance? Von Zweifeln und Ängsten durchdrungen ringen sie mit sich selbst und der Gefahr von außen; Selbstaufgabe, Überwinden der Herausforderung, Sieg und Niederlage. Immer geht es um das große Ganze, das Überleben in einer extremen Situation. Neben der äußeren Darstellung hat der Leser Einblick in die Psyche der (Anti-)Helden, was einen großen Reiz ausmacht, die veränderte Gefühlslage, die schleichende Entwicklung, die Erlösung oder Zerstörung am Ende.
Der große amerikanische Autor des Naturalismus‘, der immer noch als Schullektüre in seiner Heimat gelesen wird, ist hierzulande eher unbekannt. Und gerade deshalb ist eine neue Übersetzung in deutscher Sprache begrüßenswert - diese Ausgabe zeigt, wie zeitlos die Geschichten sind, welches sprachliche Meisterwerk Stephen Crane geschaffen hat und wie sehr sein Werk es verdient, auch heute noch gelesen zu werden.

Bewertung vom 11.09.2021
Kleine Paläste
Moster, Andreas

Kleine Paläste


ausgezeichnet

Wir werden von einer ganz ungewöhnlichen Erzählerin in die Geschichte eingeführt - Sabine, die gleich zu Beginn durch einen unglücklichen Treppensturz zu Tode kommt, berichtet über ihr gesamtes Leben und ihren Unfall, der sie mitten aus dem Leben reißt. Nein, die Toten können sich nicht von der Welt der Überlebenden trennen und berichten, erzählen, erklären, versuchen noch einzugreifen, die Routine aufrecht zu halten und die Hinterbliebenen zu beeinflussen.
Aber nicht nur Tote erzählen, die Familiengeschichte geht weiter, wird wieder aufgerollt und peu a peu erfährt der Leser die Hintergründe, das Lügengeflecht, den Schein, der sich hinter der glänzenden, hellen Fassade verbirgt. Es gibt Täter und Betrogene, vom Unglück verfolgte, Stigmatisierte und Gefühlsgelähmte, Menschen, die aufgehört haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen, die aufgrund eines Traumas in der Vergangenheit existieren, im Stillstand verharren und Veränderungen und Herausforderungen vermeiden. Diese beiden Sympathieträger möchte man schütteln, zu groß das Unverständnis, warum sie sich nicht von der Vergangenheit lösen können, warum sie sich nicht einem neuen Lebensabschnitt zuwenden und das Gewesene hinter sich lassen - zu gewaltig der Schmerz und die Verletzung?
Die Zeitdimensionen wechseln, Vergangenheit und Gegenwart enthüllen die gestörte Familienkonstellation und auch die unterschiedlichen Perspektiven tragen zur Lösung des Geheimnisses bei. Kann es Heilung und Neuanfang geben?
Ein ergreifender Roman, der durch seine poetische, dichte und ruhige Sprache besticht, teilweise skurril und von Komik durchdrungen, dann aber wieder bitterernst und bedrückend.
Eine klare Leseempfehlung und ein wahres Lesevergnügen!

Bewertung vom 24.08.2021
Revolution der Träume / Wege der Zeit Bd.2
Izquierdo, Andreas

Revolution der Träume / Wege der Zeit Bd.2


ausgezeichnet

Dieser Roman “Revolution der Träume” von Andreas Izquierdo lässt den Leser in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg eintauchen. Es spielt vor fast genau 100 Jahren, es ist der 9. November 1918, der Kaiser ist soeben gestürzt worden und die Bevölkerung sehnt sich nach Frieden. Die Menschen haben genug gelitten, gehungert und gekämpft und sind voller Zuversicht und Sehnsucht nach einer besseren Zukunft. Allerdings werden diese Erwartungen nicht sofort erfüllt und es kommt anders...

In den Wirren dieser Zeit begegnen wir den drei ungleichen Freunden Carl, Isi und Artur, die versuchen ihr Glück zu machen: Artur, der geborene Anführer, der Mann mit der Maske und dem entstellten Gesicht, ein Ganovenkönig a la Mackie Messer, dessen wichtigstes Anliegen es ist, sich an seinem Erzfeind zu rächen; Isi, die wunderschöne, charmante, tolldreiste und immer voller Überraschungen steckende, unabhängige Frau, die für andere ihr Leben riskiert und für die Revolution kämpft und der kluge, sympathische Carl, ein Sensibelchen mit großem Herzen, ein Künstler, der seinem Traum von der Karriere am Filmset Lubitschs nachhängt.

Diese drei nehmen uns gefangen, gemeinsam kämpfen sie gegen Ungerechtigkeiten, folgen ihren Träumen und Zielen, treffen und verlieren sich wieder und sind immer im Fluss. Werden sie dabei erwachsen? Vernünftig? Kann es ein Happy End in dieser chaotischen Zeit geben?

Ein mitreißender Roman, der dem Leser beste Unterhaltung bietet und geschichtliche Hintergründe zum Leben erweckt, eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 24.08.2021
Die Leuchtturmwärter
Stonex, Emma

Die Leuchtturmwärter


ausgezeichnet

Drei Männer verschwinden unter mysteriösen Umständen von einem Leuchtturm: Andrew, Bill und Vince - drei Leuchtturmwärter, die in den siebziger Jahren an der Küste Cornwells „The Maiden“ betreuen und auf engstem Raum für eine begrenzte Zeit dort zusammenleben, arbeiten und miteinander auskommen müssen.
Dieser wahre Fall, der nie aufgeklärt werden konnte und viel Raum für diverse Spekulationen bietet, hat immer wieder die Fantasie angeregt und liegt jetzt dem Roman von Emma Stonex zu Grunde.
Aus unterschiedlichen Perspektiven wird der Fall nun aufgerollt, denn 20 Jahre später möchte ein Autor einen Abenteuerroman über dieses ungeklärte Verschwinden veröffentlichen. Das Meer hat es ihm angetan und er hofft, durch Interviews mit den Hinterbliebenen und private Recherche, Zeitungsartikel, Akteneinträge, Briefe etc. der Wahrheit ans Licht zu verhelfen. Durch diese unterschiedlichen Puzzleteile wird der Leser angeregt, mit zu rätseln und Lösungswege zu konstruieren.
Ein unglaublich mitreißender Roman, der verschiedene Erzählweisen, Zeiten und Perspektiven verbindet. Auch findet ein reizvoller Wechsel zwischen unterschiedlichen Genres statt, Krimi a la Agatha Christie, Thriller, Abenteuerroman und Drama mit psychologischem Tiefgang, das Ganze verbunden mit poetischer Sprache, Betrachtungen über das Meer und die Naturgewalten, die menschliche Psyche in Extremsituationen, Freundschaft und Liebe und das alltägliche Miteinander.
Eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 02.08.2021
Girl, Woman, Other
Evaristo, Bernardine

Girl, Woman, Other


ausgezeichnet

Sehr spannend, ein ganz neuartiger Blick auf die Biographien von Frauen mit multiethnischem Hintergrund! Eine eindeutige Leseempfehlung!

Bewertung vom 01.08.2021
Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
Zhang, C Pam

Wie viel von diesen Hügeln ist Gold


ausgezeichnet

Der Sehnsuchtsort - Locus amoenus

Ein fulminantes Debüt - exquisit, spannend, einem Sog gleich, der einen mitten in diesen aufwühlenden Roman „Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ von C. Pam Zhang hineinzieht.

Die Geschichte der beiden Geschwister Lucy, Sam und ihrer Eltern ist anrührend, dramatisch und unvorstellbar. Im wilden Westen Amerikas sind die Menschen vom Wunsch nach Gold besessen und jeder hofft, sein Glück zu machen und Reichtum zu gewinnen. Es gibt wie überall Gewinner und Verlierer und das Abenteuer und die Gefahren des Lebens sind für alle Beteiligten allgegenwärtig.
Identifikationsfigur ist Lucy: Durch ihren Blick erfahren wir die Einzelheiten der Vergangenheit, sie öffnet uns die Augen, beschreibt Gefühle, Ängste, Sorgen, Hoffnungen, die Liebe zu Ma. Aus ihrer Sicht erfährt der Leser innerhalb der verschiedenen Abschnitte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - Armut, Gemeinheit, Diskriminierung, aber auch Überlebenswille, Lebensbejahung, und Hoffnung auf eine veränderte Lebenssituation, auf einen Neuanfang.

Die Gefühle der beiden Heranwachsenden sind nachvollziehbar, am Anfang beide verletzlich, klein, unsicher und doch stark, jeder auf der Suche nach Leben, Familie, Heimat und Identität. Die Verteilung der Rollen und auch die Zuneigung und das Verständnis des Lesers wechseln im Laufe des Romans mehrfach und deutlich wird allein, dass das Leben ein Fluss ist und es nicht die eine Wahrheit gibt.
Voller Poesie und mit einer bildgewaltigen Sprache, die das Mythische und Märchenhafte betont, entführt der Roman den Leser in eine fremde Welt, in der die gleichen Herausforderungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte herrschen wie in der unsrigen - eine klare Leseempfehlung für einen außergewöhnlichen Roman!

Bewertung vom 16.07.2021
Die Wütenden und die Schuldigen
Düffel, John

Die Wütenden und die Schuldigen


ausgezeichnet

Die Krise in der Krise
Ein ergreifender, hochaktueller Roman, der sich neben dem Gegenwartsbezug auch den immerwährenden, zeitlosen Themen wie Familie, Beziehungen, Freundschaft, Krankheit, Tod, Schuld und Wiedergutmachung widmet - eine klare Leseempfehlung!
Im Mittelpunkt steht eine Familie und deren schwierige Konstellation in Zeiten der Corona-Epidemie: Ein todkrankes Familienoberhaupt, evangelischer Pfarrer im ehemaligen Osten, sein psychisch angeschlagener Sohn, mit dem er seit Jahrzehnten nicht gesprochen hat, seine Schwiegertochter, eine vielbeschäftigte Anästhesistin an der Charité und ihre beiden erwachsenen Kinder, die verlässliche und geerdete Selma und Jacob, der lebensuntüchtige, aber geliebte Sohn, Kunststudent, Aktmodell und in seine mondäne Professorin unsterblich verliebt.
Miteinander verwoben, aneinander gekettet, der Versuch, sich von der Familie zu lösen überstehen die Protagonisten die Herausforderungen der Epidemie - Lockdown, Quarantäne, Nähe und Distanz, Schweigen und gestörte Kommunikation - und suchen den eigenen Weg, die eigene Entwicklung, die sich so gar nicht nach Wünschen oder Plänen richtet.
Dicht, düster und großartig, mit Situationskomik ausgestattet, ergreifend und einfühlsam geschrieben taucht der Leser in die Familiensituation ein, lernt die unterschiedlichen Charaktere kennen, verstehen, z.T. auch annehmen und schätzen. So unterschiedlich sie alle sind, ist das Verbindende die Suche nach dem richtigen Leben, der Weg zur Ich-Findung, die Frage nach dem Sinn, die Beziehung zum Du. Jeder steckt in (s)einer Krise und muss sie letztendlich allein bewältigen.
John von Düffel schafft in „Die Wütenden und die Schuldigen“ den Spagat zwischen Aktualitätsbezug und großer Literatur, die die gegenwärtige Krise überdauern und ihre Aktualität auch nach Corona nicht einbüßen wird.