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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 151 Bewertungen
Bewertung vom 14.03.2023
Marsch auf Rom und Umgebung
Lussu, Emilio

Marsch auf Rom und Umgebung


ausgezeichnet

Faschismus ist wieder in, wenn man sich die neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre postfaschistische Partei Fratelli d’Italia anschaut, zuverlässig flankiert von den rechten Parteien Lega Nord und Forza Italia. Zwar bekennt sich Meloni nicht mehr öffentlich zu Mussolini, aber ihre Anhänger treten in schwarzen Hemden auf wie die berüchtigten paramilitärischen squadristi.
2022 jährte sich der sog. Marsch auf Rom, die große inszenierte Drohgebärde Mussolinis, die letztlich auch Erfolg hat – und Emilio Lussus Bericht über die Anfänge des Faschismus wurde neu herausgegeben.

Lussu ist nicht nur Politiker, sondern ebenfalls ein Literat, der seine Sätze zu setzen weiß. Und so erwartet den Leser ein ausgesprochen unterhaltsames und spannendes Buch, in dem Lussu die Anfänge des Faschismus aus seiner persönlichen Perspektive heraus beschreibt.

Er erkennt sehr präzise die Quellen, aus denen sich der Faschismus speist. Da sind seiner Darstellung nach vor allem die arditi, die Kämpfer des I. Weltkrieges, die im zivilen Leben keinen Fuß mehr fassen können und eine Revolution wollen – und von Gewalt verstehen sie etwas, das war ihr Beruf. Gewalt wird daher auch das bevorzugte Mittel der Faschisten, ihre Ziele bzw. ihre Herrschaft durchzusetzen. Lussu beleuchtet auch erstaunlich klarsichtig den Einfluss, den das Futuristische Manifest von Marinetti hat, und vor allem sieht er den Einfluss des Dichter Gabriele d’Annunzio auf die jungen Hitzköpfe der Zeit und vor allem auf Mussolini. D’Annunzio konstruierte nämlich eine Art italienische Dolchstoßlegende um die Gebietszuweisungen nach dem I. Weltkrieg (konkret: es geht um die Stadt Fiume) und prägt hier den Begriff „Marsch auf Rom“ als Drohgebärde gegenüber dem Staat.

Lussu bricht seine Erklärungen aber immer wieder herunter auf seine persönlichen Erlebnisse. Er erlebt die Verschleppung und grausame Ermordung des Abgeordneten Matteotti als Wendepunkt. Hatte sich bisher Mussolini als gesetzes- und verfassungstreuer Ministerpräsident gegeben, wendet sich nun das Blatt: er entscheidet sich für die Diktatur und die unverhohlene Gewalt, um den politischen Gegner einzuschüchtern.
Und so erzählt Lussu von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Cagliari, wenn die Faschisten Jagd auf Antifaschisten machen, er erzählt von Plünderungen und Gewaltexzessen, denen die Bürger eingeschüchtert zusehen müssen. Lussu muss erleben, wie Menschen dem Druck nicht standhalten können und ihre Gesinnung wechseln, wie aus erklärten Anti-Faschisten nun karrierebewusste Faschisten werden. Er wird Zuschauer bei sog. Faschistentaufen, einer Strafmaßnahme, bei denen „renitenten“ Antifaschisten literweise Rizinusöl eingetrichtert wird. Er ist Augenzeuge, wie ein 16jähriger Arbeiter, als Kommunist bekannt, von 60 squadristi in Sekundenschnelle halbtot geknüppelt wird, wie ein junger Vater mit seinem Kind auf dem Arm kurzerhand erstochen wird, weil er die Mütze nicht schnell genug abnimmt und so fort. Und immer wieder berichtet er, wie die Polizei auf Weisung von oben nichts unternimmt, sondern ganz im Gegenteil die Schlägertrupps schützt und die Antifaschisten ins Gefängnis setzt.

Lussu selber wird wiederholt in seinem Haus belagert, sieht sich Morddrohungen ausgesetzt, muss in sein Bergdorf fliehen, muss sich verstecken, wird immer wieder angegriffen und einmal so übel zusammengeschlagen, dass er wochenlang im Krankenhaus liegt.

Zustände, denen der König tatenlos zusieht, während Papst Pius XI. zufrieden ist: „Die Vorsehung hat ihn (Mussolini) uns geschickt, um das Volk von der Irrlehre des Liberalismus zu befreien.“

Lussus Bericht ist nicht frei von Humor, das zeigt schon der Titel des Buches. Sein Humor ist aber ein bitterer und sarkastischer Humor. So macht er sich z. B. darüber lustig, dass Mussolini von Mailand aus agiert. Wieso nicht von Rom aus, der Hauptstadt? Für Lussu ist klar: Mailand liegt eben näher an der Schweizer Grenze!

Mir hat Lussus Klarsichtigkeit imponiert. Er vertritt die Meinung, dass der Staatsstreich Mussolinis durch das überlegene Militär hätte verhindert werden können. Obwohl er Zeitgenosse ist und man bekanntlich hinterher immer alles besser weiß, halten seine Einschätzungen und Beobachtungen der aktuellen wissenschaftlichen Literatur stand.

Bewertung vom 09.03.2023
Mameleben
Bergmann, Michel

Mameleben


ausgezeichnet

„Mameleben“ ist ein Buch, das mich immer wieder sprachlos machte. Schon im 1. Kapitel setzt sich Bergmann mit Aussagen seiner Mutter auseinander, mit denen er von Kindheit an konfrontiert wurde: „Da überlebt man, und das ist der Dank!“
So etwas sagt eine Mutter zu ihrem Kind? Ja, so etwas sagte Charlotte Bergmann, und der Autor beginnt sein Buch verständlicherweise mit den religiösen Geboten zur Elternliebe, mit denen er sich zeit seines Lebens auseinandersetzen musste.

Michel Bergmann schreibt keine Biografie im üblichen Sinn, sondern im Zentrum steht seine sehr persönliche Reflexion über das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter. Charlotte Bergmann hat Schlimmes durchstehen müssen. Sie wuchs in einem großbürgerlichen jüdischen Haus bei Nürnberg aus und floh kurz vor dem Abitur nach Paris. Ihre Mutter und ihr Vater, Träger des Eisernen Kreuzes, wurden in Auschwitz ermordet. Sie selber wurde durch die Vichy-Regierung in Gurs interniert und sie entkam der drohenden Deportation durch die Flucht in die Schweiz, wo sie wiederum als illegal eingereiste Ausländerin interniert wurde. An dieser Stelle spart Bergmann nicht mit deutlichen Hinweisen auf die empörende und menschenverachtende Rolle, die die Schweiz gegenüber den Flüchtlingen aus Hitler-Deutschland einnahm. In der Schweiz trifft sie auf einen Bekannten aus Paris, der ihr Ehemann und Vater des Autors werden wird. Bei Kriegsende reist das Ehepaar zurück nach Deutschland, um das Textilgeschäft der Familie aufzubauen, während das neugeborene Kind über ein Jahr in einem Kinderheim zurückgelassen wird.
Ist das Mutterliebe? fragt sich der Autor.

Er zeichnet seine Mutter als erfolgreiche Geschäftsfrau, begehrte Gesellschafterin, umschwärmt, verehrt, eine schöne und extravagante Frau – und auf der anderen Seite eine übergriffige Mutter, die ihr einziges Kind nicht schonte und die ihren Sohn nicht so nehmen konnte, wie er war. Statt dessen hatte sie große Erwartungen an ihn, was seinen Beruf und seinen sozialen Stand anging, wohingegen sein Gemütsleben ihr völlig gleichgültig war. Sie straft ihn lebenslang dafür ab, dass er einen anderen Weg ging als den, den er ihrer Meinung nach zu gehen hatte: sie kritisiert, sie mäkelt, nichts kann er ihr recht machen, sie überschüttet ihn mit Vorwürfen, macht ihn für ihre eigenen Kümmernisse verantwortlich, mindert seine Leistung, er erfährt keinerlei Wertschätzung – und hinter all dem steht für den Autor immer die Frage: Ist das Mutterliebe?

Am Ende des Buches kann er diese Frage für sich beantworten. Da wird nämlich deutlich, wieso der Autor, viele Jahre nach dem Tod seiner Mutter, dieses Buch schreibt. Er vermeidet den Begriff der transgenerationalen Traumatisierung, aber er erkennt die bewusstseinsverändernden Auswirkungen der Shoa, die auch ihn betreffen.
So sieht er, dass er wie seine Mutter jede Selbstreflexion vermeidet. Inzwischen hat er es gelernt – und so kann er seine Mutter von einem anderen Standpunkt aus ansehen. Und jetzt kann er sich auch die Frage beantworten, ob seine Mutter ihn geliebt habe: ja, aber eben auf ihre recht reduzierte und egozentrierte Weise.

An diesem Punkt erhellt sich die Bedeutung des Untertitels: „Das gestohlene Glück“. Es ist das Glück seiner Mutter, dass ihr durch die Zeitläufte gestohlen wurde, und es ist das Glück des Sohnes, das ihm durch die empfundene Lieblosigkeit seiner Mutter gestohlen wurde.

Ein sehr bitteres Buch – und zugleich durch das hohe Maß an Reflexion ein sehr versöhnliches Buch: der Autor kann sich seiner Mutter in Liebe erinnern.

Sehr lesenswert!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.03.2023
Herr Aurich
Maron, Monika

Herr Aurich


ausgezeichnet

Soll man bei dieser Erzählung lachen oder weinen? Ist das jetzt eine Komödie oder eine Tragikomödie?

Im ganzen Text fällt kein einziges Mal die Bezeichnung „DDR“, aber trotzdem ist es klar, dass sich die Handlung dort abspielt. Herr Aurich, die Titelfigur, ist ein Parteifunktionär, der sich offenbar im Lauf der Jahre hochgedient hat und immer nur eines wollte: „ganz oben“ sein. Aber nun spielt sein Körper nicht mehr mit, er erleidet einen Schlaganfall und wird in das „Krankenhaus für verdiente Personen“ eingeliefert. Er erholt sich, und er ist sich ganz sicher, dass er nun wie die Funktionäre noch weiter über ihm einer speziellen, elitären Behandlung unterzogen wird, da er doch für noch Höheres bestimmt ist.

Bitterböse sind die Stellen, wenn Maron erzählt, wie Herr Aurich sich die Dinge zurechtlegt, wie er die Wirklichkeit verkennt, ja sogar schönredet und nicht von seiner Überzeugung ablassen kann, für eine ganz besondere Rolle in diesem Staat ausersehen zu sein. Der Rat seines Arztes, beruflich kürzerzutreten, stürzt ihn in eine tiefe gesundheitliche und mentale Krise: er ist nun „ganz unten“. Jetzt muss er seine Position neu definieren und eine neue Ordnung schaffen, denn „ganz unten“ kann er nicht sein, das lässt sein Selbstwertgefühl nicht zu – aber was ist dann unter ihm?

An diesem Punkt gelingen Monika Maron sehr eindringliche und sprachlich verdichtete Bilder. Herr Aurich findet nämlich einen Weberknecht, schleicht sich an ihn heran, hebt seinen Fuß – „Das Wort Guillotine fiel ihm ein“ (S. 13) und zertritt das Tier, aber so, dass er „dieses leise Knacken, wenn der Spinnenkörper unter dem Druck seines Fußes auseinanderbarst“ (S. 14) hören konnte.
Und noch jemand ist unter ihm: seine Frau, mit der er sich über Banalitäten streitet und die den toten Weberknecht auch hinausschafft. Seinen plötzlichen Machtverlust kann er zusätzlich kompensieren, wenn er die lebenslustige verwitwete Nachbarin mit dem Fernglas bespitzelt.

Deutlicher und spitzzüngiger kann das Machtgefüge der DDR kaum gezeichnet werden. Die Ausübung von Macht über andere, die strenge Hierarchie, die Selbst-Privilegierung der oberen Riege, das ständige Streben nach eigener Bedeutung kennzeichnen diesen Staat.
Aber dieses Gefüge kann nur funktionieren, so Monika Maron, wenn Spießer wie Herr Aurich mit ihrem Aufstiegswillen, ihrer Rücksichtslosigkeit und ihrer Kaltschnäuzigkeit das System stabilisieren.

Sehr lesenswert!

Bewertung vom 20.02.2023
Seht mich an
Brookner, Anita

Seht mich an


ausgezeichnet

Frances Hinton ist eine intelligente, gebildete und wohlhabende junge Frau. Sie lebt mit der Haushälterin ihrer verstorbenen Mutter in einer großzügigen Wohnung in London. Ihre Arbeitsstelle gefällt ihr: sie arbeitet als Archivarin in einer medizinischen Bibliothek und ist kunsthistorisch versiert. Die äußeren Rahmenbedingungen sind also beneidenswert.

Aber Frances leidet. Sie leidet unter einer beklemmenden Einsamkeit und schaut voll Schmerz auf das gesellige Leben der anderen, das diese mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit führen, um die sie Frances beneidet. Sie, Frances, gehört nicht dazu, sie ist unauffällig und wird übersehen wie ein Möbelstück ihrer Arbeitsstelle – und würde doch so gerne dazugehören. In dieser Situation lernt sie das Paar Alix und Nick kennen: ein glamouröses Paar, das einen exaltiert-snobistischen Freundeskreis unterhält, in den Frances aufgenommen wird. Endlich: sie wird gesehen! Ihr einsames Leben ist beendet!

Sie registriert allerdings sehr genau die herablassende und dominierende Art, mit der v. a. Alix in dem Freundeskreis und auch ihr gegenüber den Ton angibt. Alix stammt aus einer zwischenzeitlich verarmten Familie von Großgrundbesitzern und wird nicht müde, auf ihre ehemals herausragende gesellschaftliche Position zu verweisen. Sie fühlt sich daher allen überlegen und nimmt für sich das Recht in Anspruch, andere zu mindern, der Lächerlichkeit preiszugeben und vernichtende Urteile zu fälle. Alix fehlt jede Empathie. Sie geht über die Bedürfnisse anderer hinweg und lässt niemals einen Zweifel daran, dass sich jeder ihrem Willen unterordnen zu habe. So werden z. B. Einladungen von entfernten Freunden zwar zugesagt, aber kurzfristig nicht wahrgenommen, weil das Wetter zum Flanieren einlädt.

Das alles beobachtet Frances sehr genau. Mit einer unglaublichen Präzision beobachtet sie sowohl Alix und ihren Zirkel als auch sich selbst. Sie erkennt schließlich sehr schmerzhaft, dass sie nicht als Freundin gesehen und geschätzt wird, sondern nur ein Beobachtungsobjekt des Paares ist, das sie zudem finanziell ausnutzt. Sie wird zwar nun endlich gesehen, aber umgekehrt wird sie von dem Paar beobachtet, mitleidlos und voyeuristisch, ausschließlich zu seinem eigenen Vergnügen, so wie ses auch das Leben der anderen „Freunde“ nur unter dem Aspekt der eigenen Unterhaltung sehen kann.

Mit ihrer glasklaren, völlig schnörkellosen Sprache seziert die Autorin ihre Protagonistin, und zwar mit einer Gnadenlosigkeit, die mir stellenweise den Atem nahm. Mir kam es so vor, als ob sie Frances nicht nur sezierte, sondern fast skelettierte: schonungslos und unbestechlich.

Lesenswert!

Bewertung vom 16.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


sehr gut

Sabrina Janesch entführt ihren Leser in eine Welt, die in Geschichtsbüchern eher marginal auftaucht und deren letzte Zeitzeugen allmählich aussterben. Sie stellt uns das Schicksal der deutschen Familie Ambacher vor, die vor Generationen in das Warteland eingewandert war und von dort im II. Weltkrieg nach Sibirien verschleppt wurde – als Zivilgefangene, wie so viele andere deutschstämmige Familien auch. Janesch erzählt von der Verschleppung, dem Leben in Kasachstan und der Rückkehr nach Deutschland in ein Land, das den Rückkehrern fremd geworden ist.

Die Autorin verteilt die Handlung auf zwei Zeitebenen und auf zwei Protagonisten, beides Kinder: einmal das Kind Josef, aus dessen Perspektive die Zeit in der kasachischen Steppe erzählt wird, und in der Jetztzeit ist es Josefs Tochter Leila, aus deren Sicht wir die Situation der Rückkehrer erleben.
Die Art und Weise, wie die Autorin diese beiden Ebenen miteinander verbindet, ist bestechend flüssig und geschmeidig. Assoziativ reiht sie die Erlebnisse der beiden Kinder aneinander; ob es ein Sturm in der Steppe ist, der Schamane bzw. die Tante als Heilerin, der Wintereinbruch, der Schulbesuch – die Zeitebenen verzahnen sich bewundernswert leicht ineinander.
Dadurch wird deutlich, welche Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen bestehen. Beide leiden unter dem Trauma der Entwurzelung, beide fühlen sich fremd und ausgegrenzt, beide suchen letztlich nach ihrer Identität.

In der Gegenwart kommt noch eine Facette hinzu. Was zunächst wie ein unmotivierter Kinderstreich aussieht – der Diebstahl von Zahngold -, entpuppt sich als Hinweis auf diejenigen, die für die Verschleppung und die Traumatisierung vieler Menschen verantwortlich waren: die Nationalsozialisten, deren Täter nach wie vor ungestraft unter uns leben. Hier schafft die Autorin mit Pawel eine wirklich beeindruckende Figur.

Der Teil, der in der Steppe spielt, hat mir wesentlich besser gefallen. Hier gelingen der Autorin einfach schöne Bilder wie z. B. das Kind Josef, das heimlich Wörter aus dem verbotenen Deutsch sammelt und aufbewahrt, um seine Identität und auch die Verbindung mit seiner toten Mutter zu bewahren. Sie vermeidet auch jede Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren, und damit gelingen ihr mit wenigen Federstrichen Bilder von menschlicher Solidarität über ethnische Grenzen hinweg, aber auch Verrat und Eigennutz.

Der Jetzt-Teil gerät mir teilweise zu larmoyant. Die ständigen Klagen über die „schwere Kindheit“ und die grobe Ausgrenzung der Rückkehrerkinder – z. B. getrennte Sitzplätze in der Schule – wirken zu dramatisch. Zudem decken sie sich nicht mit meinen eigenen Wahrnehmungen.

Das Hörbuch wird eingelesen von Julia Nachtmann: perfekt, ein großer Hör-Genuss!

Insgesamt ein überzeugendes Buch, intelligent konstruiert.
Lese- und Hör-Empfehlung!

Bewertung vom 02.02.2023
Nives
Naspini, Sacha

Nives


ausgezeichnet

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Anteo, Nives‘ Mann, will die Schweine füttern, erleidet einen Herzschlag und stürzt tot in den Schweinetrog, worauf ihn das Schwein anknabbert.

In der Folgezeit leidet Nives unter der Einsamkeit und holt sich das Huhn Giacomina ins Haus, und in der Gesellschaft dieser gefiederten Freundin lebt sie wieder auf. Sie erkennt aber durchaus das Groteske der Situation: „Ich hab mein Leben für einen gegeben, den ich hätte durch ein Huhn ersetzen können.“ Eines Tages verfällt Giacomina beim Werbe-Fernsehen in eine katatonische Starre, und Nives ruft den Tierarzt Loriani an – und dieses Telefonat ist der eigentliche Roman.

Der Dialog beginnt recht kurzweilig und amüsant, passend zu der merkwürdigen Situation. Beide sind im selben Ort aufgewachsen und kennen sich ihr Leben lang, und so wendet sich das Gespräch der Jugendzeit zu und dem damaligen überraschend locker-sinnenfrohen Miteinander des Freundeskreises. Bis dahin denkt der Leser, dass der Roman sich darin erschöpft: in der Ansammlung von Sprachwitz und allerlei Skurrilitäten, über die man lachen muss.

Aber dann gewinnt die Geschichte einen unerwarteten Tiefgang. Nives holt nämlich das verbale Hackebeilchen heraus und nimmt die gemeinsame Vergangenheit gnadenlos ins Visier. Und nun entfaltet sich ihr ganzes Leben, dem der Leser/Hörer atemlos folgt: eine schlimme Geschichte von Liebe, Treue und Untreue, Versprechungen und gebrochenen Schwüren, von Verrat, Einsamkeit, Rache und Schuld, von Trauer und nicht heilenden Verletzungen bis hin zur Giftmischerei.

Nives‘ Sprache ist ländlich-direkt. Vor allem ihre originellen plastischen Vergleiche bringen den Leser trotz des bitteren Inhalts immer wieder zum Lachen. Dabei überschreitet der Autor aber nie die Grenze zum Obszönen.

Das Telefonat endet mit der bitteren Erkenntnis, dass Nives ihr ganzes bisheriges Leben als vertane Chance verlebt und der Hochherzigkeit ihres Mannes keine Chance gegeben hat. Dieser eigentlich bittere Schluss wird vom Autor im letzten Satz ins Leichte überführt: das Huhn Giacomina kommt zu sich und legt ein Ei.

Das Hörbuch wird eingelesen von Timo Weisschnur und Tanja Fornaro. Durch die beiden Stimmen wirkt der telefonische Dialog authentischer. Tanja Fornaro übernimmt am Schluss neben ihrem Part der Protagonistin auch den von Donatella, der Ehefrau des Tierarztes, und die Differenzierung der beiden Stimmen gelingt ihr mühelos.

Fazit: eine originelle Erzählsituation, eine tiefgründige Geschichte.
Lese- und Hörempfehlung!!

Bewertung vom 25.01.2023
Internat
Zhadan, Serhij

Internat


ausgezeichnet

Der Plot ist eigentlich schnell erzählt: Pascha, ein Lehrer in den Dreißigern, holt seinen Neffen Sascha aus einer umkämpften Stadt zu sich nach Hause.

Ort und Zeit werden nur marginal erwähnt: wir hören einmal den Namen der Stadt Charkiw, es ist Januar – man kann also davon ausgehen, dass der Roman im umkämpften Donbecken spielt. Es geht jedoch nicht um die Ukraine, es geht nicht um einen konkreten Krieg. Der Autor ergreift nicht Partei, er nimmt keine Schuldzuweisungen vor. Es geht in einem weiteren Sinn allgemein um die Schrecklichkeiten des Krieges, wie sie überall stattfinden können.

Pascha, der Protagonist, ist ein völlig unpolitischer Mensch. Er ist Lehrer, Zivilist, hört keine Nachrichten, vermeidet eine politische Positionierung und mischt sich nirgendwo ein. Der Weg zu seinem Neffen und der Weg zurück nach Hause macht aus ihm einen anderen Menschen. Er durchläuft apokalyptische Szenerien, die an die Gedichte Georg Trakls erinnern. Dabei begegnet er Menschen, meistens Frauen und Kindern, und er erkennt, dass er handeln muss. Als Lehrer kommt ihm offensichtlich eine besondere Rolle zu; von ihm wird erwartet, dass er die richtigen und wichtigen Informationen hat, dass er Hilfe leistet und Sorge für die anderen trägt. In diese Rolle - eine Rolle, die Pascha bisher vermieden hat – wächst er jetzt Schritt für Schritt tatsächlich hinein.

Der Roman führt uns eindringlich vor, was der Krieg mit Menschen macht. Hier gelingen dem Autor verhaltene und zugleich ausdrucksstarke Bilder, die sich dem Leser einprägen; ob das der durchschossene Mantel des tapferen Sportlehrers ist oder das klingelnde Handy eines Toten, der jeden Tag um 8 Uhr von seinen Kindern angerufen wird. Pascha begegnet auf seiner „Winterreise“ Menschen, die sich in Endzeit-Landschaften bewegen, die alles aufgegeben haben und nur das Notwendigste mit sich führen. Sie wissen nicht wohin, die Infrastruktur ist zusammengebrochen. Die Realität dieser Menschen besteht aus gegenseitigem Misstrauen, aus ständiger Angst, aus Sorge um die nächste Mahlzeit, aus dem dringenden Bedürfnis nach Wärme, aus Desinformation seitens der Regierung, Alarm und Beschuss, Verlust der Wohnung und der Lebensgrundlage, aus Begegnungen mit Soldaten, deren Zugehörigkeit nicht immer zu erkennen ist. Solidarität und Hilfe trifft er selten. „Kein Mitleid mit niemandem“ wird zum Mantra Paschas. Ein bitteres Fazit!

Der Roman wird eingelesen von Frank Arnold. Seine klare, teilweise metallische Stimme passt zu den Schrecken, die der Roman erzählt. Frank Arnolds Vorlesekunst zeigt sich besonders in den Dialogpassagen, die er mit wechselnder Lautstärke und vor allem wechselnder Stimmfärbung perfekt gestaltet.

Absolute Lese- und Hör-Empfehlung!

Bewertung vom 23.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


ausgezeichnet

Der Autor lässt einen Jugendlichen erzählen: Frank Thaler, fast 14, ein braver und unauffälliger Junge, der mit seiner alleinerziehenden berufstätigen Mutter zusammenlebt. Jeden Mittwoch kocht er, am Wochenende schauen sie gemeinsam „Tatort“, und manchmal krabbelt er in ihr Bett. In dieses Familienidyll schiebt sich nun der Großvater, der nach vielen Gefängnisjahren vorzeitig entlassen wird. Der Großvater tritt fordernd und übergriffig auf. Nicht nur, dass er den Namen seines Enkels gegen dessen Willen zu „Frankie“ amerikanisiert, er benimmt sich auch sonst wie ein alter Cowboy: ruppig, unfreundlich und gewalttätig. „Ein Tier“, sagt seine ängstliche Tochter über ihn, und ist es ein Zufall, dass Frank gerne Tierfilme sieht, vor allem, wenn es um Fressen und Gefressen-Werden geht?

Frank ist abgestoßen, aber dann auch wieder fasziniert von der Art seines Großvaters. Und so entsteht diese Geschichte: wie das Muttersöhnchen sich befreit aus dem langweiligen, kleinbürgerlich-braven Mief.

Köhlmeier trifft den Ton des Jugendlichen, die Figur des Jungen wirkt authentisch. Frank räsoniert über dies und das, über Worte, einen Lehrer, den Freund der Mutter, das Kochen – aber das, was die Handlung vorantreibt, spart er in seinen Gedanken aus. Diese fehlende Kausalität hat mich zunächst gestört, bis ich sie als erzählerischen Kunstgriff verstanden hatte. Damit bringt der Autor eine Verzögerung in die Geschichte, die die tatsächlichen Ereignisse dann um so plakativer wirken lässt. Gleichzeitig lässt er seinem Leser Freiräume, die dieser selber füllen kann.

Auf mich wirkte das Erzählen daher wie ein Eisberg: das Wesentliche bleibt ungesagt unter der Oberfläche, schimmert aber durch. Und dieses souveräne Erzählen hat mir hervorragend gefallen.

Bewertung vom 18.01.2023
Einsteins Hirn
Franzobel

Einsteins Hirn


sehr gut

Was für eine bizarre Geschichte!

Franzobel hat sich einen historischen Stoff ausgesucht: die Geschichte des Thomas Stoltz Harvey (1912 – 2007), Chefpathologe des Krankenhauses in Princeton, in dem am 18.4. 1955 Albert Einstein infolge eines Aneurysmas gestorben war. Zu Einstein muss man nicht viel sagen: Nobelpreisträger und zu Lebzeiten schon einer der weltweit bekanntesten Wissenschaftler. Seine Relativitätstheorie revolutionierte die Physik, und die Menschen erfuhren staunend, dass Zeit und Raum keine Konstanten sind, dass der Kosmos sich seit einem Urknall ständig ausdehnt und andere Kosmen neben unserem denkbar sind. Einstein war nicht nur ein genialer Wissenschaftler, sondern wurde wegen seiner pazifistischen Einstellung auch zu einer Pop-Ikone seiner Zeit.

Harvey ist ein freundlicher und gutartiger Mensch, ein frommer Quäker. Er obduziert Einsteins Leiche und entnimmt dabei eigenmächtig Einsteins Hirn, um Forschungen zur Anatomie der Genialität in Gang zu bringen. Dazu fehlen ihm jedoch die Arbeitsmittel und auch die fachliche Kompetenz. Daher zerschneidet er es in zentimetergroße Kuben, die er in Einmachgläsern bei sich zuhause lagert und wiederholt Hirnforschern zur Untersuchung anbietet – vergeblich.

Franzobel ist ein Autor, der penibel recherchiert und für den historische Redlichkeit ein Muss ist. So suchte er alle Orte auf, an denen Harvey lebte und wirkte, und ließ sich von den letzten Zeitzeugen ihre Eindrücke schildern. Daher kann er weit ausholen. Wir lernen Harveys Elternhaus kennen, vor allem seinen frommen Vater und dessen Prügelexzesse, und verfolgen Harveys eher unruhiges Leben. Seine Ehen scheitern, zu seinen Kindern hat er kaum Kontakt, seine beruflichen Tätigkeiten variieren, er verliert seine Approbation und schlägt sich als Nachtwächter und Hilfsarbeiter durch, die politischen Verhältnisse wechseln (und hier kann sich der Autor seine bissige Kritik nicht verkneifen), panta rhei – die einzige Konstante in seinem Leben ist das Zusammensein mit Einsteins Hirn, das er in Einmachgläsern „eingeweckt“ immer mit sich führt. Und hier warten Überraschungen auf den Leser, die ihm Einsteins widersprüchlichen Charakter, seine Gedanken buchstäblich zu Gott und der Welt nahebringen.

Franzobel vermischt originell die historische Realität mit einer Fiktion, wie sie hätte sein können. Seine Sprache ist wie gewohnt bildgewaltig, gelegentlich derb, aber immer wieder blitzt sein Humor durch; „Lungenfachärzte rauchten, und der Proktologe bohrte in der Nase“ (S. 118). Aber ich habe auch sehr anrührende Szenen gelesen, als er z. B. schildert, wie der über 80jährige Harvey, einsam, krank und verarmt, sich ein Zusammensein mit seiner ersten Frau erhofft.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.01.2023
Ein simpler Eingriff
Inokai, Yael

Ein simpler Eingriff


sehr gut

Wann spielt die Geschichte? Und wo? Der Leser bleibt im Unklaren und erkennt, dass es hier nicht um konkrete Verortungen in Raum und Zeit geht

Die Protagonistin Meret, eine junge Krankenschwester, bewegt sich in zwei Mikrokosmen: ihrer Familie und dem Krankenhaus. Ihre Familie wird geprägt durch eine fast unerträgliche Beschränktheit des Wohnraums und vor allem durch den Vater, der uneingeschränkt die Familie beherrscht und seine Aggressionen entlädt in gewalttätigen Übergriffen auf seine Kinder. Der andere Mikrokosmos ist das Krankenhaus, Merets Arbeitsplatz. Zusammen mit vielen namenlosen Krankenschwestern funktioniert sie wie ein Rädchen im Getriebe.

Beiden Mikrokosmen gemeinsam ist ihre streng patriarchalische Struktur und das System von Unterordnung und Gehorsam.

Meret ist als Pflegerin beteiligt an der operativen Behandlung von psychischen Erkrankungen. Die Details der Operation bleiben unscharf, aber der ausführende Arzt verspricht ein besseres Leben nach dem Eingriff. Der Mensch – meist sind es Frauen – würde befreit von unangenehmen Verhaltensweisen. Immer wieder werden Wut und Aufmüpfigkeit als unerwünschtes Verhalten erwähnt, d. h. die Operation hat nicht das Ziel einer Heilung, sondern sie hat das Ziel, Frauen an die gesellschaftlich erwünschten Normen anzupassen, und diese Normen sind von Männern gesetzt. Unerwünschtes Verhalten von Frauen wird operativ eliminiert, und die versprochene Besserung sieht so aus, dass Frauen zu einem klaglos funktionierenden Teil dieser restriktiven Gesellschaftsordnung werden. Für Männer gilt dies offensichtlich nicht, wenn man an Merets Vater denkt.

Meret fügt sich in dieses autoritäre System ein und verteidigt die Notwendigkeit der Anpassung. Bis sie unter dem Einfluss ihrer Geliebten Zweifel entwickelt und einen Ausbruch wagt.

Der Roman wirkt merkwürdig schwebend. Nicht nur wegen der fehlenden zeitlichen und räumlichen Verortung, sondern auch inhaltlich. Der Leser bewegt sich zwischen den beiden Mikrokosmen hin und her. Wir lesen kurze Rückblicke in die Familiengeschichte und Erinnerungen an die geliebte Schwester, Andeutungen über das Schicksal des Bruders – und auch der konkrete Klinikalltag, das Miteinander mit den Kolleginnen, der Kontakt zum Bruder einer Patientin, all das wird nicht klar konturiert, sondern bleibt angedeutet stehen.

Der Sprecherin Lisa Hrdina gelingt es hervorragend, die Ich-Erzählerin lebendig werden zu lassen. Sie trifft den leicht naiven Ton der jungen Protagonistin, und ihre junge Stimme wirkt authentisch.