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Benutzername: 
LindaRabbit
Wohnort: 
Freiburg
Über mich: 
Leseratte erster Klasse!

Bewertungen

Insgesamt 248 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2022
Die Wolkenstürmerin
Zimmermann, Birgit

Die Wolkenstürmerin


sehr gut

Marlene, ihre Vega Gull, die Liebe und der Flugzeugbau

1957, Marlene - kupferrotes Haar, begeisterte Fliegerin und eine Frau, die auf ihren eigenen Beinen steht.

Als Nachkriegsfrau hat sie es nicht einfach, denn die Älteren meinen immer noch (auch Bundeskanzler Adenauer) eine Frau gehört in die Küche und soll sich um die Kinder kümmern. Marlene ist Miterbin der Firma, ihre Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz verstorben. Die Cousins haben kein Interesse an der Firma und dem Flugzeugbau, eher nur am Geld. Marlene schon, sie ist nicht nur begeisterte Fliegeri, sondern auch eine ambitionierte Flugzeugbauerin. Die Flugzeugfirma ist in der Bredouille und Marlene möchte ihr Erbe behalten. Bei einem kurzfristigen Trip an die Ostseeküste, Neustädter Bucht, zum Ferienhaus der Familie, lernt sie den Winterschwimmer kennen. Und der Winterschwimmer ist der Mann der Träume für Marlene (mit einem riesigen Haken).

Marlene ist eine starke Frau, die alles für die Liebe tut, auch wenn es gefahrenvolle Momente sind.

Flieg, Marlene, Flieg. Und das macht sie! In jeder Hinsicht... sie lässt sich ihre Träume nicht verbieten. Schöne Flugbeschreibungen.
Der Name Lilienthal ist gut gewählt. Könnte es eine Nachfahrin jenes berühmten Lilienthals sein? Doch auch die sehr bekannte Fliegerin Beryl Markham ist erwähnt, weil sie ebenfalls eine Vega Gull flog (Allein - Atlantikflug, lange in Kenia ansäßig und mit berühmten Leuten dort verbandelt, 'out of Africa', Finch-Hatton und Eifersuchtsobjekt von Karen Blixen).

Auffallend anregendes Umschlagsbild von einer Fliegerin im Nachkriegslook. An der Fliegerei Interessierte müssen automatisch das Buch in die Hand nehmen! Interessierte an historischen Themen und starken Frauen finden bestimmt schöne Musestunden mit diesem leicht lesbaren Buch.

Bewertung vom 14.09.2022
Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1
Blum, Charlotte

Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1


ausgezeichnet

Eine Telefonistin ermittelt...

Alma, das Fräulein vom Amt, arbeitet schwer im Kreis ihrer Kolleginnen. Reinstöpseln, Gespräch annehmen, umstöpseln, dazwischen auch mal einen Stromschlag erhalten. Keine Pause, krummer Rücken, unhöfliche Kunden, die die jungen Frauen blöd anbaggern. Trotzdem galt die Position als "Fräulein vom Amt" als etwas Besonderes, zudem einer der wenigen Berufe für Frauen.

Da überhört Alma beim Umstöpseln ein Gespräch über einen ausgeführten Auftrag. Die Stimme ist wie 'Kreide auf einer Schiefertafel' (dieses schrecklich kratzende Geräusch, was einem durch Mark und Bein geht), also sehr markant und unangenehm. Später liest sie in der Badischen Presse, dass eine Tote bei den Kolonnaden gefunden wurde.

Alma ist neugierig, aufgeweckt und aufmerksam; so entschließt sie sich der Polizei das mitgehörte Gespräch zu melden. Dort wird sie zuerst abwehrend aufgenommen, ist doch nur eine Prostituierte, in diesem Milieu kommen Todesfälle eben vor. Alma gibt aber nicht auf, und Ludwig Schiller, Polizeianwärter und Kriegsrückkehrer, steht ihr bei.

Baden-Baden, im Jahr 1922 (vor ein hundert Jahren in der Zwischenkriegszeit / Weimarer Republik – im Buch „nach dem 'Große Krieg'„ genannt; die armen Leute wussten ja nicht, dass es noch schlimmer kommen würde).

Alma teilt eine Dachgeschosswohnung mit der quirligen Emmi, eine typische junge Frau der 'Goldenen Zwanziger' (leben und leben lassen), sie kann sich nicht entscheiden, welchen ihrer vielen Verehrer sie als Mann nehmen soll. Alma ist sehr gewissenhaft, ernst, aufmerksam. Emmi, ihre Freundin und Mitbewohnerin, das Gegenteil. Aber sie mögen sich (als Leserin muss man Emmi nicht mögen, aber immerhin steht sie hilfreich an Almas Seite). Dazu kommt noch der Lieblingscousin von Alma – Walter (mit spanischen Anteilen, deswegen Torero von Emmi genannt), ein angehender Mediziner, der seiner geliebten Cousine auch hilfreich zur Seite steht und ihr Einsichten ermöglicht...

Almas Familie ist eher eine normale Familie der Zeit (Frauen müssen so und so sein, und nicht so, wie z.B. diese Emmi, schlechter Einfluss auf Alma). Frauen sollen alle schön heiraten und Kinder kriegen. Schlimmer noch, Frauen, wenn Beamtinnen, müssen ihren Beruf aufgeben, wenn sie heiraten. Dieses Gesetz hatte lange Gültigkeit bis die Frauenrechtlerinnen dies zum Fall brachten.

Das Autorinnenteam lässt uns an vielen der schlimmen und damals üblichen Diskriminierungen von Frauen teilhaben. Also alles noch nicht so lange her und manche der damaligen Verhaltensweisen haben selbst heute noch ihrer Auswirkungen...

Die Zwischenkriegszeit ist gut von den beiden Autorinnen recherchiert worden, auch von Örtlichkeiten in Baden-Baden zu lesen ist ein Genuss (Baden-Baden hat viel zu bieten). So ist selbst die in der Nazi-Zeit zerstörte Synagoge an ihrem ehemaligen Platz als Treffpunkt erwähnt (einst ein wunderschöner Bau).
Baden-Baden war (und ist) schon immer mondän, leicht verrucht und von schillernden Personen durchzogen. Insofern passt dieser Krimi zu der kleinen Stadt Baden-Baden.

Für mich als aus Südbaden Stammende und öfters in Baden-Baden Seiende ist es wirklich ein Lesegenuss, da ich viele der beschriebenen Orte kenne und von anderen mich überraschen lasse (für den nächsten Besuch dort). Alles Wichtige in der Region wurde erwähnt. Natürlich kommt auch das Pferderennen in Iffezheim dabei vor (ein neuer Todesfall). Selbstredend, dass die kluge und aufmerksame Alma wesentlich zur Aufklärung der Morde beitragen kann und nebenbei auch noch die Liebe entdeckt!

Trotz gewisser Längen, die gestrafft werden könnten, sehr lesbar, spannend und von gutem Unterhaltungswert (Nr. 2 von Almas Fällen kommt bald auf den Markt)

Bewertung vom 14.09.2022
Kerl aus Koks
Brandner, Michael

Kerl aus Koks


gut

Biografie eines Schauspielers

'Paul Brenner ist meine bessere Hälfte'. Es genügt, wenige Sätze zu lesen aus der Autobiografie von Brandner, um zu wissen, dass das Buch etwas taugt und lesbar ist.
Brandner ist ein bekannter Schauspieler. Ich kenne ihn nicht, auch als ich seine überaus lange Liste von Film- und TV-Auftritten durchlas (das eine oder andere kannte ich, z.B. 'Die Wanderhure') konnte ich mich nicht an ihn erinnern. Er ließ mich wohl unbeeindruckt zurück.

Also, Brandner schreibt über Paul Brenner (er sagt, sein wilderes Ich, sein Freund), ich vermute 'sein alter ego':
Paul lebt zuerst in Bayern, in einer Großfamilie, und dann im Ruhrpott. Überall lebt er sich leicht ein....In Bayern ist er im 'Wurschthimmel' (ja, sehr schwierig, die Finger davon zu lassen, Vegetarierer haben es schwer in Bayern), dann die Hefesemmel, Paul ist im Schlaraffenland und inmitten einer heimeligen Großfamilie. Die Idylle wird gestört, es kommt eine Dame, die seine Mutter sei. Dortmund, sein Papa. Der ist lieb. Und sie lieben sich vom ersten Moment an, doch es ist nicht sein biologischer Vater. Von nun an muss er im Ruhrgebiet leben, ein ganz anderes Leben.

Eine erbauliche Autobiografie von einem, der zwischen allen Kulturen lebt (Bayern / Ruhrpott) und dann doch wieder zum Anfangspunkt zurückkehrt (Brandner lebt in München).

S. 75: 'Dann der Besuch beim Metzger. ...Selig lächelnd stand er mitten im Laden und war wieder zu Hause... „Du gehörst doch zum Brenner Hans“.
Sein Besuch in Bayern, mit seinem Papa, der endlich die Verwandtschaft in Bayern kennenlernen wollte.

Paul wird schwer krank, springt jedoch dem Tod von der Schippe und muss in ein neues Zuhause einziehen. Denn inzwischen ist sein Halbbruder Erich da. Paul macht eine Ausbildung zum Bauzeichner. Paul wird einberufen... (damals mussten die Jungs noch den Wehrdienst ableisten, war nicht zu schlecht, denn da wurden ihnen Flausen ausgetrieben). Er meldet sich zum Bundesgrenzschutz und legt sich beim Einrücken eine Perücke zu... große Klasse! Das Leben geht rasant weiter, je älter Paul wird...

Leicht lesbar geschrieben, aus der Sicht eines Kindes, was noch nicht so richtig seine Umgebung kennt und wer was ist und warum. Eine Mutter, die eigentlich keine richtige Mutter ist; ein Vater, der nicht sein biologischer Vater ist, aber mehr Vater, liebender Vater als seine Mutter Mutter ist. Aber eigentlich auch mit ironischem Zwinkern geschrieben. Seine Mutter war so eine Frau, die man sich nicht unbedingt wünscht. Und der Junge lernt hinzuschauen und kommt mit allen zurecht... Die ersten Teile, Sicht aus Kinderaugen bis zu seiner Bundeswehrzeit, liest sich interessant.
Danach wird es langweilig, weil es nur noch um in den Tag hineinleben geht, so viele Personen auftauchen, dass die Übersicht darüber verloren geht... so viele Jobs, so viele Frauen...

Das Umschlagsbild zeigt einen ziemlich pfiffig aussehenden Zwerg.

Drei Sterne lediglich, Sternabzug, denn wäre der Stil so weitergegangen wie der Anfang bis zur Mitte, pfiffig, humorvoll und mit gewissen Einsichten...

Bewertung vom 26.08.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


sehr gut

Trauern, Verlust, Vermissen

"Zum Abendbrot isst er jetzt immer eine Seite aus dem Tagebuch seiner verstorbenen Frau. Er isst sie roh, und er tut es aus Liebe". Diesen Einstieg muss man sich echt auf der Zunge schmelzen lassen... Als ich einer Freundin von dem Buch erzähle, sagt sie 'einverleiben'. Genau.

Ein Schlange fand sich soweit nur auf einem Bild im Zimmer des Rektors, eine Aspis Viper. Viele surreale Momente. Immer wieder: Der eine Sohn sieht Gesichter. Die Tochter muss ihre Wut verprügeln, sie verdrischt andere Kinder mit einer Brutalität, die an Ermorden erinnert.
Johanne, Mutter und Ehefrau, ist tot. Die einzige, die wohl die Familie zusammenhielt. Adam, ihr Mann, sagte sie immer, sei lebensuntüchtig. Alle leiden, die drei Kinder, der Mann.
Die Tagebücher, die gegessen werden, aber ein Kind rettet immer wieder Fetzen, rettet Gedanken der Mutter oder will sie retten. Der Friedhof, auf dem zwei Kinder sich heimisch machen wollen. Die Frau mit dem Hund, eine Obdachlose. Ihr Hund, eigentlich ein Gummiball an der Leine. Sie beschimpft Adam, den Vater. Und er braucht es wohl.
Andere Figuren tauchen auf, spielen wichtigere Rollen, andere stören, werden an den Rand gedrückt. Es passiert soviel Surreales. Ein Traueramt macht sich Sorgen um die Familie, ein Trauerbegleiter wird fast verrückt mit der Familie.

Das erste Buch der Autorin war anders, wie ein Märchen. Der Junge und der Hahn und die schrecklichen Dinge, die dort passierten, doch der Junge und sein Hahn kamen gut durch. Happy End, wie in einem Hollywood Blockbuster.
Es hatte, zwar auch surreal, doch Hand und Fuß. Dieses Buch hier ist absolut surreal. Eigentlich eher ein Gedichtband zur Trauerverarbeitung. Liest man eine Seite oder nur wenige Zeilen, dann muss man einhalten, darüber nachdenken... nicht zuviel auf einmal lesen, sonst ist die Welt aus den Angeln gerückt.

Ich habe an meine Trauerverarbeitung gedacht und ich kenne die Trauer anderer. Wenn der Witwer seine Nase in die Pullis der Verstorbenen steckt, um ihren Geruch zu halten. Wenn die Witwe sich in Arbeit stürzt und sich an den Kindern festhält, den Kindern Zukunft gibt.

Dieses Buch wird kein Bestseller in dem Sinn werden, dass alle jubeln und sagen, das ist spannend. Es ist ein leises Buch, wie bereits erwähnt, eher wie ein Gedichtband. Ein Buch zum immer wieder in die Hand nehmen, um dann die Worte direkt ins Herz fließen zu lassen. Hoffentlich. Das Buch wird vermutlich wieder Preise gewinnen und manch einer wird es kaufen, aber viele werden es aus der Hand legen und den Kopf schütteln. (Eben ein leises Buch) Und dann wieder, eher etwas verstohlen, darin das eine oder andere lesen...

Und das Buch sagt, nehmt Euch Eure Zeit, es ist Eure Trauer. Und verarbeitet sie so wie Ihr es braucht...

Titelbild: Von Paul Gauguin, 'Porträt Vaiite'; sehr sehr schön... Diogenes - Verlag eben, der gerne künstlerisch anspruchsvolle Titelbilder nimmt

Bewertung vom 26.08.2022
Denk ich an Kiew
Litteken, Erin

Denk ich an Kiew


ausgezeichnet

Slawa Ukrajini! Holodomor

Stalin: Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, der Tod von Millionen nur eine Statistik. Allein diese Aussage, dem Vorwort vorgestellt, des Massenmörders Stalin, das Vorwort der Autorin Erin Litteken, Nachfahrin einer geflüchteten Ukrainerin, bringt zum Weinen. Angesichts der aktuellen Situation so etwas von schrecklich! Stalin wird heute noch in Russland verehrt. Es gibt Museen, die ihn glorifizieren.

Holodomor. Millionen Ukrainer verhungern. Vorsätzlich. Just zu dieser Zeit spielt die tragische Geschichte des Romans. Katja beschreibt diese Zeit ab 1930 in einem Tagebuch. Den Tod, die Suche nach Lebensmittel, die Ermordung der nahen Verwandten. Schmerzhaft, jede Seite ist voller Hoffnung und dem Schmerz.

Erin Litteken erzeugt geschickt Emotionen mit ihrer Schreibe. Mitgefühl, Fassungslosigkeit, Entsetzen. Die zweite Zeitebene, 2004 in den USA, Cassie hat ihren Mann verloren und vegetiert mit ihrer sprachlosen Tochter Birdie. Doch dann beginnt die Aufarbeitung von Katjas Geschichte durch Cassie. Die ukrainischstämmige Großmutter Bobby ist die zentrale Figur und ihre Weisheiten beeinflussen nun Cassies Leben. Beide Zeitebenen miteinander verflochten führen zum Heute. Neuer Lebensmut. Aus der Geschichte lernen...

Das Umschlagsbild - der grünlich-blaue Himmel über dem gelben Weizenfeld - erinnert an die ukrainische Flagge, die jetzt überall, zumindest in meiner Heimatstadt, an den öffentlichen Gebäuden hängt.

Über das Buch eine Rezension zu schreiben, ist auch ein politisches Statement gegen den Krieg, den Russland der Ukraine aufgezwungen hat. Es ist so unglaublich, dass russische Machthaber (einst ein kulturell hochstehendes Land) so etwas tun. Jeder russische Mensch und auch jede:r mit russischen Wurzeln muss gegen das, was Putin & Co machen, aktiv vorgehen.

Slawa Ukrajini!

Bewertung vom 26.08.2022
Die Passage nach Maskat
Rademacher, Cay

Die Passage nach Maskat


gut

Auf dem Weg nach Oman - Spannungsgeladener Roman

Marseille, das Gespräch zwischen Jung und einem anderen Passagier - die Narbe am Handgelenk (von einem Suicid-Versuch?), jedenfalls meint das der 'nette' Gesprächspartner: Nochmals versuchen, Problem weniger...

Und das ist der Einstieg, also weiß ich als lesende Mitfahrerin gleich woran ich bin - es sind eben nicht nur nette, gut aussehende und charmante Passagiere an Bord, sondern auch das genaue Gegenteil.

Die Passage nach Maskat: 1929 - die Champollion, die in Marseille in See sticht und in den Orient fährt. An Bord: Anita Berger, Nackttänzerin und Skandalnudel aus Berlin (eine echte Person mit Gedenktafel, Parkbenennung und x- Büchern, sogar Gemälde von Dix), ein angeblicher Anwalt aus Rom, eine englische Lady mit Gesellschaftsdame, ein Amerikaner, der sagt er sei Ingenieur, ... und und und..., und das schwerreiche Kaufmannsehepaar Rosterg, das mit seinem Prokuristen Berthold Lüttgen, mit dem Sohn, der Tochter Dora und deren Ehemann Theodor Jung Richtung Maskat unterwegs sind, um Gewürze einzukaufen. Nichts ist jedoch so wie gesagt. Der Illusionendampfer!

Theodor Jung, traumatisiert vom ersten Weltkrieg und dem Untergang seines U-Bootes, hat Probleme, vor allem auf dem Meer und im Schiff unterhalb der Wasserlinie (verständlich); er ist Fotograf der Berliner Illustrierten und soll großartige Fotos unterwegs machen.
Die Schwiegereltern wie der Schwager mögen Jung nicht, und auch nicht der sich von Anfang an als sehr unsympathisch darstellende Prokurist. Also ist Jung auf einem Schiff gefangen, inmitten von lauter Menschen, die ihn nicht mögen. Nur seine Ehefrau Dora an seiner Seite, aber um ihre Ehe sieht es auch nicht bestens aus. Allerbeste Voraussetzungen also für eine gelungene Schifffahrt.

Kurz nach der Abfahrt von Marseille verschwindet Dora plötzlich und alles, was mit ihr zu tun hat, verschwindet ebenfalls (wirklich alles?) und keiner kennt sie (wirklich nicht?). An Bord wird das luxuriöse Leben gelebt wie auf der Titanic. Die Speisekarte ist exquisit, die Gäste weniger.

Dora verzweifelt gesucht von Theo, der sich am Rande des Wahnsinns bewegt: Wer ist für das Verschwinden von Dora verantwortlich und warum? Geheimnisse offenbaren sich und Jung lebt in einem nicht enden wollenden Alptraum.

Doch es gibt nicht nur Böse an Bord (die so eindeutig böse sind, der lesende Mensch weiß daher schnell, dass die Bösen in das Böse verwickelt sind). Etwas mehr Raum für die Fantasie und Forscherwillen des lesenden Publikums zu lassen wäre nicht schlecht. Vor allem, da selbst die bösesten Menschen nicht immer böse sind, sondern im Gegenteil auch sehr liebenswerte Züge zeigen können, um dann in ihrer Falschheit zuzuschlagen. Also zu sehr schwarzweiß. Daher auch – trotz der spannenden Geschichte – Punktabzug.
Und dann sind auch einige logische Fehler im Roman: Selbst eine englische Lady weiß, wie ein Ehering an der Hand eines Mannes aussieht (S. 106, 'ich wusste nicht einmal, dass Sie verheiratet sind').

Die Reisebeschreibungen sind sehr schön (vermutlich ist der Autor die Strecke mit einem Kreuzfahrschiff gefahren und dabei fiel ihm die Idee zu diesem Roman ein). Einiges wurde von mir nachgeschlagen, Suezkanal z.B., mit dem Wunsch diese Route auch mal zu befahren.

Der Autor Cay Rademacher liebt niederschmetternde Beschreibungen von höchst unsympathischen Figuren. Rademacher hat schon einige erfolgreiche Romane geschrieben. (Bin ich froh, dass ich selten so bösartige Menschen treffen muss, wie er sie beschreibt)

Titelbild - passend, eine Schiffstreppe, mit zwei Passagieren (Theo und Dora?)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.08.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


ausgezeichnet

Der Aufsteiger aus Lokutni – ein jüdisches Leben

Urgroßonkel Isidor alias Israel, die Geschichte von einem, der auszog aus Galizien, um die Welt zu erobern... Er ging ins k.u.k. Österreichische, nach Wien. Isidor wurde reich, berühmt und lebte integriert. Andere Familienmitglieder folgten ihm nach, so dass sie ein schönes Familienleben in Wien hatten. Isidor lebte mondän, er hatte Frauengeschichten und er war erfolgreich. Das alles wurde ihm genommen, als die Nazis Österreich 'heim ins Reich holten'. Da war er nur der Jude und er wurde misshandelt, was bei ihm letztendlich den Lebenswillen brach. Er hätte nie gedacht, dass das Land Österreich, was er so liebte, ihn in dieser Weise behandeln würde.
,
Es tut auch weh zu lesen, was die Erzählerin vom Großvater Walter (der Sohn von Isidors Schwester aus der zweiten Ehe) erzählt, der die österreichische Kultur so schmerzlich vermisste, als er nach Palästina auswanderte. Doch die Demütigungen, die Verfolgung, die Schmährufe, die Angst..., er musste weg. (Es tut weh, denn in meiner Großfamilie bei sechs Naziopfern haben drei nicht überlebt)...

Die Autorin suchte nach Spuren von Isidor und fand sie - sie fand Akten, Briefe, Aufzeichnungen, Fotos. Aufregend diese Spurensuche und großartig, was sie dabei fand. Aus den gefundenen Spuren hat sie diese Lebensgeschichte zusammen gestellt.

Wie geht man damit um, dass einem Heimatstadt nicht mehr will? Und noch mehr... Walter (der Großvater der Autorin) geht zur alten Wohnung der Familie und bei dem Hausmeisterpaar sieht er Möbel und Dinge aus dem elterlichen Besitz und dem der Nachbarn, gestohlen. Nicht mal verschämt, sondern: "der Jud is wiada do".

Unaufgeregt hat Shelly Kupferberg von ihrer Familie berichtet.
Von einer Zeit, die schlimm war und so hoffentlich nie wieder wiederholt wird.

Umschlagsbild: Das Reh, was in der grün gestrichenen Wohnung steht. Das Reh steht für 'das Reh am Grab von Isidor'. Auf dem Friedhof begegnen der Forscherin Rehe... Es ist sehr auffällig. Interessierte gucken aufmerksam auf dieses Titelbild während Fragenzeichen in den Augen stehen, was bedeutet das Reh...(bei einer Zugreise).

Ein Auskunftssroman über eine schlimme Zeit! Und der Diogenes Verlag hat seinen Ruf als ein besonderer Verlag wieder wettgemacht.

Bewertung vom 27.07.2022
Die versteckte Apotheke
Penner, Sarah

Die versteckte Apotheke


ausgezeichnet

Der alte Apothekerschwur

Gemäß dem alten Apothekerschwur - niemals Gift zu verabreichen: 1791 London, dann: "Nicht nur eine Apothekerin, sondern eine Mörderin. Eine Meisterin der Tarnung..."

Caroline ist an ihrem zehnten Hochzeitstag unterwegs - ohne ihren Gatten, denn kurz vor dem Abflug musste sie erfahren, dass ihr Ehemann James eine Affäre hat. So fliegt sie alleine nach London. Um ihren traurigen Gedanken zu entkommen, macht sie bei einem 'mudlarking' mit, im Schlamm der Themse nach alten Gegenständen suchen. Und sie findet einen kleinen Flakon... und nun 'let it begin': Was ist das für ein Fläschchen, wem gehörte es, was für ein Geheimnis birgt der Flakon?

Die Geschichte springt zwischen der Jetzt – Zeit und dem 18. Jahrhundert hin und her: Nella, die Apothekerin, ist auch eine Giftmischerin, um Frauen von schrecklichen Männern zu befreien. Und hätte Caroline nicht allen Grund ihren untreuen Ehemann (für den sie ihre eigene Karriere ins Abseits stellte) auch ins Jenseits zu schicken?

„In diesem Moment spürte ich eine Veränderung: wie die Unzufriedenheit in mir die Gelegenheit zu einem Abenteuer ergriff, eine Exkursion in meine lange vergessene Begeisterung für vergangene Zeiten.“ S.68

Geschickt sind die beiden Erzählstränge miteinander verflochten. Immer sind Frauen die Protagonistinnen, aber auch die Übeltäterinnen; Frauen, die mit ihren Männern nicht auf die gute Seite der Geschichte gefallen sind. Brechnuss, Wolfswurz, und einige andere Giftpflanzen und Käfer – die Erzählerin hat wirklich Ahnung von gewissen Pflanzen oder gut recherchiert. Das Ende der Erzählung ist großartig! Sehr geschickt! Gute und spannende Unterhaltung!

Das Umschlagsbild ist aufregend, bunt, voller geheimnisvollen Blüten und einem Flakon mittig (der enthält, was?). Am Ende des Buches werden ein paar geheimnisvolle Kräuter erklärt, gleichzeitig einige Rezepte eingebracht zum Nachkochen / -backen (gehört wohl heute dazu, passende Rezepte finden sich mittlerweile in einigen Büchern an)

Bewertung vom 27.07.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


ausgezeichnet

Ein Lebensteppich (Pommersche Fischerteppiche)

Ein Buch voller Überraschungen:
Das beginnt bereits mit dem Umschlagbild – das kräftige Blau, davor das kräftige Grün, zwei Frauen, deren 'Schattenbilder' sich überlappen (so wie im Roman die beiden Frauengestalten sich auch überlappen). Das Umschlagbild ist wunderschön, so passend.

Mia und der Fischerteppich: Ist es eine Fälschung? Was hat es mit dem Fischerteppich auf sich...
Und auf einmal bin ich in der Geschichte drin... der Geschichte der Pommerschen Fischerteppiche (eine kleine Erfolgsgeschichte). Die Fischer haben ein Fangverbot, 1928, ein Experte des Teppichknüpfens bringt ihnen die Fertigkeit bei, um 'nordische Perser' zu knüpfen; dann von den Nazis missbraucht, in der DDR ebenfalls als Volkskunst unterstützt; heute als Tradition wieder am Aufleben...

Realität mit Fiktion geschickt verwoben! In Greifswald, in Zagreb, in... (so vielen weiteren Orten, ein europäischer Lebensteppich).

Die Hauptfigur Mia Sund (alias Maria Lena Guda) hat ein bewegtes Leben geführt und sie leidet unter den Langzeitfolgen. Sie fühlt sich verfolgt. Ihr altes Leben, ihre Kindheit, ihre Jugend. Sie hat Ahnung von Fälschungen. Ist der Fischerteppich, den ihr Kollege ihr - der Faserarchäologin - in Greifswald auf den Schreibtisch legt, eine Fälschung?

Der Schreibstil ist sehr eigen und doch einmalig. Er zeugt von einer großen Erzählkunst und ist sehr poetisch, das erfordert geduldiges Lesen. Schnelles Lesen ist nicht angesagt, da entgehen einem die Feinheiten: Das Verwobene der Geschichten ineinander, die Geschichten der Mia und der Nina.

Durch den Roman und meinem Erzählen davon bin ich auf die anderen Bücher der Autorin Karin Kalisa gestoßen und auf ihre 'website' … es ist das erste Buch was ich von der Autorin gelesen habe, vermutlich aber nicht das letzte. Aus meinem Bekanntenkreis tönte es sofort, ja, Karin Kalisa, wenn du mir das neue Buch von ihr ausleihst, dann bekommst du 'Sungs Laden'. So geht die Geschichte weiter...