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Buchdoktor
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Deutschland
Über mich: 
Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
The Longest Way
Rehage, Christoph

The Longest Way


ausgezeichnet

Als Christoph Rehage 2007 in Peking die junge Chinesin Juli kennenlernt, treffen zwei temperamentvolle Persönlichkeiten aufeinander. Mit Rehage geht gern einmal das ungarische Temperament seiner Mutter durch; Juli stammt aus Sichuan, wo die Frauen ebenso feurig sein sollen wie das Essen. Für den Beginn einer Beziehung ist es genau der falsche Moment; denn Rehage hat die Regeln für seine geplante Wanderung von Peking ins niedersächsische Bad Nenndorf bereits festgelegt: ohne Tricks die gesamte Strecke zu Fuß gehen, keinen Alkohol und jeden Tag das Erlebte bloggen. Über die Tour, die "Leike" (chinesisch Eroberer des Donners) dann doch in Ürümqi abbrach, gibt es bereits den Bildband "China zu Fuß". Wer den Bildband kennt, hat dort die wichtigen Wandergefährten Rehages kennengelernt, Onkel Shen, der nach seiner Pensionierung eine Radtour durch China unternimmt und Lehrer Xie, seit 25 Jahren mit einer Art Schäferkarren unterwegs. Im Reisebericht kommt noch Zhu Hui dazu, der selbst aus Ürümqi stammt. Noch in den ersten Tagen sagt Rehage ein Tempelorakel voraus "Du wirst deine Ziele erreichen, deine Geschäfte werden von Erfolg gekrönt sein, und deine Nachkommen werden einen Universitätsabschluss haben." Wenn davon nur Vater Rehage in Deutschland und Juli zu überzeugen wären, die inzwischen in München studiert. Rehage hat Sinologie studiert und in Peking eine Ausbildung als Kamermann absolviert. Der hochgewachsene Deutsche mit der wuchernden Haar- und Bartpracht bringt optimale Voraussetzungen für seine Unternehmung mit: er spricht Chinesisch, hat im Studium chinesische Geschichte gelernt und sieht den Alltag seines Gastlandes mit dem Blick des Fotografen. Auf seiner Tour wird Rehage immer wieder von Privatleuten aufgenommen, weil es in den kleinen Orten kein Gasthaus und erst recht kein Hotel gibt. Er übernachtet in Arbeiterwohnheimen, in einer Lößhöhle und immer wieder im Zelt. Die Fürsorglichkeit und Anteilnahme der Menschen zieht sich wie ein roter Faden durch Rehages Erlebnisse. "Nimm die Medikamente gegen deine Erkältung, am besten nimmst du die chinesische und die westliche Medizin immer abwechselnd," rät der Mann am Kiosk. Ein Vater schickt seinen Sohn, um Rehage auf einer Tagesstrecke zu begleiten, damit der Junge mit dem Fremden sein Englisch übt. Rehage kämpft gegen lädierte Füße, gegen seine Schüchternheit und hin und wieder mit Ausbrüchen seines ungarischen Temperaments. Doch schließlich muss er sich den Sandstürmen der Wüste Gobi stellen und sich entscheiden, was aus ihm und Juli werden soll. Der Abschnitt seiner Tour, der Rehage in den Westen Chinas führt, hat mich am stärksten beeindruckt.

Obwohl ich den Bildband China zu Fuß: The Longest Way schon kannte, habe ich den Reisebericht verschlungen - ein handwerklich vorbildlich gestaltetes Buch mit Lesebändchen und in solider Papierqualität.

Bewertung vom 04.01.2017
Hero
Leeb, Root

Hero


ausgezeichnet

Als mittleres von fünf Kindern hat Nele Wieland es sicher nicht leicht gehabt. Den Anforderungen ihres Vaters, eines Patriarchen wie aus dem Bilderbuch, konnte keines der Kinder genügen. Alle Kinder wurden ins Internat geschickt. Von den Söhnen sollte einer Vaters Nachfolger in der Baustoffhandlung werden, einer sollte ein Studium abschließen und auch die Ehemänner der Töchter und Enkelinnen sollten hautpsächlich Herwig Wielands Vorstellungen entsprechen. (Die erste ungeplante Enkeltochter Annabelle lebte wie ein sechstes Kind bei den Wielands.) "Hero" Wielands Träume konnten seine Kinder nicht für ihn verwirklichen. Zur Hochzeit des jüngsten Wieland-Sohnes Johannes auf Mallorca ist Nele nicht gekommen und erzählt nun aus der Ferne die Familiengeschichte. Sie selbst erfüllt sich mit einem Sprachkurs in Italien einen Traum. Die Hochzeit verläuft nicht so feudal wie vermutet. Die Braut ist hochschwanger, das Hotel, in dem gefeiert wird, gehört sowieso ihrem Vater - und Hero ist schwer krank. Gerade bis zur Hochzeit hielt die Fassade der großen Familie, von der Hero sich einmal Schutz und Sicherheit erhoffte.

Doch nun bröckelt es an allen Ecken und Enden. Hero muss sich nicht nur seiner Krankheit stellen; er hinterlässt in Betrieb und Familie alles andere als geordnete Verhältnisse. Er hat bisher weder ein Testament noch eine Patientenverfügung verfasst. Seine Schwester Josepha wurde von Hero finanziell über den Tisch gezogen; bis zu ihrem Tod sorgte er nicht für klare Verhältnisse. Ein Brief, den Josepha Nele hinterlässt, bringt Neles Familienbild endgültig zum Kippen, als sie nach Josephas Tod erkennt, warum sie, das Sandwich-Kind, sich in der Familie immer als Fremdkörper gefühlt hat. Heros Frau Agnes schwieg in der Vergangenheit meistens und flüchtete in Aktivitäten außerhalb der Familie als Stütze der Kirchengemeinde. Man könnte glatt annehmen, dass Heros schwere Krankheit nun für Agnes Erleichterung bringt. Hero selbst, der sich bisher nie etwas anmerken ließ, will plötzlich Ruhe, Ruhe vor Ärzten, vor Angehörigen und deren nicht enden wollenden Ratschlägen. Als Mann mit Familie hat er noch nicht einmal die Freiheit, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Nele liebt einen älteren, verwitweten Nigerianer. Für Ken sind Neles Familiengeschichten schwer zu begreifen. Warum diese Distanz in einer Familie, warum folgt Nele nicht einfach ihren Gefühlen? Aus ihrer distanzierten Position erkennt Nele als erste in der Familie, dass Hero seine Krankheit nicht überleben wird. Werden die Wielands, die unter Heros Fuchtel stets die Fassade wahren wollten, mit ihrem Familienoberhaupt über sein Sterben sprechen können?

Neles Beschreibung der Familienverhältnisse aus der Ferne und in Ich-Form wirkt in kurzer, protokollarischer Sprache zunächst sehr kühl, fast schon zynisch. Es fällt schwer zu glauben, dass das Ende ihrer Illusionen sie so wenig berührt, wie sie es die Leser glauben lässt. Die Perspektiven der Geschwister und ihrer Kinder ergänzen Neles Beobachtungen zum Psychogramm einer Familie, in der eine ganze Generation vergeblich um die Aufmerksamkeit des Vaters gerungen hat. Root Leebs Charakterisierung eines Patriarchen und seines Gefolges wirkt in ihrer Klarheit vertraut aus eigenen Familiengeschichten und doch erschreckend.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Farbe der Reue
Jacobsen, Roy

Die Farbe der Reue


gut

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Hans Larsen wird nach zehn Jahren Haft vorzeitig entlassen. Er ist 72 Jahre alt und geht dem norwegischen Sozialstaat irgendwie verloren. Larsen lässt sich von seinem ehemaligen Arbeitgeber im Hafen wieder als Tagelöhner anstellen; seinen Lohn bekommt er täglich schwarz auf die Hand. Raub, Körperverletzung, Betrug, Larsen hat kaum eine Straftat ausgelassen. Nun ist sein Arbeitgeber sein einziger Kontakt. Nachdem sein Chef ihm eine Wohnung vermittelt hat, entsteht eine besondere Abhängigkeit zwischen Larsen und ihm. Schon zu Beginn seiner Haft starb Larsens Frau. Er erfährt davon aus einem Brief seiner Tochter Marianne, die offenbar den Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Marianne arbeitet in einer Wäscherei und ist Mutter einer kleinen Tochter. Marianne wirkt labil, immer an der Grenze zu einer psychischen Störung. Banale Ereignisse können einen normalen Tag in eine persönliche Katstrophe für Marianne verwandeln. Zwischen Vater und Tochter stimmt es ganz und gar nicht, aber Roy Jacobsen lässt seine Leser über den Grund so lange im Ungewissen, dass ich schon kurz davor war, das Buch abzubrechen. Einer Annäherung an die Protagonisten stand eine dicke Milchglasscheibe aus ungelösten Fragen im Wege. Der abgerissenen Beziehung zwischen Vater und Tochter war einfach nicht auf den Grund zu gehen. Als Larsen nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus liegt, lernt er Agnes und ihren Mann kennen. Trotz seines hohen Alters nimmt Larsen bei Agnes eine Stelle als Hausmeister & Hausfreund an. Das Paar ist wohlhabend, das Grundstück riesig, alles wirkt eine Nummer zu groß für einen Ex-Knacki. Agnes ist deutlich auf der Suche nach einer Familie, interessiert sich für Mariannes Lebensumstände; Larsen sucht womöglich unbewusst ebenfalls Anschluss. Die Handlung nimmt eine überraschende Wendung und der Autor zieht schließlich eine Erklärung für das gestörte Vater-Tochter-Verhältnis aus dem Hut. Nach einer Hängepartie in der ersten Hälfte habe ich den Roman doch noch mit Vergnügen zu Ende gelesen, als er sich zum Schelmenstück mit dem Titel Ein Mann und eine junge Mutter gegen den Sozialstaat entwickelt. "Die Farbe der Reue" hat in angenehm zu lesender Sprache Selbstbetrug, Sprachlosigkeit und das vorgefasste Bild zum Thema, das wir uns oft von anderen Menschen machen.

Zitat "Marianne mochte diese Wohnung. Sie hatte drei Zimmer und eine Küche, sie war perfekt für sie und Greta, ein Zuhause, mit Topfpflanzen, Spiegeln, Regalen, einem von ihrer Mutter geerbten Eckschrank, dem Wohnzimmertisch von der Großmutter, Strickwolle in verschiedenen Körben, Steingutschalen und gerahmten Fotografien von Greta auf einem Pferd, und ihren aufgeschlagenen Schulbüchern neben dem PC auf dem Esstisch. Es war sauber, es war ordentlich, erst gestern frisch gesaugt, sogar Greta hatte aufgehört mit ihrer Unordnung, und Marianne saß auf dem breiten IKEA-Sofa, während der Regen auf den Balkon herunterprasselte und nichts geschah, bis der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und Greta hereinkam und sie durch ihr klatschnasses Haar hindurch breit anlächelte und erzählte, dass sie in den Pfützen herumgeplantscht und die Jungen nassgespritzt hätten - da war es halb drei, und Marianne registrierte, dass ihre Tochter für die fünfhundert Meter von der Schule nach Hause eine halbe Stunde gebraucht hatte, ohne dass Mama reagiert hatte." (S. 264)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Atem der Welt
Birch, Carol

Der Atem der Welt


ausgezeichnet

Kinder wie Jaffy Brown lernen im London des 19. Jahrhunderts auf der Straße fürs Leben. Der Achtjährige teilt sich mit seiner Mutter ein Zimmer mit zwei Prostituerten, für die er gegen Bezahlung Botengänge übernimmt. Schmutzig, hungrig und barfuß sucht der Junge in den offenen Abwasserkanälen nach Penny-Stücken. Über dem Viertel nördlich der Themse, das später East End genannt wird, hängen die Gerüche der Gerbereien wie eine Glocke. Jaffy wird mitten auf der Straße von einem gewaltigen bengalischen Tiger geschnappt und ein Stück mitgeschleift. Dieses (historisch belegte) Ereignis führt zur Bekanntschaft des Jungen mit dem Tierhändler Mr Jamrach, der Jaffy Arbeit in seiner Menagerie verschafft (die ebenfalls ein historisches Vorbild hat). Das Mistschaufeln übernimmt Jaffy zusätzlich zu seinem Job als Schankjunge im Spoony Sailor. Vom Besitzer des Pubs erhält Jaffy ein Paar Schuhe - vermutlich die ersten seines Lebens. Jaffys Kollege in Jamrachs Menagerie ist Tim Linver. Vom ersten Tag an kann der Junge sich darüber aufregen, dass Tim nur arbeitet, wenn der Chef gerade hersieht und trotzdem von beiden den besseren Job im Büro ergattert. Jaffy hegt erbitterte Eifersucht gegen Tim und ist dennoch fasziniert von dessen Entschluss zur See zu fahren wie seine Brüder.

Charles Jamrach stattet im Auftrag eines betuchten Kunden die "Lysander" für eine Expedition aus, auf der einer der letzten Wale gefangen und aus Indonesien ein "Drache" nach England gebracht werden soll. Noch niemand hat das Tier, eine Art Waran, gesehen, aber Seeleute berichten, dass sie jemanden getroffen haben, der jemanden kennt, der das unheimliche Wesen gesehen hat. Jaffy heuert als Fünfzehnjähriger auf der Lysander an und entdeckt, dass er sich wohl schon seit der Zeit im Mutterleib nach dem Meer gesehnt haben muss. Voller Bewunderung sieht er zu den wenigen erfahrenen Seeleuten an Bord auf, wie zu Dan, der sich auf den Azoren in einer fremden Sprache verständigen kann. Die Beziehung zu Tim bleibt von Jaffys Eifersucht geprägt, der überzeugt ist, der bessere Seemann zu sein. Die Jagd auf den Waran ist kaum weniger gefährlich und blutrünstig als der Fang des Wals. Auf der Heimreise gerät die Lysander in einen heftigen Sturm und die Mannschaft erlebt einen Schiffbruch, der den Erlebnissen der Besatzung des Walfängers Essex (1820) nachempfunden ist. In dieser Geschichte gibt es keine Helden, es geht nur darum zu überleben, ohne dabei wahnsinnig zu werden. "Alldies ist schon sehr lange her ...", mehrere kurze Einschübe verdeutlichen, dass der Erzähler Jaffy inzwischen am Ende seines Lebens seine Erinnerungen zum Besten gibt. Nach seiner Rettung hat er schließlich in relativer Sicherheit in London sein Auskommen als Zeichner gefunden.

Die Welt der Seefahrt und des Walfangs lässt Carol Birch ihren Jaffy sehr nüchtern und in drastischem Jargon schildern. Die Fabulierlust der Autorin hat mich beeindruckt, mit der sie auf nur zwei Seiten die Atmospähre im London des Jahres 1857 hervorzaubert. Jaffys Reise verläuft längst nicht so exotisch wie das Abenteuer mit dem Tiger vermuten lässt, und die erneute Aufarbeitung des Untergangs der Essex hat mich nicht besonders gefesselt. Dennoch war Jaffys Entwicklung vom barfüssigen Kind, das durch die Fussbodenritzen des Hauses die Themse blitzen sieht, zum weitgereisten Seemann die passende Unterhaltung für ein gemütliches Lesewochenende.

Bewertung vom 04.01.2017
Geister, Cowboys
Watkins, Claire Vaye

Geister, Cowboys


ausgezeichnet

Claire Vaye Watkins stammt aus der unmittelbaren Umgebung des Death Valley und der Stadt Las Vegas. Die Wüste Nevadas und die Schicksale von Glückssuchern der Vergangenheit und Gegenwart sind Themen ihrer Erzählungen. Im Mittelpunkt des Bandes steht mit einem Umfang von 60 Seiten das Schicksal der Brüder Erol und Joshua, die vom Goldrausch angesteckt, aus Ohio nach Kalifornien kommen (Die Gräber). Erol will reich werden, um Marjorie heiraten zu können. Der Ich-Erzähler Joshua rettet durch seine Vorahnungen sich und seinen Bruder vor dem Tod in einem Schneesturm. Wenn Joshua übersinnliche Fähigkeiten hat, sollte er doch wohl eine Goldader finden und damit den Brüdern die endlose Qual schmerzender Knochen, von Läusebissen und Angst vor Grizzly-Bären ersparen können? Um sich selbst zu retten, müsste Joshua den vor Gier wahnsinnigen Erol alleinlassen. Aber wie könnte er mit dieser Nachricht seiner Mutter entgegentreten?

Eine enge Verknüpfung zur Biografie von Watkins Vater hat die titelgebende Geschichte "Geister, Cowboys", die von der Gründung der Stadt Reno berichtet und über Spahns Ranch, seit den 40er Jahren Kulisse bekannter Western-Filme. Welch beklemmende Vorstellung, dass zu Watkins Familiengeschichte auch die Atomversuche in der Wüste Nevadas zählen, die ihre Mutter im Alter von drei Jahren miterlebte.

In "Man-O-War" zeichnet Watkins meisterhaft die Atmosphäre der Wüste. Bud Harris, der mit seinem Hund am Rande einer Salzwüste lebt, rettet nach einer Fete der bewusstlosen Magda das Leben. Der alte Mann genießt es, nach langer Zeit allein nun einen Gast im Haus zu haben. Bud hat sich hier in der Hoffnung auf eine mikroskopisch dünne Goldader angesiedelt. Die Minderjährige ist schwanger und wird gleich am nächsten Morgen von ihrem religiösen und zugleich unberechenbar gewalttätigen Vater abgeholt. Bud kennt Castaneda, Magdas Vater, von der gemeinsamen Arbeit in der Mine. So wird Bud aus Gutmütigigkeit Opfer der sonderbaren Familienverhältnisse des Mädchens. In "Virginia City" streift Watkins am Rande ebenfalls extreme religiöse Ansichten ihrer Protagonisten. Danny, Julie und die Erzählerin Iris führen in wechselnder Besetzung eine Beziehung zu dritt. Von Danny wird erzählt, dass seine Eltern heimlich heirateten, um dem Einfluss der Zeugen Jehovas zu entkommen. Moderne Abenteurer sind in der Region um Las Vegas ihrem privaten Glück auf der Spur (Wish you where here, Die Archivarin), setzen als Touristen leichtfertig in der Wüste ihr Leben aufs Spiel (Imperfekt) oder suchen ihr Auskommen als Prostituierte.

Wartkins Erzählungen von der Suche nach individuellem Glück fügen sich zu einem vielseitigen, leicht melancholisch hinterlegten Bild ihrer unmittelbaren Heimat.

Bewertung vom 04.01.2017
Schlangenhaut
Smith, Rosamond

Schlangenhaut


ausgezeichnet

Lee Roy Sears ist als Veteran des Vietnamkriegs versehrt und drogenabhängig in seine Heimat zurückkehrt. Aus der Armee wird Sears nach einer Prügelei unehrenhaft entlassen und 1983 wegen Mord zum Tode verurteilt. Sears hat die Tat begangen, doch das Urteil ist angesichts der schwachen Beweislage ungerecht. Sears' Pflichtverteidiger vermasselt den Fall, weil er das Zusammenwirken von Sears Posttraumatischer Belastungsstörung und Agent Orange vor Gericht nicht plausibel darlegen kann. Als Sears angeklagt wird, sind in den USA bereits kritische Zeitungsartikel erschienen über den Zusammenhang zwischen der auffälligen Gewaltneigung unter Vietnam-Veteranen, ihrer PTBS und der Wirkung des von den US-Streitkräften in Vietnam eingesetzten Entlaubungsmittels. Der Jurist Michael O'Meara erreicht als ehrenamtlicher Vertreter einer Bürgerrechtsinitiative wegen Verfahrensmängeln für Sears die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe. Sears wird überraschend nach wenigen Jahren aus der Haft entlassen, weil er sich im Gefängnis therapiewillig und gottesfürchtig gegeben hat. Michael ist inzwischen in der Rechtsabteilung eines Pharmakonzerns beruflich aufgestiegen, Vater eines Zwillingspaars und von der Freilassung seines damaligen Schützlings ziemlich überrumpelt.

Früh heizt Rosamond Smith (d. i. Joyce Carol Oates) die Spannung kräftig an durch rätselhafte Andeutungen auf Michaels Herkunfts-Familie, die von einem düsteren Geheimnis umwabert sein könnte, und auf andere als ehrenhafte Motive, die Michael gehabt haben könnte, um sich damals so flammend für Sears einzusetzen. Sears bekommt einen von liberalen Schöngeistern finanzierten Job, um mit traumatisierten Vietnam-Veteranen kunsttherapeutisch zu arbeiten. Obwohl Michael beruflich mit mehreren Schadenersatzklagen in Millionenhöhe wegen unberechenbarer Nebenwirkungen von Psychopharmaka zu tun hat, realisiert er nicht, auf welch gefährliches Spiel er sich mit dem Kontakt zu Lee Roy eingelassen hat. Der entlassene Häftling, der regelmäßig Medikamente nehmen muss, wirkt mit seinen Problemen alleingelassen. Außer Michael kümmert sich nur ein gutmütiger Bewährungshelfer um Sears. Der Mann, der als Findelkind die übliche Odyssee zwischen Pflegestellen und Erziehungsheim durchlief, findet es an der Zeit sich endlich Respekt zu verschaffen - und zwar besonders bei Frauen. Michaels Frau Gina, gelangweilt, wohlhabend und nicht allzu gebildet, ist in dieser Konstellation nicht nur keine Hilfe, sondern heizt die gefährliche Situation in ihrer Blauäugigkeit weiter an. Nicht nur Lee Roys gewaltiges Schlangen-Tattoo auf dem Unterarm sorgt für gepflegten Schauer, sondern auch die schwierige Persönlichkeit Michaels. Vordergründig glücklich und erfolgreich, wirkt Michael in Privat- und Berufsleben wie ein Träger zu groß geratener Kleidungsstücke. Michael hat sowohl eine Ausbildung zum Pfarrer wie auch ein Medizinstudium abgebrochen. Er wird von unerklärlichen Selbstzweifeln und diffusen Schuldgefühlen angetrieben, Gutes zu tun.

Wenn auch die Konstellation blauäugiger Gutmenschen, die dem realen Leben nicht gewachsen sind, stark an Lockender Engel erinnert, ist Rosamond Smith mit "Schlangenhaut" ein weiterer fesselnder Psycho-Thriller gelungen.

Bewertung vom 04.01.2017
LG;-) Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen (eBook, ePUB)
Pauer, Nina

LG;-) Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen (eBook, ePUB)


sehr gut

An einem Vierertisch im ICE treffen Anna und ihre Mutter Ulla zufällig mit Markus zusammen. Markus und Anna drängten bereits mit dem Smartphone am Ohr in den Zug. Anders als Ulla fühlt die junge Generation sich während der Bahnfahrt verpflichtet, für Kollegen und Freunde telefonisch und per Mail erreichbar zu sein. Seit Markus und sein Geschäftspartner Julian von zwei Wohnorten aus gemeinsam Social-Media-Auftritte organisieren, ist für Markus die Bahn Arbeitsplatz. Markus, der Vater eines kleinen Sohnes ist, fühlt sich in dieser Zeit von privaten Anrufen seiner Frau gestört. Auf Facebook unterwegs zu sein ist für Markus und Julian keine Freizeitbeschäftigung. Der persönliche Vorteil, von überall aus arbeiten und kommunizieren zu können, wird von "kreativ Tätigen" mit der Fron der Präsenzpflicht und der nicht endenden Suche nach Kontakten und Impulsen erkauft. Mit Anfang dreißig hat Markus bereits einen Zusammenbruch hinter sich, nach außen mühsam mit dem neuen Euphemismus "Infektionskrankheit" für Burnout kaschiert. - Anna ist teils beruflich, teils privat unterwegs, stets "auf 14 Kanälen zu erreichen". Sie hat sich selbst den Druck auferlegt, rund um die Uhr die Statusmeldungen ihrer virtuellen Existenzen sofort abzurufen und darauf zu reagieren. Sichtlich genervt, versucht Anna zwischen den Funklöchern auf der Bahnstrecke einige für Außenstehende banal klingende Telefongespräche zu führen. Außer der Suche nach einer Netzverbindung, vordergründig höflich sucht sie die Verbindung vom Gang aus, hat Anna nach einigen Stunden Fahrt noch nichts erledigt und nur weinge Sätze mit ihrer Mutter gesprochen. Auch Annas Privatleben findet im Social Web statt, dort hält sie Kontakt zu einem alten Freund und einer neuen Flamme. In Annas Leben sind die Menschen zu Jenga-Klötzen geworden, die ständig neu gestapelt werden und in jedem Moment das Bauwerk zum Einsturz bringen können. - Nina Pauer (Jahrgang 1982) stellte schon als Achtjährige fest, dass Besitz zur Voraussetzung für Kommunikation werden kann. Als ihr Brieffreund ihr von "Zelda" berichtet, kann sie nur mithilfe der Erklärung des Konsolenspiels durch ihren Klassenkameraden Martin ihre Wissenslücke vertuschen. Den Gameboy erlebt Pauer damals als "ein Jungsding", dessen Besitzer mehr wissen und einfach besser sind. Bereits in Pauers Jugend bahnt sich die Entscheidungsschwäche an, die wir an Anna und Markus beobachten konnten. Alle Augenblicke des Lebens wurden als groß und mitteilenswert genug angesehen, um auf VHS aufgezeichent zu werden. In Annas Leben werden Momente allein dadurch wichtig, dass sie mit anderen geteilt werden. Die Kommunikation über das, was man vielleicht einmal miteinander tun könnte, frisst Annas Freizeit, in der sie im realen Leben Freunde treffen könnte. ... Nina Pauer konfrontiert uns mit einer Generation der Patchwork-Identitäten, die mittels moderner Kommuikationsmethoden Entscheidungen in Beziehungen bis zur letzten Minute hinauszögert, um die ultimative, wirklich wichtige Begegnung nicht zu verpassen. Das Taktieren um den richtigen Zeitpunkt ersetzt in Annas Leben längst reale Kontakte. Annas Situation schreibt die Autorin nicht weiter fort. Falls Anna sich denn dazu entscheiden könnte, wird eines Tages ihr Kind erleben, dass seine Mutter ihm nicht ins Gesicht sieht, während sie mit ihm spricht und dabei in ein kleines Kästchen tippt. - Die launige Bestandsaufnahme unterhält, trägt zum Überwinden des Grabens zwischen Moloch und Pampa jedoch wenig bei. Dazu müssten die Gegenspieler der Hauptfiguren (Markus Frau Lena und Ulla) als ernstzunehmende Gesprächspartner und weniger klischeehaft dargestellt sein.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Zeit, die uns bleibt
Okada, Toshiki

Die Zeit, die uns bleibt


sehr gut

Zwei Erzählungen - zwei unterschiedliche Milieus. Kurz vor der Invasion der USA in den Irak (2003) sind einige junge Leute, teils schon angetrunken, in Tokio unterwegs. Ein Mann und eine Frau treffen sich während einer Performance ausländischer Künstler. "Hier war eben Japan." (S. 33) Die kulturellen Unterschiede zwischen Japan und der westlichen Welt werden durch die Performance deutlich und in der unterschiedlichen Art, in der in Japan und anderswo gegen den bevorstehenden Krieg demonstriert wird. Ohne die ausländischen Besucher wäre der Irak-Krieg in Japan ein Thema weniger Demonstranten geblieben. Das Paar, das sich hier zum ersten Mal trifft, stellt sich einander noch nicht einmal vor, Miffy nennt einer von beiden sich mit seinem Usernamen. Beiläufig und beinahe wortlos, als würden sie nur ein Bier miteinander trinken, landen die zwei in einem Taxi nach Shibuya, um dort in einem Love-Hotel einzuchecken. Eigentlich gehört es sich nicht, dass der Taxifahrer so genau mitbekommt, was sie vorhaben, aber sehr wichtig scheint ihnen die Wahrung der Fassade nicht zu sein. Vier Nächte und fünf Tage verbringen die beiden ohne Kontakt nach außen im Hotel, das sie nur verlassen, um eine Kleinigkeit zu essen zu kaufen. Länger hätte das gemeinsame Geld nicht gereicht. Man könnte auf die Idee kommen, dass das Paar erst Sex haben muss, um danach miteinander reden zu können. Als sie das Hotel verlassen, hat der Irakkrieg begonnen; die Beziehung der beiden ist zu Ende. - Die zweite Geschichte erzählt Okada aus der Sicht einer Frau, die aus der Vogelperspektive beschreibt, was ihr abwesender Mann gerade tut. Die beiden sind um die dreißig und führen eine (für Japan klassische?) Beziehung, in der der Mann Geld zu verdienen hat und seine Frau das Recht beansprucht, an seinen Ernährer-Qualitäten herumzunörgeln. Die Icherzählerin hängt zu Hause herum und wird sich später krank melden, weil sie zu ihrem Job in einem Callcenter keine besondere Lust hat. Ihr Mann arbeitet nachts als Koch und beginnt jeden Morgen sehr zeitig seinen zweiten Job in einem Drogeriemarkt, ohne zwischendurch zum Schlafen nach Hause zu kommen. Die "Dankbarkeit" seiner Frau drückt sich in den Nachrichten aus, die sie ihm auf sein Handy schickt. Das trübselige Zimmer, das beide bewohnen, wird beherrscht vom Laptop der Frau, mit dem sie ständig online ist auf der Suche nach interessanten Blogs. Am liebsten liest sie Blogs von Menschen, die wie sie selbst mit schwierigen Kunden zu tun haben. Sie kann dabei nicht von der Idee lassen, dass auch ihr Mann bloggt und sie erfahren würde, was er über sie denkt, wenn sie nur sein Blog finden könnte. Wenn die Erzählerin zwischendurch ihren Mann aus der Vogelperspektive beobachtet, wie er mit dem Kopf auf der Theke seines Restaurants schläft, fragt man sich, wann der arme Mann zwischen seinen Jobs die Zeit zum Bloggen finden soll. - Beide Erzählungen treten durch die gewundenen, endlos wirkenden Sätze hervor, die in eigenartigem Kontrast zu den banalen Ereignissen stehen, die sie beschreiben. Erzähler, Erzählperspektiven und die Tonlage wechseln häufig, ohne dass sofort klar ist, wer gerade erzählt. Aus einigen Szenen tritt der Beobachter förmlich heraus und in Distanz zum Geschehen. - Der schmale Band ist Lesern mit Interesse am modernen Japan empfohlen.

Bewertung vom 04.01.2017
China in zehn Wörtern
Yu Hua

China in zehn Wörtern


sehr gut

Yu Huas Konzentration auf zehn chinesische Begriffe ist ein Hingucker - und sie irritiert auf den ersten Blick durch die ungewöhnlich Auswahl der Wörter. Nicht "Liebe", "Drache" oder "Reich der Mitte", Yu Hua betitelt seine biografischen Notizen u. a. mit "Unterschied", "Graswurzeln" und "Gebirgsdorf". Der chinesische Autor sieht seine 2009 entstandenen Texte als Ergänzung zu seinem Roman Brüder (2009). Dieser Roman sei aus dem Zusammenprall zweier Epochen entstanden, die sich in Europa über 400 Jahre erstreckten und in China auf 40 Jahre komprimiert waren. Aktuelle Probleme Chinas gleich zu Beginn mit der Figur Maos und den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens (1989) erklären zu wollen, mag zunächst rückwärtsgewandt wirken. Um zu verstehen, aus welchem kleinen Jungen später der Mann werden sollte, der u. a. Der Mann, der sein Blut verkaufte (2000) schrieb, ist der Blick zurück in die Mao-Zeit unerlässlich. Yu Huas Generation lernte in der Schule "Mao" und "Volk" pinseln, noch ehe sie ihren eigenen Namen schreiben konnten und damit zuerst die Stereotypen ihrer Zeit. Das sehr persönliche Kapitel "Lesen" hat mich neben Yu Huas hochironischer Beschreibung des Raubtierkapitalismus chinesischer Prägung am stärksten beeindruckt. Die Szene, in der nach Jahren der Bücherzerstörung während der Kulturrevolution endlich wieder Klassiker zu kaufen waren und die Menschen schon nachts anstanden, um einen der nur 50 Bezugsscheine (für die ganze Stadt) zu ergattern, waren für mich Grundlage zum Verständnis der Romane Yu Huas. Im Kapitel "Schreiben" erläutert Yu Hua, warum blutige und gewalttätige Szenen in seinem Werk so breiten Raum einnehmen. Die Entwicklung vom Barfuß-Zahnarzt, dem von einem älteren Kollegen innerhalb von drei Tagen das Zähneziehen beigebracht wurde, erleichtert das Verständnis einiger Romanszenen, die manchem grotesk überzeichnet vorkommen werden. Mit "Unterschied", Yu Huas Beschreibung des tiefen Grabens in der chinesischen Gesellschaft zwischen Arm und Reich und "Gebirgsdorf", der Beschönigung krimineller Taten aller Art, nimmt Yu Huas ironische Darstellung des modernen China einen deutlich kritischen Ton an. Eng verknüpft ist seine Ironie mit der Uneindeutigkeit der chinesischen Sprache, mit der man verschlüssselt etwas ausdrücken und zugleich darauf vertrauen kann, dass das Gegenüber ahnt, was man in Wirklichkeit sagen will.

Wenn Sie sich bisher wegen grausamer Szenen aus der jüngsten chinesischen Geschichte noch nicht an Yu Huas Romane herangetraut haben, könnte diese biografische Ergänzung Sie ermutigen, den Versuch zu wagen. Überraschend, wie der Klappentext verspricht, sind Yu Huas Einblicke nicht; sie beeindrucken jedoch hinter ihrer Schutzhülle aus Ironie durch ihre Direktheit.

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