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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 180 Bewertungen
Bewertung vom 16.03.2022
Am roten Strand / Ben-Neven-Krimis Bd.2
Wagner, Jan Costin

Am roten Strand / Ben-Neven-Krimis Bd.2


ausgezeichnet

Kurz nachdem die Ermittler Ben Neven und Christian Sandner den entführten kleinen Jannis befreit haben und einen der Täter verhaften konnten, werden die ganzen Ausmaße des Falles deutlich. Denn es gab ein ganzes Netzwerk an Pädophilen, die im Internet nicht nur Fotos und Videos austauschten, sondern auch reale Treffen mit ihren Kindern oder Enkelkindern anbahnten. Als zwei Verdächtige sterben, sieht sich das Team plötzlich mit einer ganz neuen Situation konfrontiert: Will sich jemand an dem Netzwerk rächen? Hinzu kommt, dass sich auch Bens innere Dämonen wieder zu Wort melden und der Polizist nicht nur äußerlich an seine Grenzen gerät...

"Am roten Strand" ist der zweite Band um den pädophilen Ermittler Ben Neven und sein Team, dessen Handlung überraschenderweise direkt nach dem ersten Buch "Sommer bei Nacht" von 2020 einsetzt. Jan Costin Wagner beweist darin erneut, dass ihm im Genre des deutschsprachigen anspruchsvollen Kriminalromans derzeit wohl maximal Friedrich Ani und Matthias Wittekindt das Wasser reichen können. Für das bessere Verständnis der Handlung und der Figuren ist es zwar nicht zwingend notwendig, den ersten Band zu kennen, in meinen Augen aber sehr empfehlenswert. Denn viele der inneren Kämpfe der Figuren kann man besser nachvollziehen, wenn man sie bereits in "Sommer bei Nacht" kennengelernt hat und auch der aktuelle Fall bezieht sich direkt auf den Vorgänger.

Der Sprachstil Wagners ist packend und gleichzeitig beklemmend. Die Dialoge wirken authentisch und nie aufgesetzt. Die Handlung erscheint erschreckend aktuell und lässt einen sofort an die Fälle in Lügde und Münster denken. Durch die Zerrissenheit der Figuren in Verbindung mit dem traurigen Kriminalfall verströmt "Am roten Strand" eine intensive und bedrohliche Atmosphäre, die immer durch eine gewisse Melancholie untermalt wird.

Die interessanteste Figur ist dabei wie schon im Vorgänger Ben Neven selbst, der stets auf dem schmalen Grat zwischen Selbsthass und innerer Zerrissenheit wandelt. Jan Costin Wagner hat mit dem mit seiner sexuellen Neigung kämpfenden Ben einen Protagonisten erschaffen, der noch mehr als im ersten Teil die Leserschaft spalten wird. Ein gewagter und kühner Schritt, mit dem es der Autor gar nicht darauf anlegt, von allen gemocht zu werden. Und auch wenn er Neven nicht verurteilt, wahrt er doch immer eine Distanz zu ihm und beschönigt nichts. Die Verurteilung überlässt er lieber Ben Neven selbst.

Insgesamt sind die Charaktere psychologisch wunderbar austariert. Jede Geste, jeder Blick hat eine Bedeutung. Jeder Zweifel und jedes leichte Flackern in den Augen. Die Perspektive der Figuren wechselt dabei ständig und lässt selbst in kürzesten Beiträgen auch die vermeintlichen Nebenfiguren nicht außer Acht.

Jan Costin Wagner ist eine Wohltat für die deutsche Kriminalliteratur, die zu oft mit Regionalkrimis und blutrünstigen Psychothrillern nur noch zu langweilen weiß. Denn "Am roten Strand" ist viel mehr als nur ein Krimi. Es ist eine genre- und grenzüberschreitende mutige Melange, die schon jetzt neugierig macht auf den dritten Band um Ben Neven und sein Team.

Bewertung vom 12.03.2022
Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte
Schmidt, Felix

Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte


sehr gut

Als der namenlose 87-jährige Ich-Erzähler von seinem Arzt eine beunruhigende Diagnose erhält, sind sie plötzlich wieder da: die Angst, die Bedrohung, das "Seelengefängnis", wie er es selbst nennt. Doch woher stammen diese existenziellen Gefühle und wie kann man sich ihnen entgegenstemmen? Um der Wurzel dieses Übels auf den Grund zu gehen, reist er in die "Kleine Stadt am Rhein", in der er schon seine Kindheit verbrachte. Die zentrale Figur seiner Gedanken ist der Vater - ein Mann, der sich einerseits den Nationalsozialisten mit aller Vehemenz in den Weg stellte, auf der anderen Seite aber in seiner Rolle als Familienvater kläglich versagte...

Der nur gut 150 Seiten umfassende zweite Roman des Journalisten Felix Schmidt ist ein Werk, das durch die Kriegshandlungen in der Ukraine einen erschreckend aktuellen Bezug erhält. Es ist ein bemerkenswert kluger und authentischer Roman, der in einigen Momenten gar schmerzhaft ehrlich erscheint. Denn Felix Schmidt, der nicht zufällig im selben Alter ist wie sein Protagonist, beschönigt und verheimlicht nichts.

In schnörkelloser und klarer Sprache versetzt er die Leser:innen ganz in die Perspektive des Jungen und beurteilt die Kriegsjahre und die Nachkriegszeit eben so, wie ein Junge seines Alters sie auch beurteilen würde. Denn während das Kind, aufgestachelt von einem "braunen Lehrer", gefangen scheint zwischen Faszination und Angst, zwischen Führerverehrung und Gottesglauben, positioniert sich der Vater so eindeutig gegen die Nationalsozialisten, dass Familienkonflikte unausweichlich scheinen.

"Ich hätte gerne einen anderen, einen verständnisvolleren Vater gehabt", heißt es ganz offen an einer Stelle. "Ihre wärmenden Hände haben mir auch in späteren Jahren die Liebe und den Halt gegeben, die ich von den Eltern nicht bekam", erzählt er über die liebevolle Großmutter an einer anderen. Aus diesen empathischen und ehrlichen Sätzen klingt die Stimme eines Jungen heraus, dem in der Familie zu wenig Liebe entgegengebracht wurde und der ohne die familiäre Unterstützung in diesen schweren Zeiten zu zerbrechen drohte.

Dennoch ist der Vater eine bemerkenswerte, eine zutiefst ambivalente Figur. Denn während er zuhause laut, rechthaberisch und bisweilen cholerisch auftritt, ist er auf der anderen Seite so standhaft und aufrecht in seiner Haltung, dass er damit sogar die eigene Familie in Gefahr bringt. Selbst nach dem Ende des Krieges lässt er sich nicht verbiegen und trotzt irgendwelchen Rachegedanken.

So ist es nicht verwunderlich, dass Felix Schmidt dieser Vaterfigur einen Roman widmet und sie sogar in den auf den ersten Blick zweideutigen Titel aufnimmt.

Stilistisch ist der Roman fern von jeder Modernität, was er aber auch gar nicht sein muss und möchte, denn es sind die immer wieder durchschimmernden klugen und pointierten Sätze, die ihn zu einer Besonderheit machen und eben nicht eine besonders komplexe Erzählstruktur. Dennoch hätte ich mir an einigen Stellen gewünscht, dass der Ich-Erzähler aus der Nacherzählung ausbricht, Dinge stärker und ausführlicher zeigt. So sind beispielsweise dem Tod der geliebten Großmutter recht wenige Zeilen gewidmet, obwohl sie in der Erziehung des Jungen eine erhebliche Rolle spielte. Und in den Nachkriegsjahren nimmt das Erzähltempo plötzlich so zu, dass ich es etwas bedauerlich fand, den Protagonisten auf seinem Weg zum jungen Erwachsenen nicht länger begleiten zu dürfen.

Kleinere Kritikpunkte eines ansonsten aber überzeugenden und sehr lesenswerten Romans.

"Ich habe später einmal gelesen, dass die Augen das Fenster zur Seele seien. Wenn da etwas dran ist, dann war das Fenster des Vaters zu oft beschlagen", fasst Felix Schmidt in einer besonders bewegenden Szene das Verhältnis des Ich-Erzählers zu seinem Vater zusammen. Es sind solche Sätze, die den Wert des Romans zeigen und uns dankbar machen sollten, dass wir noch immer die Möglichkeit haben, Zeitzeug:innen zu lauschen - egal, was autobiografisch und was fiktiv ist. Immer und gerade i

Bewertung vom 07.03.2022
Der Ausflug
Kurbjuweit, Dirk

Der Ausflug


gut

Für die Historikerin Amalia, ihren Bruder Bodo und die Kindheitsfreunde Josef und Gero steht mal wieder der jährliche gemeinsame Ausflug an. Dieses Mal soll es eine sommerliche Kanutour sein, in einem nicht näher bezeichneten ostdeutschen Gebiet, fernab der Zivilisation, das mit seinen Fließen stark an den Spreewald erinnert. Doch gleich zu Beginn ihrer Reise treffen die Vier auf Hindernisse: Im Gasthof kommt es zum Eklat, als der dunkelhäutige Josef nicht die Toilette benutzen darf. Dennoch beschließen die Freund:innen ihren Ausflug wie geplant fortzusetzen. Eine Entscheidung mit schwerwiegenden Konsequenzen...

"Der Ausflug" ist der neue Roman von Dirk Kurbjuweit, der zuletzt mit "Haarmann" ein erstklassiges düster-melancholisches Krimidrama präsentierte. Um es vorwegzunehmen: Leider erreicht das neue Buch nicht einmal im Ansatz diese Qualität.

Gleich zu Beginn wähnte ich mich in einem eher unterdurchschnittlichen Horrorfilm mit platten Dialogen und stereotypen Figuren, die nahezu alles falsch machen, so dass ich mir sofort die Frage stellte, wen der Vier es wohl zuerst erwischen würde: Anführerin Amalia, Nervensäge Bodo, den smarten Amalia-Ex Josef, der als einziger Dunkelhäutiger in der ostdeutschen Provinz das Hassobjekt darstellt oder Schweiger Gero, der kaum etwas zur Handlung beiträgt? Und? Ganz so vorhersehbar entpuppt sich der gemeinsame Ausflug dann glücklicherweise jedoch nicht, aber warum sich das Quartett genau diesen Ort und diesen Gasthof aussuchen musste, klärt sich leider bis zum Finale nicht. Ganz zu schweigen davon, dass sie trotz ihrer Zelte tatsächlich eine Nacht dort verbringen. Gar unfreiwillig komisch wird es, wenn Gero in Bezug auf den Toiletten-Eklat den Gasthof-Rassisten inbrünstig entgegenschmettert: "Sie wissen genau, dass das N-Wort ein rassistischer Begriff ist." Ja, Gero, natürlich wissen sie das, möchte man ihm förmlich ins Gesicht schreien. Denn sie sind ja Rassisten!

Findet man sich als Leser:in also mit dieser unglaubwürdigen Prämisse ab und gewöhnt sich ein wenig an die nervigen und ständig umheralbernden Figuren, wird man in der Folge dann erstmals belohnt. Denn auch wenn die Fremdenfeindlichkeit der Einheimischen völlig überspitzt und ausnahmslos erscheint, gelingt es Dirk Kurbjuweit in dieser Phase eine wirklich unheimliche und bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen. Die flirrende Hitze über dem Wasser, die Flora und Fauna tragen ihren Teil dazu bei, doch auch der Einsatz der Mittel ist gut gewählt. Ein Pick-up stört die nächtliche Ruhe durch seine Anwesenheit, merkwürdige Kinder lassen die Vier in der Schleuse stecken, die Kanus verschwinden und ein surrealer Straußenzüchter hat einen ebenso denkwürdigen Auftritt wie ein Guru mit seinem Harem. Klingt schräg, ist es auch - aber ziemlich unterhaltsam. Ich fragte mich ständig, ob die zahlreichen Pannen einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände sind oder ob dem Quartett eine wirkliche Gefahr droht.

Doch je weniger subtil diese Bedrohungen werden, desto schwächer wird der Roman. Während keine der Figuren an Tiefe gewinnt, wird die Handlung immer gewalttätiger. Dazu kommen die weiterhin unpassenden Dialoge. Während erstmals eine Waffe auftaucht, streiten sich Amalia und Josef ernsthaft darüber, ob das Wahlrecht in den USA eher die schwarze Bevölkerung oder die Frauen benachteiligte. Das wäre in einer solchen Situation natürlich auch mein Hauptproblem. Zudem wird die jahrzehntelange Freundschaft erstaunlich schnell brüchig, obwohl die Protagonist:innen eigentlich gerade jetzt besonders zusammenhalten müssten.

Ohne etwas über das Finale verraten zu wollen, stellt man sich spätestens jetzt die Frage, ob Dirk Kurbjuweit diesen Roman ernst meint oder ob er nicht doch eine Art Parabel für den Alltagsrassismus geschrieben hat, die selbstverständlich weit über das Alltägliche hinausgeht. Oder gar eine Groteske, der es dann aber an Schärfe fehlen würde. Antworten darauf gibt "Der Ausflug" bis zum Schluss nicht, dafür möchte er mit eine

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Bewertung vom 28.02.2022
Schlafes Bruder
Schneider, Robert

Schlafes Bruder


sehr gut

Das Jahr 2022 startet mit einigen bemerkenswerten Neuauflagen von Klassikern. Während beispielsweise Umberto Ecos "Der Name der Rose" sein 40-jähriges Bestehen durch eine neue Prachtausgabe feiert, lässt sich auch der Reclam Verlag nicht lumpen und besticht zum 30-jährigen Werkjubiläum durch eine hochwertige Neuauflage von Robert Schneiders Welterfolg "Schlafes Bruder".

Nicht nur der neue Schutzumschlag zieht die Blicke auf sich, sondern es gibt auch eine Überraschung, wenn man diesen entfernt: Das von anderen Auflagen bereits bekannte "Bildnis Walter Stucki" von Albert Anker erstrahlt im bedruckten Einband erstmals vollständig und damit in neuem Glanz.

Der Inhalt ist den meisten Leser:innen vermutlich bekannt: Der 1803 geborene Johannes Elias Alder findet im vorarlbergischen Dorf Eschberg keinen Anschluss an die Dorfgemeinschaft. Sein perfektes Gehör, seine schrille Stimme und sein vorzeitiges Altern machen aus dem Jungen einen Sonderling. Daran können auch sein außergewöhnliches musikalisches Talent als Organist oder seine Liebe zur fünf Jahre jüngeren Cousine Elsbeth nichts ändern. Damit diese Liebe nicht einen Augenblick ruht, beschließt Elias mit 22 Jahren nicht mehr zu schlafen, denn letztlich seien Schlaf und Tod wie Brüder, wie es schon ein Bach-Choral verlauten ließ. Eine verhängnisvolle Entscheidung, die zum vorzeitigen Tode Elias' führt, wie es der Erzähler bereits im Prolog vorwegnimmt.

In einem ergänzenden und sehr informativen Nachwort versucht Rainer Moritz dem Überraschungserfolg des Romans von 1992 auf die Schliche zu kommen und erklärt auch noch einmal die immense Bedeutung des Buches für den finanziell damals angeschlagenen Reclam Verlag. Mehr als zwei Millionen verkaufter Exemplare später wirkt "Schlafes Bruder" jedenfalls auch nach 30 Jahren alles andere als angestaubt.

Es ist wohl diese eigentümliche Mischung aus Märchen, Anti-Heimat- und Bildungsroman einerseits und der außergewöhnlichen Erzählstruktur auf der anderen Seite, die "Schlafes Bruder" auch heute noch zum Teil bessere Verkaufszahlen beschert als einigen Neuerscheinungen. Der auktoriale Erzähler, der von Beginn an überhaupt keine Zweifel an seinen Sympathien für den "Helden" Elias aufkommen lässt, berichtet nicht nur vom tragischen kurzen Leben des Protagonisten, sondern spottet auch über Eschberg und seine Bewohner:innen, von denen bis auf wenige Ausnahmen wirklich kaum einmal jemand Empathie für den verstoßenen Sonderling hervorbringt. Die Sprache macht dabei sicherlich einen Großteil des Charmes dieses Gegenwarts-Klassikers aus. Robert Schneider setzt auf einen bewusst der Handlungszeit angepassten Stil, in dem häufig auch sprachliche Besonderheiten aus dem Vorarlberg auftauchen.

Der Roman überzeugt vor allem in den Momenten, in denen Schneider und sein Erzähler auf Empathie und Wärme setzen, das Herz ansprechen - ein zentrales Element, auf das auch Rainer Moritz im Nachwort noch einmal hinweist. Der schwarzhumorige Spott und die sehr häufig eingesetzten Übertreibungen in der Handlung sorgten bei mir hingegen das ein oder andere Mal für Stirnrunzeln und hinterließen den Eindruck, dass "Schlafes Bruder" ein wenig länger wirkte, als es mit seinen gut 200 Seiten in Wahrheit ist. Gelungen ist wiederum die Figurenstruktur, aus der insbesondere Peter hervorsticht, dessen niederer Charakter vom Erzähler ausgiebig besprochen wird; der auf der anderen Seite aber durch seine Liebe zu Elias eigentlich die einzige Figur ist, auf die dieser bis zum Ende zählen kann - eine wunderbare Ambivalenz.

Insgesamt bietet diese bibliophile Ausgabe also nicht nur durch ihre schöne Gestaltung, sondern auch durch die wahrlich außergewöhnliche Geschichte des Elias Alder genügend Anreize, um "Schlafes Bruder" abermals oder sogar erstmalig zu entdecken.

Bewertung vom 24.02.2022
Gabriel
Sand, George

Gabriel


ausgezeichnet

Im September 2019 stellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer "Theaterserie" George Sands "Gabriel" als "phantastisches Stück über die Freiheit" vor und zeigte sich empört: "Bisher ist es nicht ins Deutsche übersetzt. Das muss sich ändern!" Gut zwei Jahre danach kommt der Reclam Verlag diesem Wunsch nach und veröffentlicht eines der persönlichsten Werke der großen Schriftstellerin aus der Zeit der Romantik erstmals als deutsche Übersetzung. Eine kluge und nachvollziehbare Entscheidung.

Denn seit der ersten Publikation in der französischen "Revue des Deux Mondes" im Jahre 1839 hat dieser von George Sand so betitelte "Dialogroman" auch fast 200 Jahre später erstaunlicherweise kaum an Aktualität eingebüßt. Wobei schon die Genre-Einteilung deutlich macht, dass Sand die Konventionen ihrer Zeit nicht nur in Sachen Kleidungsstil und gesellschaftlichem Duktus herzlich egal gewesen sein dürften. Doch ob nun "Phantasie", "Dialogroman" oder "Drama" - "Gabriel" dürfte in seiner Mischung aus Feminismus, Genderdebatte und Individualismus durchaus bei einer breiten Leserschaft den Nerv der Zeit treffen.

Kurz vor dessen 16. Geburtstag eröffnet der Fürst von Bramante seinem Enkel Gabriel, dass dieser eigentlich eine Frau ist und aus Gründen der Thronfolge als Junge großgezogen wurde, um der verhassten jüngeren Linie der Familie sämtliche Ansprüche zu verwehren. Doch Gabriel ist ein Freigeist, dem die Frage des Geschlechts nicht von großer Bedeutung scheint: "Ich jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass meine Seele ein Geschlecht hat, wie Sie es mir so oft beweisen sollen", entgegnet der Junge. Wichtiger ist ihm die individuelle Freiheit: "Man kann Falken im Käfig erziehen und ihnen die Erinnerung oder den Instinkt der Freiheit abgewöhnen: Ein junger Mann jedoch ist ein Vogel mit besserem Gedächtnis und mehr Verstand", heißt es an anderer Stelle.

Diese erstaunlich klugen Gedanken machen "Gabriel" zu einem sehr persönlichen Werk, denn auch George Sand selbst spielte mit der Geschlechterfrage, wie wir auch im informativen Nachwort von Walburga Hülk erfahren.

Insbesondere die erste Hälfte des Buches ist bewegend, denn die Leser:innen begleiten Gabriel auf dem Weg seiner Selbstfindung und erkennen in seinem Streben nach Freiheit und Bildung und seiner Aufsässigkeit gegenüber dem Fürsten klassische Coming-of-Age-Motive, die sowohl sprachlich als auch inhaltlich überzeugen und dabei auch heute noch aktuelle Themen wie die Gleichberechtigung der Frau in den Vordergrund und klassische Geschlechterrollen infrage stellen.

In der zweiten Hälfte entwickelt sich "Gabriel" stärker hin zu einer Tragödie mit Eifersuchtsmotiven, denn Gabrielle, wie sie sich mittlerweile nennt, spielt mitnichten die Rolle einer fürsorglichen Ehefrau, wie es sich ihr Vetter Astolphe wünschen würde, sondern strebt weiterhin nach individueller Freiheit und Selbstverwirklichung. Trotz ihrer Liebe zu Astolphe, den sie ursprünglich ja nur kennenlernen wollte, um gegen die Erziehung des Fürsten zu rebellieren.

Lässt man sich als Leser:in auf die etwas eigentümliche Prämisse ein, dass Gabriel wirklich nichts davon ahnte, eine Frau zu sein, wird man in der Folge mit einem großen Drama belohnt, einem überraschend frischen Werk. Und wer Gabriel nach der Lektüre in irgendeine Rolle pressen möchte, dem wird er entgegnen: "Ich mag mein Pferd, Wind um die Ohren, Musik, Dichtung, Einsamkeit, Freiheit vor allen Dingen." Ein bemerkenswerter Satz eines unvergesslichen literarischen Helden.

Bewertung vom 23.02.2022
Blinder Spiegel
Jamal, Salih

Blinder Spiegel


sehr gut

Der Fluglotse Lui ist ein Getriebener. Er arbeitet mal hier, mal dort, wird nirgends sesshaft. In Paris lernt er die rätselhaft schöne Elle kennen - und stürzt dadurch in eine verhängnisvolle Amour fou mit dramatischen Auswirkungen für alle Beteiligten.

Salih Jamal ist vielen Leser:innen sicherlich noch durch seinen letztjährigen wunderbaren Roman "Das perfekte Grau" ein Begriff. Nur etwas mehr als ein Jahr später legt er im Septime-Verlag sein neues Werk "Blinder Spiegel" nach. Buch und Autor scheren sich dabei herzlich wenig um Genregrenzen. Als "Roman" betitelt, könnte man es aufgrund seiner Kürze von etwas mehr als 100 Seiten auch als "Novelle" bezeichnen - oder gar als "Drama in fünf Akten", denn die Erzählstruktur aus fünf Kapiteln weist in ihrer klassischen Zuspitzung fast schon die Merkmale einer antiken Tragödie auf.

Wenn ein Buch mit den Worten "Grüne Augen sind die seltensten der Welt, und man sagt, dass sie auch die schönsten sind" beginnt, spürt man als Leser sofort eine umittelbare Intensität, die "Blinder Spiegel" auch bis zum Finale beibehalten wird. Und man ahnt, wohin die Reise geht. In eine melancholische Poesie, die bisweilen an einen französischen Film Noir erinnert, auch wenn es in dem Roman nicht immer regnet. Fast hatte ich beim Lesen das Gefühl, Ich-Erzähler Lui aus dem Off sprechen zu hören, so plastisch und intensiv sind dessen Ausführungen. Überhaupt diese Namen: Lui und Elle. Das hat auf der einen Seite etwas Existenzialistisches, auf der anderen Seite schafft es eine gewisse Distanz zwischen Leser:innen und Figuren. Eine dringend notwendige Distanz, denn die Welt, die man betritt, dürfte für die meisten Menschen fremd und abschreckend sein.

Diese fremde Welt verhinderte es letztlich auch, dass ich einen stärkeren Zugang zum Inhalt und zu den Figuren bekam. Denn während bei einem gemeinsamen Friedhofsbesuch zunächst so wunderbare Sätze wie "Ein Friedhof ist der Ort, an dem sich Schönheit und Tod umarmen" stehen, kommt es im nächsten Moment recht unvermittelt zum Oralverkehr. Was magisch und harmlos beginnt, wird zu einer obsessiven Beziehung zwischen Lui und Elle, einer Beziehung zweier verlorener Seelen voller Schmerz, Gewalt - und viel Sex. Diese expliziten Szenen störten mich bestenfalls oder stießen mich schlechtestenfalls regelrecht ab. Dennoch passen sie ins Gesamtkonzept von "Blinder Spiegel".

Wenn Salih Jamal in der zweiten Hälfte des Buches sogar eigene Gedichte in den Roman einbaut, die die Zerbrechlichkeit Luis einfangen und im nächsten Absatz von einer "schmerzenden Morgenlatte" schreibt und sich Lui vorstellen lässt, wie er Elles Ehemann "mit meinem Wasserwerfer anpisste", dann erinnert das in seiner Mischung aus Obszönität und Schönheit ein wenig an Allen Ginsberg und die Beat Generation. Und es zeigt, dass es dem Autoren nicht darauf ankommt, allen Leser:innen gefallen zu wollen, was bei dieser Thematik wohl auch nicht möglich ist.

Wegen der Drastik der Sexszenen und der dazugehörigen Gewalt konnte mich "Blinder Spiegel" im Vergleich zu "Das perfekte Grau" nicht gleichermaßen abholen, da ich beim Vorgänger einfach eine größere Wärme gespürt habe, die mich emotional stärker in die Handlung eintauchen ließ. Dennoch beweist Salih Jamal auch mit seinem neuen Werk, dass er zu den wohl aufregendsten und kompromisslosesten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört.

Bewertung vom 19.02.2022
In die Arme der Flut
Donovan, Gerard

In die Arme der Flut


gut

Als Luke Roy kurz vor seinem 37. Geburtstag die hohe Brücke über dem Fluss bei Ross Point im US-Bundesstaat Maine betritt, steht für ihn fest: Er wird an diesem Tag Ende Oktober seinem Leben ein Ende setzen. Doch während ein immer dichter werdender Nebel die Brücke einhüllt, hört er plötzlich Schreie. Nach einem Bootsunfall treibt der 15-jährige Paul unaufhaltsam Richtung Meer. Kurzerhand springt Luke 35 Meter tief ins Wasser und rettet den Jungen. Wie geht ein Mensch, der mit seinem Leben eigentlich abgeschlossen hatte, damit um, plötzlich von den Menschen und den Medien als Held gefeiert zu werden, obwohl er dies nicht will? Und wie schnell können Stimmungen in den sozialen Medien eigentlich kippen? Darüber schreibt Gerard Donovan in seinem neuen Roman "In die Arme der Flut".

Während der deutsche Titel des Romans grammatikalisch auf den ersten Blick etwas sperrig wirkt, drückt der englisch-sprachige Originaltitel "The Dead Lit Faintly" die morbide Todessehnsucht, die das Buch ausstrahlt, deutlich stärker aus. Man kann Gerard Donovan darin sicherlich einiges vorwerfen, aber nicht, dass er sich groß um literarische Konventionen scheren würde. Denn einige Leser:innen dürften schon innerhalb der ersten 70 Seiten Reißaus nehmen. In fast quälend langsamem Erzähltempo begleiten wir Luke bei seinem missglückten Suizidversuch, und fast glaubt man, sich in einer Oper zu wähnen, in der der Tod des Schurken oder der Helden auch häufig bis zur letzten Sekunde ausgekostet wird. Dennoch strahlt der Roman in dieser Phase eine recht hohe Intensität aus. Der Nebel wabert, Luke sinniert über Nahtoderfahrungen in seiner Jugend, der Fluss rauscht, die Landschaft Maines zieht an den Augen der Leser:innen vorbei.

Mit Einsetzen der Rettungsaktion nimmt das Erzähltempo plötzlich dramatisch zu und entwickelt sich in der Folge sehr überraschend zu einer völlig überspitzten Medien- und Gesellschaftsgroteske. Luke wird zum Helden wider Willen, kurz darauf zum Antihelden und Verfolgten. Donovan lässt einen Bürgermeister namens Donald unter der wenig subtilen Bezeichnung "der wahre Bürgermeister" lostwittern und verübt mit dem Holzhammer Kritik an den sozialen Medien, der Gesellschaft und der Politik. "Und gab es nicht mal bei Twitter einen Real Donald mit orangem Haar?", mögen spätestens jetzt einige Leser:innen denken.

In dieser Phase erinnert "In die Arme der Flut" sehr stark an den 2016 erschienenen Roman "Vor dem Fall" von Noah Hawley, in dem ein Mann nach einem Flugzeugabsturz einen kleinen Jungen rettete und von den Medien zu einem Helden hochstilisiert wurde, bevor sich auch dort das Meinungsbild drehte. Doch während bei Hawley die Spannung im Vordergrund stand, setzt Donovan eher auf eine Generalkritik und vermischt diese immer wieder mit zarten und schönen Sätzen: "Am östlichen Horizont kann er sehen, wie ein Fingerabdruck aus Licht die Sterne berührt", heißt es dort oder auch "Für Geschöpfe, die die Sonne nicht ertragen können, bietet die Nacht diesen Planeten an."

Diese wunderbaren Momente zeigen, welch großartiger Roman "In die Arme der Flut" hätte werden können, denn Gerard Donovan beweist mehr als einmal, dass er sein Fach beherrscht und die richtigen Töne treffen kann. Auch sein Mut ist ihm hoch anzurechnen. Da verschwindet völlig überraschend plötzlich eine recht zentrale Figur, und der vielleicht interessanteste Charakter des Buches wird erst im letzten Viertel eingeführt.

Dennoch überwog bei mir das Gefühl einer Unausgegorenheit. Zwischenzeitlich wähnte ich mich in einem neuen Roman, so wenig passte für mich die Mischung aus tieftraurigem Drama und schriller Satire. Und wenn der Autor gegen Ende des Buches völlig unvermittelt und langatmig den live auf Facebook übertragenen Suizid eines Kindes unkommentiert darstellt und diesen mit einer "Rattenfänger von Hameln"-Parabel gleichsetzt, waren für mich die Grenzen des guten Geschmacks in Verbindung mit dem Zynismus des Autors gegenüber seinen Figuren überschritten.

Schade,

Bewertung vom 11.02.2022
Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist
Loschütz, Gert

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist


ausgezeichnet

Als seine Mutter den zehnjährigen Karsten im märkischen Plothow nachts aus dem Bett holt, um mit ihm einen letzten Spaziergang durch die Heimatstadt zu machen, sagt sie ihm: "Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst." Am nächsten Morgen werden die beiden die DDR in Richtung Westen verlassen und dem Jungen wird eingeimpft: "Sieh dich nicht um", um erst gar keine Verdachtsmomente an eine Flucht aufkommen zu lassen. Doch wie geht ein Junge damit um, der von einem auf den nächsten Tag seine Heimat verliert und dem dieser Satz wie ein Damoklesschwert ein Leben lang über dem Haupt schwebt? Davon erzählt Gert Loschütz in seiner "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist".

Der Roman wurde 1990 bereits unter dem Namen "Flucht" veröffentlicht, und offenbar im Zuge des Erfolgs des letztjährigen Loschütz-Romans "Besichtigung eines Unglücks" hat sich der Verlag Schöffling & Co. dazu entschlossen, dieses über 30 Jahre alte Werk des Autors erneut zu veröffentlichen. Es ist eine kluge und nachvollziehbare Entscheidung, denn dieses zeitlose Kunstwerk dürfte damit viel mehr Leser:innen erreichen, an denen es ansonsten wohl vorbeigegangen wäre. Wären da nicht die zahlreichen "ß", die sich wegen der alten Rechtschreibung im Text befinden, könnte man meinen, Loschütz hätte nur besonders schnell einen Nachfolger veröffentlicht, denn nichts an der "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" wirkt veraltet oder inaktuell.

Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie 2020. Täglich endet für zahlreiche Minderjährige die Kindheit. Nicht immer durch die Flucht selbst, dennoch trägt diese Entwurzelung erheblich dazu bei. So auch damals bei Karsten Leiser, mittlerweile Reisejournalist, der sich Ende der 1980er-Jahre dem Dogma der Mutter widersetzt - und eben doch zurückblickt auf seine Kindheit und auf den besonderen Tag im Mai des Jahres 1957, an dem diese ein abruptes Ende nahm. Denn der "Tag, der nicht vorüber ist" verfolgt den Ich-Erzähler Karsten auf Schritt und Tritt. Nur ein Jahr nach der Flucht stirbt die Mutter nach langer Krankheit just an diesem Tag, und auch weniger bedeutsame Ereignisse und kleinere Unglücke ziehen sich in den kommenden Jahren wie ein roter Faden durch Karstens Leben.

Der Erzählton, den Gert Loschütz wählt, ist voller Melancholie, voller sinnlicher Intensität. In sprunghaften kleinen Szenen wechseln die Jahre und die Schauplätze von den 80er- in die 50er-Jahre und wieder zurück, von dem fiktiven Plothow ins fiktive Wildenburg in Hessen, von Irland nach Italien. Auch wenn sich die im Titel angedeutete "Ballade" als literarische Gattung nicht halten lässt, hat das dennoch etwas von Strophen, die im Verlaufe des Romans etwas länger werden. Man spürt die autobiografischen Bezüge, die Verbindungen zwischen Karstens Familie und Loschütz' Flucht von Genthin nach Dillenburg eben im Jahr 1957.

Karsten selbst entpuppt sich als unzuverlässiger Erzähler, der aber zu seinen Lügen steht und diese manchmal sogar als solche kennzeichnet. Für die Leser:innen entwickelt sich dadurch ein Spiel mit der Realität, wobei die Handlungen gern auch einmal ins Surreale abdriften. Wenn Karsten beispielsweise seinen Fluchtkoffer nach über 25 Jahren endlich wegwerfen will und dieser doch immer wieder zu ihm zurückkehrt. Oder wenn er seinen Intimfeind aus der Kinderzeit, einen Jungen namens Burckhardt, urplötzlich überall wiedertrifft und dieser vermeintlich sogar einen Anschlag auf Karsten plant. Besonders ans Herz gehen dabei die Kindheits-Episoden. So erledigt Karsten beispielsweise noch die Hausaufgaben, obwohl er seine Schule niemals wiedersehen wird. Oder er berührt eine besondere Mauerstelle an seinem Hauseingang nicht, weil seine Mutter diese als letztes vor der Verlegung ins Krankenhaus berührte.

All das untermalt Loschütz mit Erinnerungen, Farben und Gerüchen, mit einer sehr besonderen, überwiegend traurigen Tonalität, die ich schon in "Besichtigung eines Unglücks" so geschätzt habe. Vielleicht is

Bewertung vom 04.02.2022
Wir sind das Licht
Blees, Gerda

Wir sind das Licht


ausgezeichnet

Drei Frauen und ein Mann leben in einer nicht näher bezeichneten niederländischen Stadt in der Wohngruppe "Klang und Liebe" zusammen. Doch das Ziel, sich vornehmlich von Licht zu ernähren, geht fürchterlich schief: Elisabeth stirbt völlig unterernährt. Als der herbeigerufene Notarzt einen unnatürlichen Tod feststellt, geraten die drei anderen Bewohner:innen ins Visier polizeilicher Ermittlungen. Wie konnte es zu einer solchen Radikalisierung kommen und wieso konnte niemand Elisabeths Tod verhindern? Darüber schreibt Gerda Blees in ihrem Debütroman "Wir sind das Licht".

Es ist ein bemerkenswert innovativer Roman geworden, der vor allem aufgrund der Erzählperspektive aus dem Rest der zeitgenössischen Literatur heraussticht. Denn Gerda Blees traut sich unheimlich viel - und das in einem Erstling. In den 25 Kapiteln gibt es sage und schreibe 25 verschiedene Erzähler:innen, die die Leser:innen mit einem umarmenden "Wir" im jeweils ersten Satz sofort für sich einnehmen. Dabei macht die Autorin auch vor unbelebten Gegenständen oder Abstrakta keinen Halt. "Wir sind die Nacht", heißt es gleich zu Beginn, "wir sind ein Cello" an einer anderen Stelle. Manchmal geraten sie sich sogar in die nicht vorhandenen Haare, wenn man bei "Klang und Liebe" völlig anderer Auffassung über die Bewohner:innen ist - und sich trotzdem arrangieren muss.

Nichts ist erwartbar in diesem Buch, alles ist neu, alles ist aufregend. Stück für Stück sorgt die Multiperspektivität dafür, das Puzzle um die Wohngruppe zusammenzusetzen. Während der Inhalt eher langsam voranschreitet, ist dennoch für eine anhaltende Spannung gesorgt. Denn ich fragte mich immer, welche der Stimmen sich als Nächstes zu Wort meldet.

Besonders gelungen ist dies, wenn sich auch die Form des Textes dem Inhalt anpasst. Wenn die Nacht kurz vor ihrem Ende steht und schon der Morgen graut, muss das Geschehen eben mal in einer Seite ohne Punkt und Komma heruntergerattert werden. Wenn die Demenz eingreift, verschwimmen nicht nur die Inhalte des Erzählten, sondern der Text selbst verliert seine Form. Das ist genial und bewegend, und ich fühlte mich wohl noch nie den Gedankengängen einer/s Demenzkranken so nahe. Wenn dann noch die Erzählung selbst eingreift und sich über die Ideenlosigkeit ihrer eigenen Autorin beklagt, sollten auch die Letzten bemerken, in welch klugem literarischen Meisterwerk wir uns bewegen.

Dabei störte es mich nicht einmal, dass ich zu keiner der Figuren irgendeine Art von Bindung aufbauen konnte, was sonst für mich viel zur Qualität eines Romans beiträgt. Vielmehr gab ich mich uneingeschränkt diesem erzählerischen Rausch hin und konnte letztlich nur staunend konstatieren: "Wir sind die Literatur".

Bewertung vom 01.02.2022
Damenbart
Pines, Sarah

Damenbart


gut

Sie heißen Martha, Maryweather, Marlena oder Mena und es ist nicht nur derselbe Anfangsbuchstabe, der sie eint. Denn sie alle sind mittelalte bis ältere, einsame Frauen, die sowohl mit sich selbst als auch ihrem Leben nicht im Reinen zu sein scheinen. Von all diesen Frauen - und anderen verlorenen Seelen - berichtet Sarah Pines in ihrem Geschichtenband "Damenbart".

"Damenbart" ist das literarische Debüt der gebürtigen Sauerländerin und freien Journalistin, die in New York City lebt. Ihre Kurzgeschichten sind auch deshalb stark amerikanisch geprägt, ein nicht kleiner Anteil spielt in den Vereinigten Staaten. Pines setzt darin auf eine gehörige Prise Poesie und vermischt sie mit einem lakonischen, manchmal etwas spöttischen Humor zu einer bunten Mischung, die aber nur teilweise mundet.

Zunächst einmal ist der Mut der Autorin und des Verlags Schöffling & Co. zu loben, denn es gehört schon etwas dazu, mit Kurzgeschichten zu debütieren. Das oftmals zu Unrecht unterschätzte literarische Genre ist sicherlich nicht der einfachste Weg, in der Literaturszene Fuß zu fassen. Dass Sarah Pines ihr Handwerk versteht, wird dabei sehr schnell deutlich. Ganz wunderbar spielt sie mit der Sprache, setzt in ihrer Poesie auf viele Farben, Gerüche und Geräusche. "In der Ferne verschleierte Nebel die Unendlichkeit des irgendwann nahenden Sommers", heißt es zum Beispiel in "Eisvogel", und wer sich jetzt nach Kalifornien träumt, dem sei gesagt, dass diese Geschichte in Westfalen spielt. Doch diese Schönheit wird oftmals von Hoffnungslosigkeit überlagert. "Frédérique reiste in die Hässlichkeit", heißt es eindrucksvoll in derselben Erzählung - und damit ist nicht unbedingt Westfalen gemeint. Doch nicht alle Metaphern erreichen die gleiche hohe Intensität. In "Eierschalenrot" vergisst sich jemand "im klaren Würfelwurf holunderfarbener Stille", was zwar schön klingt, aber etwas bemüht poetisch wirkt.

Doch während die Sprache mich größtenteils überzeugte, waren es eher die Figurenkonstellation und der dazugehörige Inhalt, die mich seltsam kalt ließen. Ich hatte das Gefühl, dass die Autorin sich bei ihren Figuren sowohl innerlich als auch äußerlich auf die hässlichen Dinge und Eigenschaften fokussierte. Mit leichtem Spott und nur wenig Empathie begegnet sie diesen Frauen, die doch eigentlich nur gefallen wollen. Doch weder mochte ich die Protagonistinnen verspotten, noch stellte sich eine emotionale Bindung zu ihnen ein.

Hinzu kommt, dass es in 13 der 17 Erzählungen vornehmlich um dysfunktionale Beziehungen, gescheiterte Ehen und unglückliche Affären geht, in denen auch der Sex oftmals recht explizit im Vordergrund steht. Doch während bei Dr. Sommer noch die Zärtlichkeit einen großen Raum einnahm, könnte man die Thematik dieses Bandes etwas salopp eher mit "Liebe, Sex und Einsamkeit" überschreiben, denn oftmals wollen diese Frauen ihrer Einsamkeit eben durch ihre Sexualität entfliehen - was natürlich nicht gelingt.

Am gelungensten ist "Damenbart" ausgerechnet in den Momenten, in denen die Autorin aus diesem Schema ausbricht. In "Wintersonne" erleben wir die Sehnsucht eines alten Mannes, der sich mit dem Kauf von Orangen in seine Jugend zurückträumt, doch dessen körperlicher und geistiger Verfall längst nicht mehr gestoppt werden kann - tieftraurig und bewegend. Und in der wohl stärksten Geschichte des Buches "Schweiß" finden sich die Leser:innen in einem nordfranzösischen Dorf wieder, dessen bedrohliche Sommerschwüle zu einer Jungfrauen-Sichtung mit anschließenden Todesfällen führt. Mit einem verdächtigen Eismann, toten Tauben, einer merkwürdigen Schlossherrin und einer verlassenen Ruine streift Sarah Pines hier die Genregrenzen und erinnert an eine kunstvolle Mischung aus Stephen King und Schneewittchen.

Mit "Damenbart" ist Sarah Pines ein sprachlich feines und ambitioniertes Debüt gelungen, welches das Potenzial der Autorin andeutet, aber noch nicht voll erreicht. Lesenswert ist es aber allemal.