Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 30.03.2020
Die Geschichte der Gefühle
Boddice, Rob

Die Geschichte der Gefühle


ausgezeichnet

Gefühle im Kontext ihrer Zeit
Wenn die Gefühle eines Menschen oder einer Gruppierung sichtbar werden, durch sprachliche oder körperliche Reaktionen, erscheint es leicht, diese zu deuten und zu verstehen. Die spontane Bewertung von Gefühlsregungen anderer erfolgt jedoch oft auf Basis des eigenen Erfahrungsschatzes, führt somit den Betrachter unter Umständen in die Irre. Maßgeblich für die Auseinandersetzung mit den Gefühlen in der Historie ist für Rob Boddice (S. 75) daher, „[…], das affektive Erleben in der Quelle zu rekonstruieren, ohne eine heutige Perspektive einzunehmen.“

Nachdem er zunächst sehr genau seine Methodik und Vorgehensweise in diesem Buch, wie auch seine Zielsetzung erklärt, reist der Leser mit Rob Boddice episodenartig durch die Jahrhunderte und begegnet den Gefühlen darin, beginnend mit der menis des Archills bis hin zu den Emojis unserer Zeit. Besonders gefallen haben mir dabei die Episoden über die angeführten Frauen wie z. B. Hildegard von Bingen und Mary Wollstonecraft, zudem die Theorien von René Descartes zur Bewegung der Seele und die Betrachtungen zu William Hogarths „Die vier Stufen der Grausamkeit“. Einerseits hat mich die fortschrittliche Denke einiger Protagonisten fasziniert, andererseits aber auch so manche zu jener Zeit natürliche Einstellung erstaunt bzw. ins Grübeln gebracht.

Im Ergebnis hat die Geschichte der Gefühle mein gedankliches Zentrum für Toleranz angetriggert, nicht nur im historischen, sondern auch im interkulturellen Kontext. Mein Bewusstsein für den Background der gefühlsäußernden Personen wurde deutlich nachgeschärft.

Durch die wissenschaftliche Herangehensweise, die den Leser immer wieder an die Zielsetzung und Methodik der Arbeit erinnert, erscheint die in meinen Augen gelungene Auseinandersetzung mit den historischen Gefühlswelten für den fachfremden, aber interessierten Leser zeitweise, genau genommen in den jeweils einleitenden Kapiteln, etwas sperrig. Insgesamt war es für mich dennoch ein erhellendes Lesevergnügen, das ich gern weiterempfehle.

Bewertung vom 30.03.2020
Die Schule am Meer
Lüpkes, Sandra

Die Schule am Meer


ausgezeichnet

Aufregende Zeit entspannt erzählt
Der Roman von Sandra Lüpkes erzählt oberflächlich betrachtet den gesamten Lebenszyklus eines Internats auf Juist. Er startet kurz nach der Gründung des Internats als nacheinander die jüdische Lehrerin Anni Reiner und der Pianist und Dirigent Eduard Zuckmayer, späterer Musiklehrer, auf der Insel ankommen. Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehrmethoden und den Ritualen an der Schule, die ihre praktischen Lerninhalte im Einklang mit der Natur und im gleichberechtigten Miteinander von Schülern und Lehrern vermittelt.

Die Geschichte auf das Schulkonzept zu reduzieren, würde jedoch das, was den Roman ausmacht, unterschlagen. „Die Schule am Meer“ berichtet über Sorgen und Nöte von Männern und Frauen, thematisiert die Ängste der Kinder, befasst sich mit der entbehrungsreichen Zeit nach dem Großen Krieg und erklärt im Erzählen die Beweggründe für manche Missetat. Sandra Lüpkes vermittelt mit ihrem Bericht über Jungenstreiche, Mutproben und Freundschaft einen Gesamteindruck zum Lebensgefühl der Menschen in der Weimarer Republik. Zugleich beleuchtet sie den schleichenden, zunächst noch recht stillen Aufstieg der Nationalsozialisten.

Betrachtet man die Figuren, so haben es mir die beiden schon erwähnten Lehrer und der Schüler Maximilian am meisten angetan. Anni Reiner ist mir besonders nah. Sie hinterfragt immer wieder ihr gemeinsames, aber auch ihr eigenes Handeln. Nur so ist Weiterentwicklung möglich. Anni ist stets engagiert und auch wenn ihr das Leben mächtig übel zuspielt, lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Mit Mut und Cleverness behält sie stets das Ziel im Auge. Den von ihr verkörperten Emanzipationsgrad im Zusammenhang mit dem zeitlichen Hintergrund fand ich einfach nur faszinierend.

Eduard Zuckmayer zeichnet sich durch ein überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen aus. Ob dies aus seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg resultiert oder in seiner Verbundenheit zur Musik begründet ist, lässt sich nicht abschließend feststellen. Seine Entwicklung vom Kriegsversehrten hin zum Vorbild für seine Schüler, das auch in der Lehrerschaft Hochachtung genießt, habe ich ebenso gemocht, wie seine stille Liebe.

Maximilian, Moskito genannt, war für mich der Abenteurer schlechthin in diesem Roman. Obwohl er als typischer Underdog an der Schule am Meer beginnt, findet er schnell Anschluss und wächst nach und nach über sich hinaus. Dabei vergisst er nie, wo er herkommt und wem er was zu verdanken hat. Sein Gemeinschaftssinn und sein unnachgiebiger Einsatz für andere verkörpern wohl am besten die pädagogische Ausrichtung der Schule.

Ich habe „Die Schule am Meer“ sehr gern gelesen. Beginnend ab 1925 habe ich dabei ein ganzes Jahrzehnt bereist und einen Querschnitt der Gesellschaft durch die verschiedenen Charaktere kennengelernt. Freud und Leid sind genauso mit von der Partie gewesen wie Abenteuer und Liebe. Dabei ist der Roman zu keinem Zeitpunkt ins Schnulzige abgedriftet. Sehr zuvorkommend habe ich auch den angenehm flott lesbaren Schreibstil empfunden. Die recht langen Kapitel, die ich normalerweise nicht so mag, fielen dadurch nicht weiter ins Gewicht. Witzig fand ich die Wahl der Kapitelüberschriften.

Bewertung vom 17.03.2020
Milchmann
Burns, Anna

Milchmann


ausgezeichnet

Zeitenwende
Die Fragestellung, „Wo ist da der Sinn? Was hat das für einen Zweck?“, taucht nicht nur im Roman mehrfach auf, sie begleitet den kopfschüttelnden Leser über weite Strecken, weil man einfach nicht glauben mag, dass es je eine dermaßen krude Gesellschaft gegeben hat. Wir blicken auf die Geschehnisse mit unseren heutigen Erfahrungswerten, können es nur schwerlich glauben. Die Geschichte um den „Milchmann“ ist eingebettet in den Nordirland-Konflikt der Siebziger Jahre.

Um nicht zu spoilern, hebe ich nachfolgend die Besonderheiten des Romans, die mich am meisten begeistert haben, hervor, ohne dabei auf die Handlung an sich einzugehen. Einen gelungenen Überblick dazu liefert bereits der Klappentext.

Ganz ungewöhnlich ist die Namenlosigkeit des Romans. Kaum eine Figur wird beim Namen genannt. Die Unterscheidung der Charaktere gelingt Anna Burns über den Beziehungsstatus, den diese zur Protagonistin bzw. zur Gesellschaft haben. Was mir anfänglich den Kopf zermartert hatte, kam mir nach der Gewöhnungsphase sogar entgegen. Für mich war es erstaunlich, wie gut ich mir die Figuren vorstellen und auseinander halten konnte. Mir kam es vor, als ließen sich durch die Namenlosigkeit viel besser Eigenschaften an die Charaktere anheften.

Über weite Passagen hatte ich das Gefühl, ich würde eine Dystopie lesen, obwohl der Roman einen Ausschnitt der Siebziger Jahre im Nordirland-Konflikt abbildet. Möglicherweise haben mich die überspitzten Ausführungen der Autorin und die Penetranz an Aufzählungen und Wiederholungen in diesen Irrgarten getrieben. Bemerkenswert dabei war allerdings, dass mir genau das Dystopische, dieses theoretisch Mögliche, aber praktisch heutzutage in Mitteleuropa nicht Vorstellbare maximal gut gefallen hat. Es lässt nämlich die Geschichte um den Milchmann übertragbar erscheinen, portierbar in das Hier und Jetzt oder in die nahe Zukunft.

Besonders beeindruckt war ich letztlich von der Gedankenwelt der Protagonistin, die im Roman als Ich-Erzählerin ausgeprägt ist. Durch die Erzählperspektive wurde ich ganz nah an die Hauptfigur herangeführt, so dass ich bereit war, in ihren Gedankenkarussellen mitzufahren. Ihre Überforderung durch die Ereignisse, ihre Enttäuschung gegenüber der Gesellschaft, ihre Angst und ihr drohender Komplettabsturz sind allgegenwärtig und hautnah spürbar. Die rasenden Gedanken kommen so realistisch rüber, dass ich beim Lesen in die Rolle der Erzählerin geschlüpft bin und mich gefühlsmäßig in ihrer Situation wiederfand. Ich war aufgeregt, wütend, zum Teil klopfte mir das Herz bis zum Hals.

Insgesamt ist „Milchmann“ ein fordernder, weil so ungewöhnlicher Roman. Man muss sich drauf einlassen. Belohnt wird der Leser mit einer Spannung, die sich bis zum Wendepunkt in der Geschichte unermesslich steigert. Der Roman ist alles andere, aber kein Mainstream. Ich fand ihn hervorragend.

Bewertung vom 02.03.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


ausgezeichnet

Niemals vergessen

Eine vom Leben gebeutelte alte Dame hilft dem jungen Vater Alexander nach einem Schicksalsschlag zurück ins Leben zu finden, indem sie ihm von ihrem eigenen schweren, teils grauenhaften Lebensweg berichtet. Mit der Erkenntnis nicht allein von Schrecken gepeinigt zu sein, erscheint die eigene Situation für Alexander in einem neuen Licht. Er bricht die Ketten seiner Gewissensgefangenschaft, erkennt neue Möglichkeiten für sich. Sehr treffend zusammengefasst wird die Erkenntnis bereits auf Seite 9: „Das Glück hat immer eine Vergangenheit, ..., und jeder Kummer hat eine Zukunft.“

Von den beiden Charakteren mochte ich Tatjana, die alte Dame, am meisten. Ihre durchgehend aufdringliche Art, die ich typisch für ihre Altersgruppe empfinde, mit einem Augenzwinkern auch irgendwie sympathisch, verschwindet in meiner Wahrnehmung nach und nach in den Hintergrund. Sie versteht es, nicht nur den Leser sondern ebenso Alexander mit ihrer Geschichte für sich zu gewinnen. Die anfängliche Ablehnung seinerseits schwindet, wird von einem tiefen Respekt ersetzt. Für mich war Tatjana‘s unerschütterliche Wille zu leben, aller Pein zum Trotz, das Bewundernswerteste.

Alexander hatte ich fast genauso gern, ich fand seinen Charakter nur nicht ganz so stark. Seine Entwicklung hat mir gefallen, insbesondere hinsichtlich des Respekts vor dem Alter. Die anfängliche Ablehnung, sich überhaupt auf ein Gespräch mit Tatjana einzulassen, wich einem aktiven Zuhören, das durch gezielte Nachfragen und von Alexander initiierten, weiteren Treffen gekennzeichnet war. Interessant fand ich darüber hinaus den Wechsel seiner Perspektive zum eigenen Schicksal.

Über die Geschichte zwischen Tatjana und Alexander, die sich zunächst etwas holprig anbahnt, transportiert Sasha Filipenko die Geschehnisse des russischen 20. Jahrhunderts. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem stalinistischen Regime mit seinen abscheulichen Verbrechen, die auf einer mangelnden Wertschätzung des einzelnen menschlichen Lebens beruhen. Die Erzählung reicht jedoch bis ins heute hinein, wo sich nicht nur die Alzheimer-kranke Tatjana, sondern auch die Gesellschaft dem Vergessen ergibt. In diesem Sinne richtet sich Roman gezielt gegen das Vergessen.

Sasha Filipenko bindet in seinem Roman gekonnt von Metaphern geflutete Gedichte und historische Originaldokumente als Zeitzeugen mit ein, was den Leser einerseits in seinem Fluss etwas ausbremst, was ihn durch das Innehalten andererseits zum Nachsinnen über das Gelesene anregt. Diese Technik kam mir persönlich sehr entgegen, um das Grauen des Stalin-Terrors besser verarbeiten zu können. Zudem haben diese Zusatzinformationen maximale Glaubwürdigkeit transportiert. Fast schon sensationell ist zurückblickend betrachtet, die Wahl des mehr als treffenden Romantitels.

Insgesamt bin ich begeistert von „Rote Kreuze“ und kann nicht anders, als die Lektüre wärmstens zu empfehlen.

Bewertung vom 26.02.2020
Nach Mattias
Zantingh, Peter

Nach Mattias


ausgezeichnet

Bröckchen der Erinnerung
Peter Zantingh berichtet über das Leben von Mattias, indem er kurze Geschichten über Menschen aus seinem Umfeld schreibt. Sie besitzen unterschiedlichste Erinnerungen an ihn. Dabei spiegelt jeder Charakter einen kleinen Ausschnitt unserer Gesellschaft wider. Es gibt beispielsweise die Rollen von Mutter und Vater, des Soldaten, des Migranten. Unter ihnen sind Gehetzte und Antriebslose, Alkoholiker, Sportler und Gamer.

Erstaunlich war, dass mich die Schicksale der direkten Angehörigen weniger berührt haben als das Leben des weiteren Umfelds. Amber, die Freundin, und auch die Eltern erschienen mir zudem weniger sympathisch. Gemocht habe ich neben dem ungewöhnlichen Laufpärchen, Quentin und Chris, den Alkoholiker Nathan.

Durch Quentin und Chris wurde sehr schön das zunehmende Einbrechen der Fähigkeiten richtig zuzuhören und sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen transportiert. Mit einem kleinen Schmunzeln hatte ich sofort gedacht, das wird nichts mit den Beiden. Trotzdem konnten sie für eine Weile „befreundet“ sein bzw. eine Zweckgemeinschaft eingehen. Als einer von beiden etwas zu aufdringlich wird, zu tief ins Private eindringen will, mehr Information fordert, droht das Ganze wieder zu zerbrechen. Gemeinsame Aktivitäten können zwar der Beginn einer Freundschaft sein, müssen jedoch nicht zwingend darin münden.

Nathan mochte ich nicht wegen seines ausufernden Alkoholkonsums, dennoch war er mir sehr nahe. Ich empfand starke Sympathie für ihn. Vermutlich verbindet uns das Widerstreben an einer Weiterbildung teilzunehmen, die einen nicht voranbringt, sondern nur alten Wein in neuen Schläuchen präsentiert, trotzdem so tut, als wären die Inhalte neueste Ergebnisse der Forschung. Unternehmensfremde, die vielleicht noch nie in diesem Job tätig waren, maßen sich an, Nathan zu erklären, wie er seine Aufgabe zu erledigen hat.

Generell scheint es heutzutage so zu sein, dass Jeder zu Allem immer noch einen Kommentar abgeben muss, ungefragt und oft unpassend. Das zwanghafte Präsentieren der eigenen Person mit den alltäglichen Nichtigkeiten kennt keine Grenzen. Vor diesem Hintergrund präsentieren auf Mattias Beerdigung eine Reihe von Bekannten ihren schmalen Blickwinkel auf ihn. So bleibt aus der Perspektive seiner Mutter seine wahre Geschichte verborgen. Das hat mich irgendwie erschüttert, weil es den Trauerprozess der direkten Verwandten stört.

Das Beste an diesem Roman ist seine Vielschichtigkeit und seine Offenheit. Die Schicksale werden jeweils kurz angerissen. Es wird nur so viel erzählt, dass der Leser das Ganze selbst zu Ende denken kann. In der Interpretation ist der Leser dann maximal frei. Leben im Hier und Jetzt, das ist die Grundaussage, die ich aus diesem Roman ziehe. Denn schon morgen könnte es vorbei sein und dann bleibt möglicherweise nicht mehr viel. Ergänzt wird dieser sehr ansprechende Roman durch ein Interview mit dem Autor, das man nicht auslassen sollte, und eine Playlist mit Musik, die im Roman eine wichtige Rolle spielt. Die Playlist ist zudem online direkt zum Abspielen verfügbar. Auch diese Verbindung zwischen dem Lesen und „neuen Medien“ hat mir richtig gut gefallen.

Ganz klare Lese- und Hörempfehlung.

Bewertung vom 23.02.2020
Die Galerie am Potsdamer Platz / Die Galeristinnen-Saga Bd.1
Cedrino, Alexandra

Die Galerie am Potsdamer Platz / Die Galeristinnen-Saga Bd.1


gut

Gute Konstruktion, mäßig umgesetzt
„Die Galerie am Potsdamer Platz“ ist der erste Teil einer Trilogie, gleichzeitig der Debütroman von Alexandra Cedrino, die der bekannten Kunsthändlerfamilie Gurlitt entstammt. Beim Lesen lässt sich durchgehend die Herkunft der Autorin spüren, die Kunstszene der 30er Jahre erscheint sehr gut recherchiert und damit glaubwürdig.

Etwas schwächelnd empfinde ich die Geschichte um Alice Waldmann und ihre „neue“ Familie. Normalerweise fühle ich mich zu den Protagonisten hingezogen oder ich lehne sie vollständig ab, hier ist jedoch der Funke nicht richtig übergesprungen. Vermutlich liegt dies an den vielen losen Enden, die sich ergeben haben. Alles startet und endet irgendwie abrupt. Ein Beispiel ist Johanns Nachtclub, der nach der pseudomäßigen Razzia dermaßen in den Hintergrund rückt, dass man denkt, es gäbe ihn nicht mehr. In das Nachtleben selbst hätte man insgesamt auch tiefer eintauchen können. Dann hätte ich mir gewünscht, die lesbischen Beziehungen wären intensiver betrachtet worden. Zudem war ich etwas ratlos bezüglich der Verbindung zwischen Alice und ihrem Vater Lux. Nachdem Alice nach Berlin gereist war, gab es im Prinzip keinen Austausch mit ihrem Vater, dabei hätte sie doch seine Unterstützung, wenigstens aus der Ferne, im Rahmen der Konfrontationen mit der Großmutter gebraucht. Erst im Nachhinein erfährt der Leser, dass beide sich wohl Briefe geschrieben haben. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings schon Zweifel, ob Lux überhaupt der leibliche Vater ist.

Das Hauptthema des Romans, die Wiedereröffnung der Galerie, kommt mir ebenfalls zu spontan. Über die Leidenschaft, die Ludwig, Johann und Alice beim Pläne schmieden hatten, wird der Leser nur informiert. Besser wäre gewesen, ihn daran teilhaben zu lassen. Gut gelungen war dieses Beiwohnen-Lassen beim Sichten der Kunstwerke. So hätte ich mir den ganzen Roman gewünscht.

Begeistern konnte mich dagegen die fast wortlose Annäherung der Großmutter an Alice. Die Atmosphäre war aufregend und irgendwie zurückhaltend liebevoll zugleich. Die wenigen Worte und die Gesten sind von gegenseitigem Respekt geprägt. Es ist eine Art der Aussöhnung, bei der keine der beiden charakterstarken Frauen über den eigenen Schatten springen muss.

Insgesamt wirkt der Roman auf mich zu konstruiert. Ideen wurden gesammelt, auf einen roten Faden gefädelt und dann ausformuliert. Aus meiner Sicht wäre es besser gewesen, einzelne Ideen fallen zu lassen, sich dafür mit den verbleibenden intensiver auseinander zu setzen. Auch die Verbindungen zwischen den Personen und zwischen den verschiedenen Schritten der Haupthandlung hätten mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt.

Der Roman ist letztlich nicht schlecht, bleibt jedoch leider hinter seinen Potential zurück.

Bewertung vom 23.02.2020
Ei, Ei, Ei! Die Maus hilft aus
Pauli, Lorenz

Ei, Ei, Ei! Die Maus hilft aus


sehr gut

So lustig kann die Kita sein
Die Maus liegt auf der faulen Haut als die Amsel ihr auf der Suche nach einem saftigen Wurm in den Schwanz pickt. Voll im Brüte-Stress klagt die Amsel der Maus ihr Leid. Spontan übernimmt die Maus die Eier. Weil auch andere Vogelmamis einmal Zeit für sich benötigen, dauert es nicht lange bis eine richtige Vogel-Kita entsteht.

Die Texte sind auch für kleine Kinder gut zu verstehen und nicht zu lang. Vermutlich ist gerade deswegen die Geschichte interessant für sie. Mein Kind wollte zunächst lieber toben, anstatt sich eine Geschichte anzuhören. Ich las trotzdem. Mit jeder Seite rückte mein Kind dichter an mich heran, um alles mitzubekommen und nichts zu verpassen. Die Geschichte ist gerade so spannend, dass sie den Kindern keine Angst macht, gleichzeitig ihre Neugierde befriedigt.

Die Zeichnungen von Kathrin Schärer sind angenehm in natürlichen Farben gehalten. Alles wirkt, als wäre es mit viel Liebe und Hingabe mit Buntstiften gezeichnet worden. Die einzelnen Vogelarten sind realistisch abgebildet, lassen sich also in der Natur wieder erkennen. Es fehlt nicht an Niedlichkeit, wodurch sofort der Funke überspringt.

Insgesamt gibt es eine Menge zu entdecken. Somit wird es auch bei wiederholten Vorlesungen bestimmt nicht langweilig.

Bewertung vom 18.01.2020
Subliminal. Das Experiment
Rehm, Thorsten Oliver

Subliminal. Das Experiment


ausgezeichnet

Nachdem mir „Der Bornholm-Code“, das Debüt von Thorsten Oliver Rehm bereits sehr gut gefallen hat, war ich hoch erfreut als ich seinen aktuellen Wissenschaftsthriller „Subliminal. Das Experiment“ entdeckt hatte.

Thematisch geht es um die Verrohung unserer Gesellschaft induziert durch den Konsum von medialen Inhalten, was dem Genre angemessen, natürlich nicht von allein und rein zufällig passiert. Dafür entwirft Thorsten Oliver Rehm ein utopisches Szenario, wo die Schattenseiten der medialen Durchdringung unseres Lebens bereits auf dem Vormarsch sind und gravierende Auswirkungen entfalten. Geschickt verknüpft er sein Szenario mit Gewalttaten als „Zeichen der Zeit“, die uns tatsächlich in ähnlicher Form regelmäßig in den Medien begegnen. Dadurch wirkt das gesamte Geschehen extrem glaubwürdig, fast schon real, obwohl die unterschwellige Beeinflussung des Denkens in der Bevölkerung doch eigentlich nur Fiktion ist.

Als Fan von populärwissenschaftlicher Literatur konnte mich insbesondere die perfekte Integration des wissenschaftlichen Anteils in die Thriller-Handlung begeistern. Gemeinsam mit der Journalistin Natascha da Silva recherchiert der Leser zu den Hintergründen der exponentiellen Zunahme extremer Gewalttaten in jüngster Vergangenheit, trifft mit ihr auf diverse Typen von Wissenschaftlern, die sich in diesem Forschungsgebiet tummeln. Ganz nebenbei steigt man tief ein in diesen psychologische Themengebiet, lässt sich mitreißen.

Natascha selbst habe ich zu Beginn als übermäßig unzufrieden mit sich selbst und etwas nervig empfunden. Auch ihre Einstellung zur Verwertung unserer persönlichen Daten konnte ich nicht ganz teilen. Trotzdem kam sie mir im Laufe des Lesens ganz nah. Ich mochte ihre Entwicklung vom Underdog-Charakter, der langsam aus sich raus kommt, sich immer mehr zutraut und letztendlich im Sinne der Allgemeinheit über sich hinauswächst. Positiv für die Figur war darüber hinaus die Wiederbelebung lange Zeit schon verdrängter, vielleicht unterdrückter, aber dennoch vorhandener Fähigkeiten.

Meine Lieblingsfigur, Gideon Frøseth, strahlt so richtig schön vollendete Weisheit aus. Professor Frøseth kennt sein Forschungsgebiet und die verschiedenen Charaktere darin. Er weiß um die Grenzen seiner Forschung wie auch um die möglichen Gefahren. Sein Charakter ist durch Offenheit und Ehrlichkeit gekennzeichnet. Obwohl Gideon Frøseth als Forscher nicht im Rampenlicht steht, scheint Neid ihm fremd zu sein. Er hat es gar nicht nötig, ganz vorn mitzumischen. So erklärt sich auch seine Besonnenheit und die Ruhe, die er ausstrahlt.

Frank Steebe kannte ich schon aus Bornholm-Code. Es war mir eine Freude ihn hier in einer wichtigen Nebenrolle erneut zu treffen. Seine neugierige Ader, seine Begeisterungsfähigkeit für die Wissenschaft und sein Drang, auch mal gegen den Strom zu schwimmen, haben ihn mir wieder sympathisch gemacht.

Neben diesen tollen Charakteren und der perfekten Verbindung von Handlung und wissenschaftlichem Background gibt es jede Menge Spannung. Als Leser kann man sich verschwörungstheoretisch so richtig schön reinsteigern in diesen Thriller, das Ausmaß hat man ein bisschen selbst in der Hand. Gelungen sind zudem die Szenenwechsel, die einen Cliffhanger nach dem anderen erzeugen. Man wird regelrecht gezwungen, weiter zu lesen und kann Subliminal nicht aus der Hand legen. Ich bin begeistert und hoffe auf einen weiteren Thriller von Thorsten Oliver Rehm.

Bewertung vom 02.12.2019
Das Geheimnis von Shadowbrook
Fletcher, Susan

Das Geheimnis von Shadowbrook


gut

Tolle Atmosphäre mit ein paar Längen
Bevor ich meine Bewertung des Romans präsentiere, möchte ich ein paar Worte über dieses wunderschöne und perfekt zum Roman passende Cover verlieren. Das Buch ist überwuchert von Blumenranken, deren Schönheit charakteristisch für die Gärten von Shadowbrook, dem Anwesen in Gloucestershire sind, zu dem Clara Waterfield, unsere Pflanzen liebende Protagonistin gerufen wird, um ein Gewächshaus mit exotischen Pflanzen auszustatten. Wenn man nicht wüsste, dass es sich um einen Papierumschlag handelt, könnte man von Weitem meinen, es handele sich um einen geblümten Leineneinband, herrlich. Geziert wird das Ganze von einem großen, goldenen, geschwungenen S, welches den Titel des Romans in sich trägt. Diese Parallele zu den Briefen und Nachrichten von Mr Fox, Clara’s Auftraggeber, hat mir sehr gut gefallen. Sie rundet den perfekten optischen Gesamteindruck des Romans ab.

Clara Waterfield führte bis zum Tod ihrer Mutter ein sehr einsames Leben ohne echte Kontakte zur Außenwelt. Diese nachvollziehbare, aber aus meiner Sicht übertriebene Vorsichtsmaßnahme sollte die Auswirkungen der schweren Glasknochenkrankheit im Rahmen halten. So fährt Clara erst als Erwachsene zum ersten Mal Bus und lernt sehr spät all die Dinge, die sie aus Büchern kennt, wahrlich zu begreifen. Ihre botanische Begabung führt sie über Kew Gardens in London nach Shadowbrook zu Mr Fox. Dabei wird Clara immer wieder von den mysteriösen Vorkommnissen auf Shadowbrook herausgefordert.

Zu Beginn des Romans war mir Clara viel zu weinerlich, zu jammerhaft, zu pessimistisch und trübselig. Obwohl ich Verständnis für ihr schweres Schicksal hatte, erschien sie mir unsympathisch, sehr Ich-bezogen. Erst als sie durch Besuche von Kew Gardens eine Aufgabe findet, fing ich an sie zu mögen. Es war, als wäre ihr Leben erstmals mit Lebensinhalt gefüllt. Als sie dann in Gloucestershire ankommt, um sich dem Gewächshausprojekt zu widmen, und sich ganz allein mit den Blicken und herablassenden Kommentaren der Dorfbewohner auseinandersetzen muss, kam ich ihr so nahe wie ich es gern mit den Protagonisten in Romane pflege. Von da an erkundet sie ihre eigene Persönlichkeit, findet sich selbst und ihren Platz in der Gesellschaft. Clara entdeckt sogar erste Ansätze von Zuneigung und Liebe zum anderen Geschlecht.

Susan Fletcher präsentiert mit Clara’s Geschichte einen Roman, der seine Leser auf die Probe stellt. Damit möchte ich gar nicht allzu große Kritik üben. Der Roman wartet mit der Entwicklungsgeschichte und Charakterausbildung einer jungen Frau auf. So gibt es wenig Geschwindigkeit in der eigentlichen Handlung. Ein paar Längen sind die Folge. Wenn man empfänglich dafür ist, lässt sich jede Menge Bewegung in Clara‘s Persönlichkeitsentfaltung beobachten. Ganz wunderbar ist dabei die Atmosphäre und die Zeichnung der Umgebung von Shadowbrook, die Susan Fletscher mit ihrer detailliert beschreibenden Sprache erzeugt. Die Wendung im Roman kam für mich ein wenig überraschend, passte trotzdem zur durchgehend ruhigen Erzählweise.

So war ich die ganze Lesezeit hin- und hergerissen zwischen langatmigen Kapiteln, die mich zugegebenermaßen zeitweise schon etwas nervten, dann jedoch wieder mit einer Zartheit oder Zärtlichkeit daherkamen, dass sie einfach nur schön waren, und meiner Neugier, wann nun endlich die Aufklärung der Mysterien beginnt. Meinen Frieden mit dem Roman konnte ich dann in letzten Drittel machen.

Meine Leseempfehlung schränke ich auf geduldige Leser, die auch ohne viel Action zufrieden sein können, ein.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.11.2019
Die Zeit des Lichts
Scharer, Whitney

Die Zeit des Lichts


sehr gut

Emanzipation im Paris der 30er
Whitney Scharer erzählt in ihrem Roman vom künstlerischen Leben im Paris der 30er Jahre. Sie berichtet zum einen von den Geldsorgen, die die Künstler seinerzeit plagten, gleichzeitig von ihrem aus heutiger Sicht verschwenderischen Lebensstil in Kaffeehäusern, Bistros, Bars und Theatern. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei hauptsächlich Elizabeth „Lee“ Miller, einer US-amerikanischen Fotografin, Fotojournalistin und surrealistischen Fotokünstlerin. Ihre Entwicklung vom Fotomodell zur Fotografin, sowie ihre gemeinsame Zeit mit Man Ray, stellen den Hauptanteil des Romans dar. Aus der Lifestyle-Perspektive heraus ergänzt der Roman sehr gut Agnès Poirier’s „An den Ufern der Seine“, betrachtet man das Frauenbild dieser Zeit, sehe ich Parallelen zu Pierre Lemaitre‘s „Die Farben des Feuers“.

Unterbrochen wird diese Haupthandlung von Einzelereignissen, die Lee Miller in ihrem späteren Leben als Kriegsfotografin porträtieren. In der ersten Buchhälfte habe ich diese Unterbrechungen als störend empfunden, da ich mich mehrfach orientieren musste, in welcher Zeitebene es nun weitergeht. Im Verlauf konnte ich mich daran gewöhnen. Trotzdem hat mir diese zeitlich spätere, unabhängig vom Hauptstrang erzählbare, aber im Stil einer Dokumentation immer wieder eingeschobene Geschichte nicht so gut gefallen. Die beiden Zeitebenen laufen weder aufeinander zu, noch gibt es einen deutlich genug ausgearbeiteten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen ihnen.

Wenn ich diesen einen Kritikpunkt ausblende, war die Lektüre über die mir bisher unbekannte Lee Miller sehr aufschlussreich und anregend. Der Roman hat mich zu weiterer Recherche animiert. Schön in diesem Zusammenhang ist, dass Whitney Scharer ihre Quellen in einem Literaturverzeichnis preisgibt, womit dem geneigten Leser weitere Vertiefungsmöglichkeiten eröffnet werden.

Fazit: Insgesamt ließ sich „Die Zeit des Lichts“ mit seiner schönen Sprache gut lesen. Besonders mochte ich die im Lesevergnügen automatisch erzeugte Horizonterweiterung, den Wissenszuwachs ohne Mühe. Um den Gesamtzusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, würde ich das Lesen in eher großen Abschnitten empfehlen.