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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 15.03.2023
Besser allein als in schlechter Gesellschaft
Altaras, Adriana

Besser allein als in schlechter Gesellschaft


ausgezeichnet

Teta Jele, die Tante der Autorin, ist 99 Jahre jung. Ein Oberschenkelhalsbruch fesselt sie ans Bett. Und so muss sie ihre Tage in einer Pflegeanstalt fristen, niemand darf sie besuchen, nicht mal ihre geliebte Nichte Adriana. Das C-Virus greift um sich, es ist der erste Lockdown. „Wie im Krieg“ meint die ansonsten rüstige Greisin, und vermisst natürlich ihre Nichte. Deren Leben läuft auch nicht so, wie es sollte. Ihr Mann ist auf und davon, die erwachsenen Söhne außer Haus, und die Coronamaßnahmen lassen weder Proben noch Inszenierungen an den Opern zu.
So bleibt nur mehr das Telefon, um die Strecke zwischen Adrianas Wohnsitz Berlin und dem Pflegeheim in Mantua zu überwinden. Sie erzählen einander von ihren Tagen, an welchen sich die Monotonie die Hand gibt. Es werden Anekdoten ausgepackt und längst vergessene Erinnerungen sickern wieder hervor. Abwechselnd lässt die Autorin die Tante und dann wieder sich selbst erzählen, vom Leben damals, als die junge Adriana, noch ein Kind, zu ihrer Tante nach Mantua kam, oder in den Ferien zu deren Ferienhaus am Gardasee.
Tante Jele hat viel erlebt – und überlebt. Zuerst die spanische Grippe, dann das Lager, in welche sie als Jüdin verschleppt wurde. Es gelang ihr die Flucht nach Italien, heiratete. Das Land wurde zu ihrer neuen Heimat. Und dennoch blieb das kroatische Zagreb immer in ihrem Herzen. Sie war eine sehr besondere Frau, hatte Glück im Leben, und konnte doch nie von sich behaupten, völlig glücklich zu sein. So schön es in Mantua war, die alte KuK-Zeit, Wien, Prag, Zagreb, vermisste sie zeitlebens. Aber Verzagen galt nicht, vielmehr kümmerte sie sich um Adriana wie die eigene Tochter. Es entstand eine enge Bindung der beiden, welche in diesem herrlichen Roman zum Ausdruck kommt.
Der hundertste Geburtstag der Tante steht an, doch wie feiern, wenn alles geschlossen ist, und Besuch nicht erlaubt. Das Pflegepersonal stößt mit ihr an, und Adriana ist mittels Skype dabei. Und Jele ist müde …
Ganz großes Kino, und sehr gerne gebe ich hier eine absolute Leseempfehlung für diesen sehr berührenden Roman.

Bewertung vom 31.01.2023
Der Wisent
Bach, Konrad Boguslaw

Der Wisent


ausgezeichnet

Ein Roadmovie wider Willen, komisch, melancholisch, voller Abwechslung und tiefer Einblicke!

Heniek und Andrzej sind seit ihrer Kindheit enge Freunde. Beide zählen mittlerweile an die 60 Lenze, und können auf so manche Episoden in ihrem Leben zurückblicken.
Ihre Homebase ist das kleine Nest Gajerudki in Polen, wo jeder jeden kennt, und es kaum Geheimnisse gibt.
Umso erschütterter ist Heniek, als ihn seine schöne Frau Beatka nach 36 Jahren Ehe verlässt. Für den Automechaniker, der alles reparieren kann, bricht eine Welt zusammen. Scheinbar versteht er sich mit Autos besser als mit Menschen. Und in ganzen der Zeit hat er wohl das wahre Wesen seiner Frau nie so richtig erfassen können (oder wollen). Kurzum, sie ist nach Domburg/Holland, um erstens dort mehr Geld zu verdienen, und zweitens, ihre Sehnsucht nach mehr Anerkennung zu stillen.
Andrzej war in seiner Jugend ein stadtbekannter „Nichtsnutz“, der einfach in den Tag lebte und sich um nichts kümmerte (außer um seine Libido, die sehr stark war). Doch eine ungewollte Schwangerschaft einer seiner Liebschaften krempelte sein Leben gehörig um.
Und so war es auch Andrzej, der Heniek vorschlug, er möge doch nach Holland fahren, um seine Beatka zurück zu holen. Er begleite und unterstütze ihn natürlich dabei.
Und so beginnt ein RoadTrip ohne Geld, ohne Straßenkarte, ohne weitere Sprachkenntnisse, quer durch Europa bis nach Domburg.
An skurrilen Situationen gibt es genug, genauso wie Rückblenden und Anekdoten aus deren beider Leben.
Mit Witz, Charme, eingepackt in eine wunderschöne Sprache, und einer immer währenden Melancholie, erzählt hier Bach vom Zauber einer Freundschaft, die trotz vieler Widrigkeiten Bestand hat. Der Autor greift so ganz nebenbei, fast schon unscheinbar, wichtige sozial- und gesellschaftspolitische Themen auf. Er bringt es mit einem Lächeln auf den Punkt, wie die Polen, oder die Deutschen ticken.Und ganz Europa.
Einfach Köstlich.
Und somit gebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung für diesen wunderbaren, herzerwärmenden Roman – wahrscheinlich Lieblingsbuch für immer.
Übrigens – der titelgebende Wisent taucht auch auf – sehr kurz, aber dessen Geschichte könnte nicht symbolträchtiger sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.12.2022
Wilde Stille
Winn, Raynor

Wilde Stille


sehr gut

Eine wunderbare Fortsetzung von „Der Salzpfad“ - ein Neubeginn mit alten Problemen

Dieser Band ist die Fortsetzung des Buches „Der Salzpfad“ der Autorin.
Trotz seiner schweren Erkrankung beschließt Moth, nochmals die Schulbank zu drücken und beginnt ein Studium. Ray hingegen kümmert sich um ein Jobangebot nach dem anderen, wird aber nur abgelehnt. Nebenbei kümmert sie sich um ihre todkranke Mutter, welche nur mehr palliativ behandelt werden kann. Aus Tagen werden Wochen des Bangens, und absolut nichts scheint besser zu werden im Leben der beiden. Die zunehmenden Beschwerden von Moth bewegen Ray letztendlich, ihre Erfahrungen auf dem langen Küstenweg niederzuschreiben. Eigentlich tat sie es nur für ihn, und auch sich selbst, doch letztendlich bot sie das Manuskript Verlagen an – das Ergebnis: Der Salzpfad. Die Dinge wurden etwas einfacher, durch den Verlagsvorschuss und dem Stipendium von Moth kommt endlich etwas mehr Geld in die Kasse.
Durch den Erfolg des Buches wird ihnen von einem Leser die Bewirtschaftung einer verlassenen Farm angeboten. Wieder von vorne beginnen? Wieder (fremden) Menschen vertrauen. Ray meidet Menschen und den Kontakt mit ihnen so gut es geht. Vor ihren ersten Lesungen leidet sie körperlich, aber sie kämpft sich durch. Und dann erfüllen sich die beiden noch einen kleinen Traum und eine weitere, wenn auch kurze Reise, steht auf dem Programm.
Die Autorin erzählt von ihrem Leben mit ihrem Mann Moth. Sie berichtet von ihrem kargen Leben, von Krankheiten, Tod und Ängsten. Aber auch von Neubeginnen, vollgepackt mit Zweifeln und immer dem nötigen Funken Hoffnung. Neue Abenteuer und Erfahrungen warten – und so düster so manche Aussichten auch sein mögen, irgendwo scheint sich immer wieder alles zu fügen.
Der Erzählstil ist einfach, unspektakulär, verströmt aber eine gewisse Ruhe und Neugier. Man möchte wissen, wie es hinter jeder Wegbiegung im Leben der beiden weitergeht.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für alle, die Lebensgeschichten und natureWriting mögen, und auch alle anderen Leser:Innen, die gerne mal über ihren üblichen Bücherrand schauen möchten.

Bewertung vom 22.12.2022
Die Eroberung Amerikas
Franzobel

Die Eroberung Amerikas


sehr gut

Ein spannender historischer Roman um das Erbe der indigenen Völker Amerikas.
Sehr fundiert recherchiert, allerdings etwas zu überladen.


Trutz Finkelstein ist Anwalt. Er möchte den indigenen Völkern der USA ihr geraubtes Territorium, sprich die kompletten Vereinigten Staaten, zurückgeben. Er schafft es, alle Häuptlinge der Stämme zu einer Sammelklage zu bewegen.
Den Hintergrund zu dieser fiktiven Annahme erzählt Franzobel in einem packenden, historischen Roman. Er rekonstruiert den Eroberungsfeldzug von Fernando Desoto in den Jahren 1538 - 1542, auf der Suche nach dem sagenhaften Eldorado durch den Süden der USA. Er hinterlässt eine Spur der Zerstörung, von Florida ausgehend bis nach Texas. Die Indigenen werden, sofern sich nicht kooperierten und sich sofort der heiligen katholischen Kirche und dem spanischen König anschlossen, niedergemetzelt. Natürlich alles unter dem wohlwollenden Schirm von Papst und König. Der Feldzug war eine einzige Schlacht – und auch nicht von Erfolg gekrönt, sondern ein morbides Desaster auf beiden Seiten. Soviel zum groben Inhalt.
Die einzelnen Episoden und Stationen beschreibt der Autor teilweise sehr genau. Für meinen Geschmack verzettelt er sich manchmal in zu beiläufige Geschichten. Mit viel Fantasie wird die Leserschaft eingeladen, sich ein Bild der teilweise unmenschlichen Bedingungen zu machen. Man könnte fast meinen, der Gestank, Schlamm, Dreck, oder das Toben und Schreien springen aus den Zeilen und benebeln einen im wahrsten Sinne des Wortes. Und dennoch versprühen die Zeilen einen gewissen Wortwitz und eine Ironie, ohne der es wahrscheinlich nur halb so erträglich gewesen wäre. Zwischendurch werden von den Protagonist:Innen Football, Pommes, oder andere Dinge der Neuzeit erfunden, nur um immer wieder mit den Worten: „das setzt sich eh nicht durch“ abzutun. Meines Erachtens war das überflüssig.
In Summe ist es ein interessanter historischer Roman, erzählt mit viel Einfallsreichtum, der das ganze Werk auf 540 Seiten aufbauscht – und den Leser:Innen vollste Konzentration abverlangt.
Dennoch gebe ich eine Leseempfehlung für alle, die den Mut und Muse haben, sich auf dieses Reise zu begeben. Es ist kein Buch für Zwischendurch – amüsant, lehrreich, aber auch sehr fordernd.

Bewertung vom 05.12.2022
Die Katze, die von Büchern träumte
Natsukawa, Sosuke

Die Katze, die von Büchern träumte


sehr gut

Wunderbare Aufmachung, eine zarte Verführung in die Magie der Buchwelt!

Dieses Buch ist nicht nur optisch ein Genuss mit fein bedrucktem Vorsatz, auch der Inhalt schließt sich der Liebe zu Büchern voll an. Es ist ein Bücherbuch, und gehört, so finde ich, in jedes Bücherregal.
Der fünfzehnjährige Rintaro verbringt sehr viel Zeit im Antiquariat seines Großvaters. Dort wird unter anderem noch die klassische Literatur verehrt und geschätzt. Erstausgaben zieren die Auslagen des Buchgeschäftes, alte Schmöker tummeln sich in dunklen Stellagen, der Geruch der Bücher überströmt alles. Rintaro ist Waise, still und in sich gekehrt. Er zeigt selten seine Emotionen, ist aber alles andere als teilnahmslos. Seine komplette Welt spielt sich neben der Schule in der Welt der Bücher ab. Als sein Großvater plötzlich stirbt, bricht eine Welt zusammen, der Schüler weiß vorerst weder ein noch aus. Eine Tante veranlasst die Übersiedlung des Jungen, das Antiquariat soll geräumt und die Geschäftsräume verkauft werden. Rintaro ist vorerst wie vor den Kopf gestoßen, schwänzt fortan die Schule und nützt die verbleibende Zeit bis zum Fortgehen mit vielem Nichtstun im Laden. Täglich kommt seine Klassensprecherin Sayo vorbei, der Hauch einer Freundschaft beginnt.
Dem nicht genug, taucht ein sprechender Kater auf, mit der Bitte ihm und den Büchern zu helfen. Rintaro verstand zu nächst nicht, um welche Bücher es sich wohl handeln mag. Aber sehr schnell beginnen ein paar phantastische Reisen, welche alle im hinteren Bereich des Antiquariats wie durch Zauberhand beginnen. Es ist tatsächlich die Welt der Bücher in Gefahr, und nur ein wahrer Bücherfreund (so wie Rintaro) kann helfend und rettend einschreiten.
Die Abenteuer kommen ohne großen Pomp oder Action daher, sondern gehen in einer besonnenen und ruhigen Weise an die kleinen und nicht so kleine Probleme heran (ich möchte fast schon sagen: typische japanische Literatur, so weit ich sie kenne).
Dieses schöne Buch mag mehr ein Jugendroman sein, als eine stilistisch hochwertig verfasste, zeitgenössische Literatur. Im Original 2017 erschienen, mittlerweile in 34 Sprachen übersetzt, zählt der Roman zu den erfolgreichsten Publikationen aus Japan. Wie schon gesagt ist die Aufmachung toll gemacht, der Einband passt ein wenig in die Weihnachtszeit, und auch der Showdown … naja, fast schon zu viel verraten.
Fazit: sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen sanften Roman, der einen sehr tief in die Welt der Bücher abtauchen lässt.

Bewertung vom 02.12.2022
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


ausgezeichnet

Spannung. Unterhaltung. Geschichte. Bücherliebe. Leipzig als einstiges Mekka der Buchbranche.

Ich habe schon viele Bücher von Kai Meyer gelesen, kein einziges hat mich enttäuscht, ganz im Gegenteil. Und sein neuestes Werk hat es mir besonders angetan. Es ist der perfekte Mix aus historischem – und Abenteuerroman, leicht gewürzt mit einer Prise Phantastik. So ganz frei nach dem Motto: könnte ja sein ...
Der Roman spielt auf drei Erzählebenen bzw. Zeiten. Zum einen im Jahr 1933, als vieles seinen Anfang nahm – auch die Handlung in diesem Buch rund um den Buchbinder Jakob Steinfeld. Er ist ein Meister seines Faches, und zusammen mit dem sehr sympathischen Russen Grigori betreibt er seinen kleinen Laden mitten im grafischen Viertel der Bücherstadt Leipzig. Leipzig war damals eine Art Mekka des Buchhandels, der Verleger und Buchbinderei. Ein ganzes Viertel war der Arbeit mit Büchern gewidmet. Zahlreiche Gassen, Hinterhöfe und schmale Durchgänge dürften der Gegend wohl ein sehr pittoreskes Aussehen verliehen haben. Leider gibt es heute kaum mehr Fotos von jener Zeit. Im Jahr 1943 wurde die Stadt ausgebombt, das grafische Viertel, in welchem auch zahlreiche Propagandaschriften gedruckt wurden, wurde dem Erdboden gleichgemacht und als Bücherzentrum nie mehr aufgebaut. Hier beginnt ein zweiter Erzählstrang rund um den damals zehnjährigen Robert Steinfeld, welcher in letzter Sekunde von einem mysteriösen Helfer namens Mercurio aus dem Inferno gerettet wurde. Dieser nimmt sich Robert an, und zusammen streifen sie durch das kriegsgebeutelte Land, immer auf der Suche nach besonderen Büchern im Allgemeinen – und einem ganz besonderen Band im Speziellen.
Ewige Begleiter sind die Mitglieder der Verlegerfamilie Pallandt, die einen wesentlichen Beitrag zum Spannungsaufbau des Romans beitragen. 1971 stirbt der Patriarch der Familie, welcher schon während des Krieges sein Schaffen von Leipzig nach München umlagerte. Robert Steinfeld blieb den Büchern treu, obwohl er weder seinen Mutter noch seinen Vater kannte. Zusammen mit der Bibliothekarin stößt er im Kreise der Pallandts auf das Mysterium eines Buches, welches eng mit seiner Vergangenheit verknüpft ist – und eine spannende Schnitzeljagd beginnt. Denn die Wahrheit über jenes besondere Buch führt zwangsläufig zur Wahrheit über Roberts Herkunft.
Perfekt und nägelabkauend spannend lässt der Autor Fiktion und historische Gegebenheiten ineinander verfließen, und schafft hierbei eine wunderbare Symbiose.
Der Roman ist ein Bücherbuch par excellence, die Liebe zur Literatur und Buchdruckkunst verbreitet ihr Odeur mit jeder Zeile. Absolute Leseempfehlung für diesen wunderbaren Pageturner.

Bewertung vom 13.11.2022
Töchter Haitis
Vieux-Chauvet, Marie

Töchter Haitis


ausgezeichnet

Der Kampf einer Frau um Gleichberechtigung und Emanzipation im Haiti der Nachkriegszeit

Dieser sehr bewegende und mit Preisen ausgezeichnete Roman erschien erstmals im Original 1954. Er stellt ein intimes, aufwühlendes Sittenbild der damaligen Zeit in Haiti dar. Und der Bogen, der hier inhaltlich gespannt wird, ist wahrlich groß und überdeckt sehr viele verschiedene Grundthemen. Hauptsächlich ist dieses Buch, so sehe ich es, ein Aufschrei gegen alle patriarchalischen Strukturen des Landes, gegen die stete Unterdrückung der Frauen, und ein Manifest gegen Rassismus. Es herrschte ein Streit zwischen den ethnischen Gruppen des Landes, der seinen vorläufigen (im Roman fiktiven) Höhepunkt in Eskalationen und brutalen Machtspielen zwischen zwischen Schwarzen und Mulatten findet. Nur drei Jahre nach Erscheinen des Romanes zeigte sich im Land die wahre Wirklichkeit, welche der fiktiven Vorlage im Lande um nichts nachstand.
Zur Erzählung selbst: Es ist die Geschichte der Ich-Erzählerin Lotus, eine Mulattin, welcher wir schon als Kind begegnen und bei einer sehr intensiven Reise durch die Stationen ihres Lebens begleiten dürfen. Aufgewachsen als Tochter einer Prostituierten, voererst angeekelt von der Erwerbstätigkeit ihrer Mutter, fühlt sich Lotus in keiner Gesellschaftsschicht wohl oder aufgehoben. In der Schule hängt sie mit Freundinnen ab, aber im privaten Bereich wird der Umgang untereinander von den Eltern nicht erlaubt. Als ihre Mutter stirbt, erbt Lotus zwei Häuser – in einem lebt sie samt Bedienstete, das andere wird vermietet und beschert ihr ein Einkommen. Lotus macht im Laufe der Zeit eine Wandlung durch, wird von einer arroganten, boshaften Göre zu einer helfenden, mutigen Frau mit Herz und Kämpferin für die Emanzipation.
Und all das geschieht immer mit den begleiteten Umständen der politischen Gegebenheiten. Auch die Gesellschaftspolitik, der Umgang der Menschen untereinander, Patriarchat, Rassentrennung, Unterdrückung verstand die Autorin sehr geschickt in ihren wirklich lesenswerten Roman einzuweben.
„class, color, race & gender“, wie es im Klappentext heißt, war radikal in jener Zeit, und sind die grundlegenden Themen von Vieux-Chauvet.

Die Sprache ist klar, flüssig, erzeugt einen Sog und weckt wirklich großes Interesse an der Geschichte. Auch die vielen kreolischen Wörter, welche bewusst von der Übersetzerin im Text gelassen wurde (und im Anhang in einer editorischen Notiz erläutert werden) stören dabei nicht. Auch befindet sich am Ende ein sehr aufschlussreiches und interessantes Nachwort über Marie Vieux-Chauvet von Kaiama L. Glover. Aufgewachsen in Port-au-Prince, Haiti, musste sie 1968 in die USA flüchten und ins Exil gehen. Ihre kritischen Texte passten dem Regime nicht.
Die Autorin (1916-1973) hat fünf Romane geschrieben, nächstes Frühjahr bringt der Verlag ein weiteres Buch von ihr heraus. Man kann sich darüber sehr freuen. Ganz klare Leseempfehlung

Bewertung vom 11.11.2022
Unschuld
Würger, Takis

Unschuld


sehr gut

Waffenlobby, Todeszelle, das amerikanische Leben und die Suche nach Wahrheit

Florentin „Flo“ Carver sitzt in der Todeszelle. Er gestand vor zehn Jahren den Mord an dem jungen Casper Rosendale. Die Sachlage war eindeutig, so die Justiz.
Doch seine Tochter Molly, die seitdem bei ihrem Onkel Mick lebte, und Monat für Monat einen Scheck von einer Stiftung bekommt, sieht das anders. Sie glaubt nicht an das Geständnis ihres Vaters und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Getarnt als Journalistin kann sie sich Zugang zu den Rodendales verschaffen. Was sie aufdeckt, macht sprachlos. Ihr bleiben weniger als einen Monat Zeit, bevor ihr Vater hingerichtet werden soll.
Der Name der Rosendales ist Programm. Sie sind sehr reich und haben viel Einfluss. Sogar der 6000-Seelen Ort an der Ostküste, in welchem sie leben, trägt ihren Namen. Und die Rosendales sind fanatische Verfechter der NAA, der amerikanischen Waffenlobby, welche sich auf den zweiten Artikel der amerikanischen Verfassung stützt.
Takis Würger zeichnet in seinem neuesten Roman ein Skizze dieser Art der Gesellschaft, wo man glaubt, mit Geld alles erreichen zu können, und wie man die eigenen Sprösslinge am besten ruhig hält. Es ist erschütternd, mit welchen Details der Autor aufwartet, die Grenzen zwischen arm und unermesslich reich aufzeigt.
Der Sprachstil bleibt dennoch ruhig, unbewertend. nüchtern und doch spannend. Das Buch ist ein Pageturner, der von Kapitel zu Kapitel nach mehr schreit.
Allerdings wurde mein Appetit dabei leider nicht ganz gestillt. Natürlich fragt man sich sehr bald, wie die Story wohl ausgehen mag – und siehe da, leider für mich ein wenig zu sehr vorhersehbar. Auch hätte ich mir ein wenig mehr Schärfe bei all den Themen gewünscht, aber nichts desto trotz hallt das Gelesene nach – macht nachdenklich, und auch kopfschüttelnd, über das sehr gut gezeichnete Bild des amerikanischen Lebens. Und das schafft der Autor immer wieder – präzise Bilder mit wenig Sprache zu erzeugen.
Hiermit gebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung für diesen sehr gut geschriebenen Roman ab.

Bewertung vom 06.11.2022
Melodie des Bösen / Kommissar Julien Vioric Bd.2
Habekost, Britta

Melodie des Bösen / Kommissar Julien Vioric Bd.2


ausgezeichnet

Ein brillant recherchierter Krimi im Paris von 1925, geprägt vom Jazz.

Paris 1925, die Surrealisten sind präsent, leben ihr Leben in vollen Zügen, und genießen die neue aufstrebende Musik. Eine Musik abseits von Zwängen und Genres, frei wie das Leben es sein sollte, voller Schwung und Elan, abseits aller Konventionen. Der Jazz hat Paris erobert, sehr zum Argwohn der musikalischen Traditionisten. Es kommt zu Gewalt und Ausschreitungen, und der Rassismus schaukelt sich hoch in kaum dagewesen Höhen. Denn schließlich sind viele der Jazzmusiker Schwarze, oder Kreolen. Der vorläufige Höhepunkt: ein menschliches Herz wird am Grab von Fredéric Chopin abgelegt.
Spätestens jetzt ist die Polizei gefordert, denn dieser grausame Fund erinnert an eine ungeklärte Straftat aus dem Jahr 1913. Lieutenant Julien Vioric konnte den Fall damals nicht lösen. Nun sollte sich eine zweite Chance ergeben. Und dies vorerst gegen seinen Willen. Monate zuvor hatte er seinen Dienst quittiert, um einer Liebe wegen nach Antibes zu gehen. Doch er kehrt nach Enttäuschungen zurück in sein geliebtes Paris, und wird just vom Präfekten wieder in den Polizeidienst eingeführt, ohne Julien lange zu fragen. Der Präfekt ist Juliens jüngerer Bruder, arrogant bis in die Haarspitzen, mehr an seiner gesellschaftlichen Stellung interessiert als an den Grundzügen seines Postens, sprich die Antipathieperson non plus ultra.
Während der Ermittlungen gerät Vioric natürlich sofort in den Dunstkreis des Jazz mit all seinen Protagonist:Innen. Zusätzlich geraten die beiden Journalistinnen Heloise und Lysanen zwischen die Fronten … ein Katz und Maus Spiel beginnt.
Brillant recherchiert erzählt uns die Autorin von einer weiteren Epoche aus dem Paris der Zwanziger Jahre, mit alle seinem Glamour, und auch mit all den Schattenseiten. Der angeführte Rassismus trifft einen beim Lesen mit voller Wucht, und lässt mich immer wieder an der Menschheit zweifeln (natürlich auch in Anbetracht aller gegenwärtiger Probleme).
Manchmal poetisch, mal sehr direkt, bringt sie uns die Geschichte näher, lässt die handelnden Personen sehr authentisch und plastisch wirken. Es ist im Prinzip der Nachfolgeroman von „Stadt der Mörder“, kann aber ohne weiteres als eigenständiger Roman gelesen werden. Sehr aufschlussreich und interessant fand ich auch das Nachwort der Autorin zur Person von Nancy Cunard, welche eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat.
Ich gebe hier gerne eine Leseempfehlung für diesen historischen #Krimi , und bin schon sehr gespannt, in welche Kreise uns Britta Habekost in ihrem nächsten Paris-Roman führen wird (ich hoffe zumindest darauf).

Bewertung vom 16.10.2022
Penelope und die zwölf Mägde
Atwood, Margaret

Penelope und die zwölf Mägde


ausgezeichnet

Ein episch genialer Pageturner und eine etwas andere Darstellung von Homers Odyssee

Der Roman erschien bereits 2005, auch in einer deutschen Übersetzung. Die vorliegende Ausgabe wurde neu (und sehr genial) übersetzt.

Die Odyssee. Von einem Mann geschrieben, für Männer geschrieben. War es so, wie es Homer darstellt.? Alles nur fiktiv? Oder war es ganz anders? Oder nur auf die heroischen Teile zurecht gemünzt? War Penelope wirklich die tugendhafte Ehefrau, welche über 20 Jahre lang brav auf ihren Mann gewartet hat? Und warum mussten zwölf Mägde letzten Endes ihr Leben lassen?
Die Autorin geht den Fragen nach, stützt sich zwar in erster Linie auf Homer, aber bedient sich auch anderer Quellen (im Anhang erläutert). Denn all diese Sagen und Legenden wurden vorerst ja nur mündlich weiter gegeben.
Atwood nimmt den Stoff neu auf, und erzählt uns die Geschichte aus der Sicht von Penelope. Und in Chören und Gesängen kommen die Mägde zu Wort. Die Sagenwelt rund um Odysseus rückt so in einer etwas anderes Licht, die heldenhaften Abenteuer hätten ja auch anders interpretiert werden können. 
Die Sage wird etwas entzaubert, das Patriarchat angeprangert. Strahlende Königinnen werden zu Opfern, Könige zu schwachen Säufern. Die Heiratspolitik tut ihr übriges.
Aber wie war es denn nun wirklich? Natürlich weiß es niemand, aber Penelope webt (wie auch in der Mythologie) ein sehr glaubhaftes Bild über ihre Geschichte. Sie spart auch nicht an Kritik, sowohl all der Umstände, wie auch an sich selbst. Und dann war noch die schöne Helena …
Der Roman ist rasant, spielt mit Bildern, stellt vieles in Frage und manifestiert dennoch die ein oder andere Meinung. Die Sätze triefen teilweise vor Sarkasmus, ein Umstand, der mir sehr gut gefallen hat und das ganze Buch zu einem wahren Pageturner und Jahreslesehighlight macht.

S.51: „Und so wechsle ich den Besitzer wie ein abgepacktes Stück Fleisch. Mit der Besonderheit, dass die Verpackung aus reinem Gold bestand und wertvoller war als der Inhalt. Ich war sozusagen eine vergoldete Presswurst.“
S.89: „Dann wieder war Odysseus bei einer Zauberin gelandet, die seine Männer in Schweine verwandelte – was bei den Kerlen offen gestanden keine große Leistung ist.“

Neben Penelope kommen die Mägde zu Wort, in Sprechgesängen und Chören gemäß dem epischen Vorbild. Sie singen von sich, rücken ihr Schicksal in das Licht des Geschehens, sprechen aus, was Sache ist, prangern ihren Mord an und stellen die Frage, warum sie mit den Belagerern von Osysseus' Haus gehängt wurden.
Übrigens: Penelope und die Mägde erzählen uns dies alles erst, als sie schon tot sind und in der Unterwelt wandeln, und dabei auf die ein oder andere Bekannte oder Zeitgenossen treffen. Sehr genial, wie ich finde und gebe hier für dieses Ausnahmebuch eine absolute Leseempfehlung.