Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 06.03.2022
Kazimira
Leiber, Svenja

Kazimira


gut

Baltisches Epos

Der neue Roman von Svenja Leiber weist mit dem slawischen Frauennamen «Kazimira» als Titel auf eine starke Frau als Protagonistin hin. Auf dem Umschlag ist Bernstein abgebildet, ein einst beliebter Schmuckstein, in dessen Abbaugebiet an der Kurischen Nehrung die Handlung räumlich angesiedelt ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von der Reichsgründung 1871 über beide Weltkriege bis 1945, und ergänzend ist dann auch noch ein Handlungsstrang im Jahre 2012 mit eingebaut.

Die mit einem Bernstein-Schnitzer verheiratete Titelheldin hat eine geniale Idee. Man könnte doch, erklärt sie ihrem Mann, das mühsame und verlustreiche Säubern der landeinwärts geförderten, aber stark verschmutzten Steine mit Hilfe einer künstlich erzeugten Brandung erledigen. In der würden sie dann automatisch ebenso sauber gewaschen werden wie die Zufallsfunde am Strand ja auch. Der jüdische Unternehmer Hirschberg greift diese Idee gerne auf und begründet damit in Weststrand, dem heutigen russischen Jantarny, eine lukrative Bernstein-Förderung im großen Stil, die ihm und auch seinen Arbeitern einigen Wohlstand bescheren. Neben diesem primären Handlungsstrang erzählt die Autorin im Rahmen einer breit angelegten Familiengeschichte über vier Generationen hinweg auch vom Ringen ihrer Heldin um Anerkennung und ein frei bestimmtes Leben. Sie will partout «kein Kindchen» und bekommt doch eins. Auch eine lesbische Episode wird erzählt, in der Kazimira die in ihr schlummernden, männlichen Anlagen entdeckt und mit einer Freundin auslebt. Als sie sich aber die Haare kurz schneidet und Hosen trägt, löst das einen Skandal aus, sie wird fortan von allen geächtet. Und auch der zunehmende Antisemitismus in Ostpreußen wird thematisiert. Die Unternehmer-Familie wird immer öfter angefeindet, verkauft schließlich den Betrieb und flieht in das vermeintlich weltoffenere Berlin, - bis die Nazis an die Macht kommen.

Es gibt als Binnenhandlungen etliche weitere Geschichten, von denen am meisten bedrückend die von Kazimiras Urenkelin mit Down-Syndrom ist. Eines Tages wird das Kind unter falschen Versprechungen zu einem Heimaufenthalt abgeholt. Sie kommt nie wieder, denn in Wahrheit fällt sie für die Nazis in die Kategorie «lebensunwertes Leben». Auch ein SS-Massaker kurz vor Kriegsende wird thematisiert, die greise Kazimira ist hilflose Zeugin des Mordens. Und die nachrückenden Russen bringen bald wieder neues Unheil. Ein weiterer Handlungs-Strang im Jahre 2012 berichtet von einem plötzlichen Boom für Bernstein. Nachdem dieser Anfang des Jahrhunderts völlig aus der Mode gekommen war und die Förderung eingestellt wurde, entstand durch die hohe Nachfrage aus China ein neuer Markt mit hohen Profiten. An denen wollen auch Kazimiras Ururenkelin und ihr Mann beteiligt sein, sie werden dabei aber in kriminelle Machenschaften hinein gezogen.

Das Leben in diesem abgelegenen Landstrich Ostpreußens wird sehr anschaulich, detailliert und teilweise in geradezu poetischen Sätzen beschrieben, man fühlt sich mittendrin im Geschehen. Allerdings ist es ein gewagtes Unterfangen, eine Familiengeschichte über mehr als ein Jahrhundert in all den gravierenden historischen Umbrüchen zu spiegeln. Zumal eine kaum noch überschaubare Anzahl von Figuren in immer neuen Episoden und unterschiedlichen Handlungs-Strängen auftritt. Die werden für sich genommen alle einfühlsam erzählt und sind zudem bereichernd, in Summe aber ist der Plot dadurch deutlich überfrachtet. Nicht zuletzt stören auch die vielen Zeitsprünge, sie tragen nicht gerade zu einem angenehmen Lesefluss bei und erfordern immer wieder ein lästiges gedankliches Umschalten. Svenja Leiber erzählt in weiten räumlichen und zeitlichen Bögen eine Geschichte, die in Teilen von Grausamkeiten berichtet und dann wieder, fast schon lyrisch, eine scheinbar heile, ländliche Welt beschreibt, die in eine raue Natur eingebettet ist. Leider ist es ihr nicht gelungen, ihre überbordende Stofffülle zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.

0 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.03.2022
Brooklyn soll mein Name sein
Lago, Eduardo

Brooklyn soll mein Name sein


ausgezeichnet

Kontemplative Hochliteratur

Als Roman eines Romans ist «Brooklyn soll mein Name sein» von Eduardo Lago, der nun erstmals auch auf Deutsch vorliegt, ein typisch selbst-referenzielles Werk, das insbesondere auch die Lust und den Frust beim Schreiben thematisiert. Der in Deutschland weitgehend unbekannte, in Madrid geborene und in New York lebende Schriftsteller und Hochschullehrer gewann für seinen kritischen Vergleich dreier spanischer Übersetzungen des «Ulysses» den ältesten und prestige-trächtigsten spanischen Literaturpreis, den ‹Premio Nadal›. Er ist zudem Gründungs-Mitglied des ‹Order of Finnegans›, kein Wunder also, dass sein grandioser erster Roman als intellektuelle Hochliteratur in manchem an James Joyce erinnert.

Mit «Die Toten leben einzig in uns» als Begleitzitat von Marcel Proust beginnt der Roman am ‹Fenners Point›, einem längst aufgelassenen Friedhof von dänischen Matrosen, die einst an dieser gefährlichen Steilküste des Atlantiks zu Tode kamen. Nur mit einer Sonder-Genehmigung darf der Schriftsteller Gal Ackerman dort, seinem Wunsch entsprechend, bestattet werden. Ich-Erzähler des Romans ist sein bester Freund, der von seinen Freunden nur Ness genannte Journalist Néstor Chapman. Er hat Gal versprochen, dessen unvollendeten Lebens-Roman an Hand des hinterlassenen Materials unter dem Titel «Brooklyn» fertig zu schreiben. So wollte Gal post mortem erreichen, dass seine seit Jahren verschollene, große Liebe, die in Sibirien geborene Pianistin Nadja Orlov, ihn als Einzige lesen kann. Es gibt mehrere Erzählstränge in diesem Roman, einer davon ist die Amour fou mit der deutlich jüngeren, geheimnisvollen Nadja, ferner die Herkunfts-Geschichte von Gal, die er erst mit 14 Jahren erfährt und die ein düsteres Geheimnis birgt. In einer Bar in Brooklyn, dem Oakland, laufen viele weitere Handlungsfäden zusammen. Dort ist quasi der Lebens-Mittelpunkt nicht nur für den Ich-Erzähler, sondern auch für eine illustre Schar von Stammgästen verschiedenster Couleur. Unter ihnen viele Seeleute, kaputte Typen, Getriebene, Aussteiger und Gestrandete, die untereinander ein enges Gefecht von Beziehungen und Abhängigkeiten verbindet, - und ein unbändiger Durst auf Alkohol, der nicht selten in Trunkenheits-Exzessen endet. Weitere Episoden beschäftigen sich zum Beispiel mit dem Chelsea, einem legendären Hotel mit berühmten Gästen, oder mit Coney Island und seinen Attraktionen, einst «Insel der Träume» für den jungen Gal.

Quelle für all diese Episoden ist die «letzte Ruhestätte», Gals unerschöpfliches Archiv direkt über der Bar, wo er geschrieben hat und woher nun all die Tagebücher, Briefe, Notizen und Zeitungs-Ausschnitte stammen, die Ness als sein Testaments-Vollstrecker in den Roman einbringt. Mit einer ausgeprägten Intertextualität verbunden sind hier außer den Schriftsteller- auch viele Künstler-Geschichten. Gal hat Thomas Pynchon und Dylan Thomas im Chelsea getroffen, und er berichtet zum Beispiel auch vom Freitod des manisch-depressiven Mark Rothko in seinem Atelier.

Es ist nicht leicht, sich in diesem Mikrokosmos des Autors zurechtzufinden, weil eine Überfülle von Motiven, Szenen und Gedanken auf den Leser einstürzt und zum Verständnis dessen volle Konzentration fordert. Ein wenig hilft dabei das angeschlossene Register, das in der Reihenfolge ihres Erscheinens nicht weniger als 148 Personen verzeichnet, womit sogar Dostojewskis «Krieg und Frieden» in den Schatten gestellt wird. Hilfreich ist auch eine Chronologie der Ereignisse in Kurzform sowie ein siebenseitiges Glossar mit erläuternden Anmerkungen, so zum Beispiel zu Sacco und Vanzetti, die ebenfalls ihren Platz finden in diesem labyrinthischen Roman. Was Dublin im Ulysses ist, ist New York in diesem fragmentiert angelegten Exil-Roman, dessen Protagonist den ‹Big Apple› rastlos durchstreift und seine Wege und Beobachtungen minutiös beschreibt. Wer sich darauf einlässt als Leser, der wird hier kontemplativ herausgefordert, aber literarisch auch überreich belohnt.

Bewertung vom 24.02.2022
Lavaters Maske
Sparschuh, Jens

Lavaters Maske


weniger gut

Die Nöte eines Schreiberlings

Der Titel «Lavaters Maske» von Jens Sparschuh verrät, dass es um die Maskerade des Lebens geht, um Physiognomik, hier im Roman speziell um die wissenschaftliche Methode, aus den Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Johann Caspar Lavater war im achtzehnten Jahrhundert Begründer und wichtigster Vertreter dieser Lehre, heftig angefeindet von Lichtenberg, später auch von seinem Jugendfreund Goethe. Das Thema des 1999 erschienenen Romans ist insoweit hochaktuell, als China die heutigen technischen Ressourcen radikal nutzt, um einen lückenlosen Überwachungs-Staat zu realisieren. Dieses totalitäre Regime kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt mit modernster Software zur Gesichts-Erkennung, um Rückschlüsse auf ihre seelische Verfasstheit zu ziehen. Die Orwellsche Dystopie «1984» ist also doch noch Realität geworden.

Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Germanist und wenig erfolgreicher Schriftsteller, dem für sein letztes Buch das «Wühlischheimer Ehrenstipendium» zugesprochen worden war, damit er eine Zeit lang in ländlicher Ruhe schreiben kann. Er führt nun ein mit Residenzpflicht verbundenes, ziemlich langweiliges Stadtschreiber-Dasein. Ausgerechtet jetzt aber leidet er an einer Schreib-Blockade, ihm fällt partout kein neues Thema ein. Auf telefonische Nachfrage seines Agenten, woran er denn derzeit arbeite, antwortet er ohne lange zu überlegen mit einer Notlüge: Er schreibe über Lavater. Er hat das gar nicht vor, aber daraus wird dann tatsächlich Ernst, als sich nämlich auch noch ein Filmboss für den eher ungewöhnlichen Stoff interessiert. Da winken ihm ja schließlich dringend benötigte Vorschüsse. Er beginnt also, über seinen Protagonisten zu recherchieren, und stößt dabei schon bald auf eine Selbstmord-Geschichte. Enslin, der jugendliche Sekretär von Lavater, hatte sich mit einem Gewehr erschossen, ein mysteriöser Suizid, der bis heute viele Fragen aufwirft.

Die Recherchen zu dem Exposé für den geplanten Film nehmen breiten Raum ein in diesem Roman, unterbrochen nur von gelegentlichen Lese- und Vortragsreisen, mit denen der Ich-Erzähler zwischendurch seine notorisch klamme Kasse wieder auffüllt. Dieser ergänzende Erzählstrang ist witzig und zeugt davon, dass der Autor wohl vertraut ist mit den Gegebenheiten und Ritualen, denen sich heute ein Schriftsteller unterziehen muss als Promoter seiner eigenen Werke. Weniger lustig ist allerdings, was man in Form von historischen Briefen, Lexikonbeiträgen und zeitgenössischen Zitaten über Lavater und seinen Schreiber Enslin erfährt. Dieser eigentliche Haupt-Strang des Romans ist äußerst langweilig zu lesen, er führt zudem mit den wilden Spekulationen des Ich-Erzählers, was denn nun wirklich passiert ist in der Causa Enslin, ins Leere. Ebenso ins Leere führen auch die wirren Versuche des schreibenden Romanhelden, seinem Exposé eine tragfähige, glaubhafte und zündende Idee als Handlungsgerüst zu Grunde zu legen. Das Ganze wird nur immer wirrer, er macht die aberwitzigsten Erfahrungen, trifft auf die merkwürdigsten Leute und scheitert letztendlich auch im privaten Bereich, das Zwischenmenschliche ist nicht seine Stärke.

Ähnlich ergeht es auch Jens Sparschuh, es ist ihm nämlich nicht gelungen, das Lavater-Thema mit dem seiner Romanfigur, des Schriftstellers in der Identitäts-Krise, stimmig zu verbinden, beides steht in dieser doppelbödigen Geschichte unabhängig voneinander für sich. Da passt es dann auch, dass der eher trottelige, gleichwohl aber sympathische Protagonist am Ende des Romans in einer Festrede zum Thema Physiognomik kläglich scheitert. Gerade diese fachspezifischen Passagen wirken als Störfaktor, sie sind einfach nicht stimmig in ein erzählerisches Werk zu integrieren. Insoweit ist dieser anekdotenreiche Roman allenfalls wegen seiner gekonnt erzählten, amüsanten Einblicke in die Nöte eines mittelmäßigen Schreiberlings zur Lektüre zu empfehlen, als Ganzes aber ist er leider misslungen.

Bewertung vom 21.02.2022
Lichte Stoffe
Boehning, Larissa

Lichte Stoffe


schlecht

Psychedelisches Palaver

Für ihren Roman «Lichte Stoffe» hat Larissa Boehning den hochdotierten Mara-Cassens-Preis als bestes deutschsprachiges Debüt des Jahres 2007 verliehen bekommen. Sie beschreibt darin die Suche einer jungen Frau nach dem Schlüssel für ihre eigene Herkunft und verwebt in ihrer Geschichte Themen wie Raubkunst, Besatzungskinder, deutsch-amerikanische Animositäten, Familien-Geheimnisse und persönliches Scheitern. «Geheimnisse sind der Motor zum Erzählen» hat die Autorin im ZEIT-Interview erklärt, ihre Figuren spiegelten einzeln das Hauptthema des Romans wider, «weil jede Figur ihre eigene Lüge mitbringt oder verarbeitet». Worauf sich der Buchtitel bezieht, erfahren wir in der Mitte des Buches, als die Protagonistin nach der Trennung von ihrem Mann sinniert: «Aber die Liebe? Lichter Stoff.»

Die Großmutter von Nele Niebuhr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen farbigen GI kennen und lieben gelernt. Er war als Bewacher eines Lagerstollens für Nazi-Beutekunst zufällig in einer Nische auf ein rahmenloses Ölgemälde gestoßen und hat es heraus geschmuggelt. Das Bild von Degas zeigt eine Frau mit Hut, und da die Großmutter eine Hutmacherin war, hatte der Besatzungs-Soldat es ihr geschenkt. Als sie schwanger wurde, endete die Liaison mit dem Ami, sie gab ihm das Bild zurück, bevor er sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht hat. Dieses Trauma, alleingelassen zu werden mit einem Mischlingskind, hat sie niemals überwunden, aber solange sie lebte hat sie auch nie darüber gesprochen. Eva, die Tochter der Alleinerziehenden, lebt mit ihrem Mann in einer Reihenhaus-Siedlung, sie ist konsumsüchtig und hat ständig Besuch vom Gerichtsvollzieher. Ihr Mann Bernhard wurde nach dreißig Jahren als Sicherheitschef einer Großbäckerei entlassen, von schnöseligen Unternehmens-Beratern einfach wegrationalisiert. Er traut sich nicht, das seiner Frau zu sagen, und geht jeden Morgen ‹zur Arbeit›, um den Schein zu wahren. Die inzwischen dreißigjährige Nele, Tochter der Beiden, ist in Chicago mit dem Verkaufsleiter eines Herstellers ausgeflippter Sportschuhe verheiratet. Sie steht vor den Trümmern ihrer Ehe und dem Ende ihrer Karriere als Designerin in der gleichen Firma. Nach dem Tod der Großmutter stößt sie auf Ton-Kassetten, auf denen die Oma von dem Degas-Gemälde erzählt, das inzwischen Millionen wert sein muss. Nele macht sich auf, diesem Familien-Mythos auf den Grund zu gehen, den verschollenen Großvater und das Bild zu finden.

Erzählerischer Rahmen des Romans ist ihr Rückflug nach Deutschland, sie hat einen älteren Herrn im Tweedsakko als Sitznachbarn, der sich in der Malerei auskennt und ihr viel zu erzählt weiß. Neles Besuch beim Großvater hat sich als Fiasko erwiesen, sie hatten sich nichts zu sagen, das Bild bei ihm an der Wand könnte allerdings tatsächlich der Degas sei. Mit dieser Beutekunst-Geschichte legt die Autorin eine falsche Fährte, wohl um Spannung zu erzeugen. In Wahrheit geht es ihr offensichtlich um andere Themen wie zum Beispiel das deutsch-amerikanische Verhältnis oder der Konsum-Fetischismus, den sie karikaturhaft übertreibend in der Turnschuh-Episode an den Pranger stellt. Und völlig unverständlich bleibt der Sinn einer Episode, in der Neles Vater Bernhard sich kurz entschlossen dem Nachbarn anschließt, als der sich für drei Wochen mit 100 Euro pro Tag bei Manövern als Darsteller einer feindlichen Zivilbevölkerung anheuern lässt. Wenig überzeigend sind vor allem die Animositäten den Amerikanern gegenüber, die hier recht schablonenhaft artikuliert werden.

Diese Geschichte vom Leben der Frauen dreier Generationen einer Familie, bei denen fast alles schiefgeht, wird in verschiedenen Rückblenden metaphernreich erzählt. Immer wieder artet allerdings die Erzählweise in ein psychedelisches Palaver aus, was schon bald ziemlich nervt. Man grübelt dann zum Beispiel, was unter «Zahnpastasuburbs» zu verstehen sei oder was denn ein «kaugummifadenzartes Streichorchester» für eine Musik zu erzeugen vermag.

Bewertung vom 20.02.2022
Warum du mich verlassen hast
Ingendaay, Paul

Warum du mich verlassen hast


gut

Weniger wäre mehr gewesen

Der Debütroman von Paul Ingendaay greift mit seinem Titel «Warum du mich verlassen hast» auf die Worte von Jesus am Kreuz zurück. Ein deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem dieser Internats-Roman angesiedelt ist, ein katholisches Internat nämlich. Der Autor beschreibt darin eigene Erfahrungen, wie er im Nachwort erklärt. Er habe ganze siebzehn Jahre gebraucht, bis er nach der Erstfassung und nach langen Schreibpausen dann seine auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte ‹in einem Rutsch› neu geschrieben habe.

In einem Knaben-Internat fühlt sich der fünfzehnjährige Bücherwurm Marko sehr alleingelassen. Zwangsläufig beschäftigte er sich viel mit Gott, in der Adoleszenz gewinnt natürlich auch die «Mädchenfrage» eine immer größere Bedeutung, seine wahre Leidenschaft aber sind die Bücher, die ihm dann auch über seine gelegentlichen Nihilismus-Anfälle hinweghelfen. Leitmotivisch zieht sich Robinson Crusoe durch die Erzählung, der ja, ebenfalls alleingelassen, ähnlich gefordert war wie Marko auf seiner einsamen Internats-Insel. Dort herrscht eine strenge Ordnung, die Zöglinge werden geschlagen und gedemütigt, die rigorose religiöse Erziehung ähnelt in ihren drastischen Methoden eher einer Gehirnwäsche als der einfühlsamen Vermittlung moralischer Werte. Neben den Büchern helfen ihm nicht nur seine Kumpels über all den Frust hinweg, vor allem auch sein Religionslehrer, Bruder Gregor, ist ihm ein Mentor und unermüdlicher, literarisch kompetenter Gesprächspartner, der so gar nicht in diese Knaben-Zuchtanstalt hineinpasst. Auch bei dem unkonventionellen Hausmeister ist Marko oft zu einem Plausch, und der lässt ihn das geheimnisvolle «Buch der Ordnungen» lesen, eine Art Internats-Almanach. Als Marko erfährt, dass seine in Köln lebenden Eltern sich getrennt haben, bricht eine Welt für ihn zusammen, auch den sicheren Hafen der Familie gibt es nun nicht mehr für ihn. Bis schließlich etwas Schreckliches passiert und Marko sich moralisch verpflichtet fühlt, die arglistig vertuschte, bittere Wahrheit ans Licht zu bringen.

Paul Ingendaay hat für seinen in den 1970er Jahren angesiedelten Roman, der ja an die Internats-Geschichten von Hesse oder Musil erinnert, eine eigene Sprache gefunden, in der er seinen rebellischen Ich-Erzähler und Protagonisten reden lässt, ein konsequent durchgehaltener Jugend-Slang, wie er ähnlich auch bei Salinger zu finden ist. Vor allem aber die oft absurd komischen Gedankengänge des Helden unterscheiden den Roman von seinen großen Vorbildern und machen ihn zu einer unterhaltsamen Lektüre. Dem stehen gleichwertig allerdings ebenso viele kontemplative Abschnitte zu philosophischen Fragen gegenüber. Die werden neben vielen Bibelzitaten auch mit Zitaten von Kierkegaard bis Seneca untermauert und in funkelnden Dialogen erörtert. Der aufgeweckte und belesene Marko erweist sich dabei nicht nur als rhetorisch gewandt, er spricht gelegentlich auch den Leser direkt an und benutzt dabei oft spöttisch einen predigtartigen Ton. Er und viele der originellen Romanfiguren wirken sympathisch, und sogar der eine oder andere bigotte Erzieher zeigt manchmal, dass er eine versteckte menschliche Seite hat. Aber das bleibt die Ausnahme! «Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch» heißt es im Roman, und das ist letztendlich auch hier die bittere Erkenntnis.

Neben einem wenig dramatischen, aber stimmig bis zum Ende anhaltenden Spannungs-Bogen überzeugt dieser Roman vor allem mit seiner anschaulich beschriebenen Internats-Atmosphäre. Zu der gehören auch die Zumutungen der «Schädelstätte», wie die Zöglinge die grottenschlechte Internatsküche in ihrem Jargon verächtlich bezeichnen. Es ist letztendlich dieser juvenile Jargon, der diesen astreinen Internats-Roman zu einer ebenso amüsanten wie bereichernden Lektüre mit einigem gedanklichen Tiefgang macht. Ein deutlicher Wehrmutstropfen ist dabei allerdings seine schiere Länge, zweihundert Seiten weniger wäre mehr gewesen!

Bewertung vom 20.02.2022
Der Turm
Tellkamp, Uwe

Der Turm


ausgezeichnet

Zweitlektüre zu empfehlen

Im Jahre 2008 erschien unter dem Titel «Der Turm» von Uwe Tellkamp der ‹ultimative Wenderoman›, er wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Vier Jahre später erreichte die ARD mit ihrer Verfilmung des Stoffs mehr als sieben Millionen Zuschauer. In seinem Opus magnum hat der Autor die letzten sieben Jahre der DDR bis zum unblutigen Volksaufstand im ersten Arbeiter- und Bauerparadies auf deutschem Boden thematisiert. Und er hat es aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert, dem auch im Sozialismus durchaus vorhandenen Bildungs-Bürgertum eines noblen Dresdner Villenviertels.

Als Erzähler aus der Mitte einer systemfernen Bourgeoisie fungieren dabei der zu Beginn 17jährige Schüler Christian, der Arzt werden will, ferner sein Vater Richard, Oberarzt in einer chirurgischen Klinik, sowie sein Onkel, der studierte Biologe Meno, der fachfremd als Lektor in einem renommierten Verlag tätig ist. In unzähligen Episoden mit einer Hundertschaft von Figuren werden hier Geschichten aus den verschiedensten Milieus erzählt, die in einem dichten Geflecht von Verbindungen allen möglichen Kreisen der Gesellschaft angehören. Neben dem familiären und nachbarschaftlichen Verbund sind dies das Gesundheits-Wesen, für das der Vater steht, ferner das Bildungs-Wesen und die Nationale Volks-Armee, die der Sohn durchläuft und durchleidet, und schließlich auch das Verlagswesen, in dem sich der Onkel zu behaupten hat. Alle Drei sind dabei den bekannt fiesen Pressionen des Regimes ausgesetzt und kämpfen mit dessen grotesken Unzulänglichkeiten. Über allem wacht als permanente Bedrohung ein Spitzelsystem, das jederzeit mit einem Schlage eine erfolgreiche Karriere endgültig zerstören oder eine sich abzeichnende von vornherein verhindern kann. Im privaten Leben kommt es neben dem täglichen Kampf mit der Mangelwirtschaft und jederzeit drohenden Denunziationen natürlich auch zu amourösen Verwicklungen, die so weit gehen, dass der Vater dem Sohn die Freundin ausspannt. Onkel Meno liegt in ständigem Kampf mit den literarischen Betonköpfen der Kulturbehörden, den er in einem geradezu poetischen Tagebuch festhält, aus dem im Roman immer wieder mal zitiert wird.

Uwe Tellkamp schildert das bourgeoise Milieu, dem er ja ebenfalls entstammt, mit scharfem Blick für kleinste Details durchaus selbstkritisch. Bei allem Realismus wird dem Geschehen aber auch die eine oder andere eher märchenhafte Szene auflockernd beigemischt. In diesem Kaleidoskop sind die einzelnen Textteile, oft in unterschiedlicher Diktion, locker aneinander gereiht. Neben fachsprachlichen Begriffen finden sich da auch Militär- oder Stasi-Jargon, ein lautgetreu geschriebenes, breites Sächsisch, zuweilen aber auch eine poetische, nur in der gehobenen Literatur anzutreffende Ausdrucksweise. «Der Turm» enthält Elemente des Schlüsselromans, mehr als ein Dutzend Figuren sind da mehr oder weniger deutlich erkennbar, ein Who-is-Who der DDR-Literatur-Schaffenden bis hin zu einigen aus dem dekadenten Westen.

Als Tausendseiter hat dieser Roman mit seinen familiären Erzählern nicht nur vom Umfang her gewisse Ähnlichkeiten mit den Buddenbrooks. Besonders deutlich wird das im ersten Teil durch dem vergleichbar bildungssatten wie auch beschaulichen Erzählgestus. Diesem bürgerlichen Realismus mit seinen vielen literarischen Anspielungen und Symbolen steht im zweiten Teil unter dem Titel «Die Schwerkraft» ein eher sozialistisch geprägter Realismus gegenüber. Der zielt, deutlich politischer, auf die sich abzeichnende Wende hin, jene am 9. November 1989 bevorstehende Zäsur, in die der Leser an diesem historischen Tag abrupt entlassen wird. Die gigantische Materialfülle ist letztendlich auch erdrückend, sie übersteigt in ihrer Vielfalt deutlich das Aufnahmevermögen. Was man dann erst beim zweiten Lesen merkt, denn nach mehr als zehn Jahren ist davon kaum noch etwas erinnerlich. Es lohnt sich also jede erneute Lektüre, eine erste aber ist geradezu Pflicht!

Bewertung vom 20.02.2022
Am Seil
Lang, Thomas

Am Seil


schlecht

Fanal selbstbestimmten Sterbens

Den Text, der als erfolgreiche Kurzgeschichte 2005 den Ingeborg Bachmann Preis gewann, hat Thomas Lang mit fünf vorgeschalteten Kapiteln zu dem Roman «Am Seil» ergänzt. Darin wird nun in einem kammerspiel-artigen Setting geschildert, wie es zu dem in Klagenfurt prämierten, ebenso komplexen wie dramatischen Ende einer schwierigen Vater/Sohn-Beziehung kam.

Auf einem gestohlenen Motorrad kommt der bekannte TV-Moderator Gert nach jahrelanger ‹Funkstille› zum ersten Mal zu Besuch ins Altenpflegeheim seines Vaters Bert. Beide sind an einem Punkt ihres Lebens angelangt, aus dem nur noch der Tod als Ausweg zu bleiben scheint, was denn auch den Buchtitel erklärt. Vater Bert war Lehrer für Englisch und Sport, ist schon seit Jahren von seiner Frau geschieden und inzwischen körperlich sehr hinfällig. Sein 45jähriger Sohn Gert hatte durch eine für ihn glückliche Verwechslung überraschend Karriere beim Fernsehen gemacht. Er wurde aber nach vielen erfolgreichen Jahren fristlos gefeuert, weil er sexuell übergriffig wurde und kurz darauf dann auch noch einen Autounfall verschuldet hat, bei dem seine minderjährige Geliebte umkam. Er ist nicht nur seelisch, sondern auch finanziell in ein tiefes Loch gefallen.

Mit scharfem Blick für Details wird die Figuren-Konstellation von einem sportlichen, herrischen Vater, der seinen körperlichen Verfall nicht akzeptieren kann, und seinem kunstbeflissenen, aber völlig untalentierten Sohn entwickelt. Letzterer ein Verlierer-Typ, dem das Glück nur einmal im Leben hold war und der nun in Selbstmitleid zerfließt. Beide Männer stehen vor einem Scherbenhaufen. Thomas Lang erzählt multi-perspektivisch abwechselnd aus Sicht des penetrant besserwisserischen Vaters und des verweichlichten Sohnes vom Hass der Beiden aufeinander, der sich in einem Plot artikuliert, der chronologisch nicht länger als ein kurzes Zweipersonen-Stück beim Theater andauert. Die phonetische Ähnlichkeit der beiden Vornamen deutet trotz allem auf eine gewisse Charakter-Verwandtschaft der ungleichen Protagonisten hin. Denn Bert und Gert haben beide, so kristallisiert es sich für den Leser allmählich heraus, und der Buchtitel deutet es ja auch an, nur noch ein Ziel, welches sie ganz unerwartet doch noch eint. Bert ist nämlich bis ins Mark erschüttert, weil ‹seine› ihn besonders liebevoll umsorgende Pflegerin niedergeschlagen verkündet hat, dass sie entlassen wurde. Die Beschreibungen der Alters-Gebrechen und die Ohnmacht des in dem Pflegeheim nur noch dahinvegetierenden Vaters werden durch die geradezu zynisch knappen Dialoge mit dem Sohn verdeutlicht.

In der minutiösen Schilderung des auf pure Zweckmäßigkeit hin ausgerichteten Pflegeheims fällt besonders ein Gemälde des Russen Kasimir Malewitsch auf, das den Titel «Das schwarze Quadrat» trägt und im Buch, nicht ohne tieferen Grund, erwähnt wird. Es unterstreicht nämlich auf optische Weise die ganz ähnlich auf eine narrative «Empfindung der Gegenstandslosigkeit» ausgerichtete Diktion des Autors. Die psychisch desolate Verfassung der Figuren korrespondiert mit einer stilistischen Kargheit, deren wie in Zeitlupe ablaufende Beschreibungen einer Seniorenheim-Tristesse sich weitgehend an scheinbar Insignifikantem abarbeiten. Ohne Zweifel handelt es sich hier vom Genre her übrigens um eine geradezu archetypische Novelle, nicht um einen Roman, auch wenn das sich weit besser verkauft. Mit der Thematik des selbstbestimmten Todes nach einem langen, ereignislosen Leben, dem konträr beim Sohn ein intensives, in vollen Zügen genossenes gegenübersteht, wird hier ein uraltes moralisches Problem behandelt. Die wahrhaft groteske Schlussszene ist wie das Fanal eines völlig unhaltbaren, gesetzlichen Zustandes, der schmerzlich an das einst erbittert umkämpfte Abtreibungs-Verbot erinnert. Literarisch allerdings wirkt dieses Buch leider ziemlich willkürlich zusammen montiert, sprachlich oft misslungen und als Ganzes völlig inhomogen.

Bewertung vom 20.02.2022
Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen
Adomeit, Janine

Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen


weniger gut

Hoffen und Scheitern

Unter dem Titel «Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen» hat die Schriftstellerin Janine Adomeit ihren Debütroman geschrieben, er handelt von den Hoffungen von Menschen am Rande der Gesellschaft. Der in der Jetztzeit angesiedelte Plot beschreibt die neu aufkeimende Hoffnung einer herunter gekommenen, kleinen Gemeinde an der Ahr, zum einstigen Wohlstand als Ort einer Heilquelle zurückzufinden, aus der speziellen Sicht der sogenannten kleinen Leute.

Die etwa 5000 Einwohner von Villrath haben bessere Zeiten erlebt, ihre Kleinstadt war einst das Tor zum Ahrtal, hatte mit ihrer Heilquelle viele Touristen angezogen und 1987 sogar einen Preis für die schönste Innenstadt erhalten. Durch ein Erdbeben ist diese Quelle aber vor 17 Jahren versiegt, seither liegt die Gemeinde im Dornröschenschlaf und verkommt zusehends. Die Politiker waren untätig, man hatte die Stadt schlicht vergessen. Thematik des Romans ist die Hoffung, die in der Bevölkerung nach dem langen wirtschaftlichen Niedergang aufkeimt, als im Wald bei Bauarbeiten für eine neue Bahntrasse urplötzlich wieder eine neue Quelle aufbricht. Geschildert werden diese Erwartungen am Beispiel verschiedener Protagonisten, die ganz unterschiedlich betroffen sind von den neuen Möglichkeiten, die sich nun ergeben.

Da ist etwa die ehemalige Friseuse Vera, aus deren Perspektive zu weiten Teilen erzählt wird. Als Wirtin einer wüsten Kneipe trinkt sie selbst gerne, unter anderem auch, weil sie mit ihrem übergewichtigen, nichtsnutzigen Sohn Johannes große Probleme hat. Sie träumt davon, das marode Haus samt schlechtgehender Kneipe zu verkaufen und den örtlichen Frisiersalon zu übernehmen. Ein Investor sucht alte Häuser wie ihres und will auch das ehemalige Kurhaus erwerben und zu einem Hotel mit ländlichem Charakter ausbauen. Um die Quelle zu erhalten müsste aber die bereits fertig geplante Bahntrasse verlegt werden, wofür die Gemeinde die Kosten zu übernehmen hätte. Das wiederum wäre aber nur durch den Verkauf des Kurhauses zu finanzieren, an dem aber hängen nun mal viele nostalgisch empfindende, aber einflussreiche Alte in der Gemeinde, - ein schwer zu lösendes Dilemma für den Bürgermeister. Der 16jährige Johannes ist ein grottenschlechter Schüler, der sich als Hilfskraft eines, wie sich herausstellt kriminellen Schrottsammlers Geld dazuverdient und von einem eigenen Motorrad träumt. Dritter Protagonist der Geschichte ist der 80jährige Kamps, ein ehemaliger Schlossermeister, der nach dem Tod seiner Frau immer neue, herum streunende Katzen bei sich aufnimmt, etwa dreißig sind es inzwischen. Er führt einen erbitterten Kampf mit der Gemeinde, weil er die zunehmende Vermüllung insbesondere des Friedhofs, aber auch der Straßen nicht akzeptieren will, und die häufigen Einbrüche ebenso. Er ist entschlossen, selbst gegen die Einbrecher vorzugehen und lässt sich sein im Schützenhaus deponiertes Gewehr unter einem Vorwand aushändigen.

«Es war zu warm für die Jahreszeit, auch sonst stimmte nichts» lautet lapidar der erste Satz. Der Roman wird in einer dem geschilderten Milieu stimmig angepassten Alltags-Sprache erzählt, wobei die Autorin ihre verschiedenen Handlungsstränge immer wieder geschickt zusammenführt. Auch der Umweltschutz fehlt übrigens nicht, verkörpert einerseits von dem Saubermann Kamps, aber vor allem durch einen Trupp von Aktivisten, die im Wald ein Protestcamp errichtet haben, um den drohenden Kahlschlag des Waldes zu verhindern. Symbolisch für das Hoffen und Scheitern steht hier die Quelle. Durch ihre distanzierte Erzählweise lässt Janine Adomeit allerdings keinerlei Empathie beim Leser aufkommen für ihre schrulligen Figuren. Mit Sicherheit aber ist ihre Geschichte auch entschieden zu lang geraten, man quält sich als Leser durch die geschilderten Banalitäten des Alltags in dem Kaff namens Villrath. In Anbetracht dessen wirkt der überraschende Countdown mit einer Feuerwehr-Sirene im Hintergrund schlussendlich denn doch ziemlich aufgesetzt.

Bewertung vom 20.02.2022
Das Polykrates-Syndrom
Fian, Antonio

Das Polykrates-Syndrom


gut

Roman im Roman

Letzter Teil der Berlin-Trilogie von Mathias Nolte ist der Roman «Miss Bohemia», der, vom Feuilleton weitgehend ignoriert, in der Leserschaft eine einhellig positive Aufnahme fand. Zweifellos handelt er sich um grandiose Unterhaltungs-Literatur mit einer schon im Buchtitel anklingenden, verheißungsvollen Thematik. Es geht um eine wahrhaft unkonventionelle, schöne junge Frau, die als Femme fatale bei den Männern allerlei Verheerungen anrichtet. Wobei es sich bei den Männern um Schriftsteller handelt, was ja Literatur affine Leser per se schon mal neugierig macht.

«Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Gedanken an Tara zu verschwenden», lautet der erste Satz. Der Ich-Erzähler Lukas, ein mittelmäßiger Roman-Schriftsteller, entdeckt in der New York Times eine Meldung, die über den Tod des bekannten Schriftstellers Philipp Bach berichtet. Auf dem Foto von der Verteilung seiner Asche im Meer erkennt er Tara. Lukas hatte sich vor zwei Jahren für seinen neuen Roman ein Ferienhaus auf Key West gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können. Überraschend hatte ihn dort sein erfolgreicher Kollege Philipp Bach besucht, zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Freundin und Muse. In Rückblenden erzählt Lukas, wie ihn schon am ersten Morgen die attraktive Tara zu einem Strandausflug überredet hat, um dort den Sonnenaufgang zu erleben, ihr Lover hat noch tief geschlafen. Und an dem menschenleeren Strand hat sie Lukas dann auch verführt, - sie war die Aktive, er wusste gar nicht, wie ihm geschah.

In einem raffinierten Konstrukt entwickelt Matthias Nolte auf verschiedenen Zeitebenen seinen Plot um eine Menage à trois im Schriftsteller-Milieu. Tara hat ihre Examens-Arbeit über den hoch dekorierten DDR-Schriftsteller Franz Krohn geschrieben, und der wiederum war Mentor von Philipp Bach. Kurz nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann hat Krohn Bach sogar zur Flucht in den Westen verholfen. Dort hat Bach dann mit «Miss Bohemia» seinen äußerst erfolgreichen Debütroman veröffentlicht. In häufigen, durch die Kapitel-Überschriften aber deutlich zugeordneten Zeitsprüngen erzählt Matthias Nolte seine Geschichte mit mehreren, kunstvoll verflochtenen Handlungs-Strängen. Seine drei Protagonisten sind sehr eigenwillige Typen. Der dem Autor biografisch ähnelnde Lukas ist ein ewiger Zweifler, der fast alles geduldig hinnimmt, von dem man ansonsten aber wenig erfährt. Er arbeitet an dem Roman, den wir in Händen halten, und lässt den Leser an seinen Recherchen und am Schreibprozess teilhaben, eine reizvolle ‹Roman im Roman›-Konstellation. Freund und Nebenbuhler Philipp Bach ist ein überheblicher, unsympathischer und cholerisch veranlagter Schriftsteller, der ein dunkles Geheimnis birgt. Nach seinem Debüt schreibt er nun seit vielen Jahren an dem gigantischen Werk «Der Roman des Jahrhunderts». Tara ist eine selbstbewusste und lebenskluge Frau, die besonders im unkonventionellen Umgang mit ihrer Sexualität verblüfft und es im Übrigen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Von Lukas nach ihren bisherigen festen Freunden gefragt, erklärt sie ihm beispielsweise, es gab bisher nur einen: «Nach Johnny kam nichts Festes mehr, nein. Nach ihm habe ich à la carte gelebt». Auf seine verblüffte Nachfrage ergänzt sie: «Oder glaubst du, nur weil ich nicht den richtigen Kerl gefunden habe, […] habe ich mich in Verzicht geübt? Ich gebe meinem Körper, was ihm gut tut, und er dankt es mir jeden Tag».

Dieser aufregende Roman ist schwungvoll erzählt, wobei die Ironie darin unübersehbar ist. Trotz des Wirrwarrs, das die Geschichte mit ihren vielen Andeutungen erzeugt, folgt man ihr gerne, zumal die Spannung immer mehr steigt, was denn nun hinter all dem steckt. Übertrieben hat es Mathias Nolte allerdings mit den vielen Zufällen, auf denen sein Plot aufbaut. Überzeugend und angesichts der trickreichen Verflechtungen hilfreich ist, dass er das Erzählte häufig rekapituliert. Und nicht wenige Leser dürften sich zudem an der üppigen Intertextualität erfreuen.

Bewertung vom 20.02.2022
Miss Bohemia (eBook, ePUB)
Nolte, Mathias

Miss Bohemia (eBook, ePUB)


sehr gut

Roman im Roman

Letzter Teil der Berlin-Trilogie von Mathias Nolte ist der Roman «Miss Bohemia», der, vom Feuilleton weitgehend ignoriert, in der Leserschaft eine einhellig positive Aufnahme fand. Zweifellos handelt er sich um grandiose Unterhaltungs-Literatur mit einer schon im Buchtitel anklingenden, verheißungsvollen Thematik. Es geht um eine wahrhaft unkonventionelle, schöne junge Frau, die als Femme fatale bei den Männern allerlei Verheerungen anrichtet. Wobei es sich bei den Männern um Schriftsteller handelt, was ja Literatur affine Leser per se schon mal neugierig macht.

«Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Gedanken an Tara zu verschwenden», lautet der erste Satz. Der Ich-Erzähler Lukas, ein mittelmäßiger Roman-Schriftsteller, entdeckt in der New York Times eine Meldung, die über den Tod des bekannten Schriftstellers Philipp Bach berichtet. Auf dem Foto von der Verteilung seiner Asche im Meer erkennt er Tara. Lukas hatte sich vor zwei Jahren für seinen neuen Roman ein Ferienhaus auf Key West gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können. Überraschend hatte ihn dort sein erfolgreicher Kollege Philipp Bach besucht, zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Freundin und Muse. In Rückblenden erzählt Lukas, wie ihn schon am ersten Morgen die attraktive Tara zu einem Strandausflug überredet hat, um dort den Sonnenaufgang zu erleben, ihr Lover hat noch tief geschlafen. Und an dem menschenleeren Strand hat sie Lukas dann auch verführt, - sie war die Aktive, er wusste gar nicht, wie ihm geschah.

In einem raffinierten Konstrukt entwickelt Matthias Nolte auf verschiedenen Zeitebenen seinen Plot um eine Menage à trois im Schriftsteller-Milieu. Tara hat ihre Examens-Arbeit über den hoch dekorierten DDR-Schriftsteller Franz Krohn geschrieben, und der wiederum war Mentor von Philipp Bach. Kurz nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann hat Krohn Bach sogar zur Flucht in den Westen verholfen. Dort hat Bach dann mit «Miss Bohemia» seinen äußerst erfolgreichen Debütroman veröffentlicht. In häufigen, durch die Kapitel-Überschriften aber deutlich zugeordneten Zeitsprüngen erzählt Matthias Nolte seine Geschichte mit mehreren, kunstvoll verflochtenen Handlungs-Strängen. Seine drei Protagonisten sind sehr eigenwillige Typen. Der dem Autor biografisch ähnelnde Lukas ist ein ewiger Zweifler, der fast alles geduldig hinnimmt, von dem man ansonsten aber wenig erfährt. Er arbeitet an dem Roman, den wir in Händen halten, und lässt den Leser an seinen Recherchen und am Schreibprozess teilhaben, eine reizvolle ‹Roman im Roman›-Konstellation. Freund und Nebenbuhler Philipp Bach ist ein überheblicher, unsympathischer und cholerisch veranlagter Schriftsteller, der ein dunkles Geheimnis birgt. Nach seinem Debüt schreibt er nun seit vielen Jahren an dem gigantischen Werk «Der Roman des Jahrhunderts». Tara ist eine selbstbewusste und lebenskluge Frau, die besonders im unkonventionellen Umgang mit ihrer Sexualität verblüfft und es im Übrigen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Von Lukas nach ihren bisherigen festen Freunden gefragt, erklärt sie ihm beispielsweise, es gab bisher nur einen: «Nach Johnny kam nichts Festes mehr, nein. Nach ihm habe ich à la carte gelebt». Auf seine verblüffte Nachfrage ergänzt sie: «Oder glaubst du, nur weil ich nicht den richtigen Kerl gefunden habe, […] habe ich mich in Verzicht geübt? Ich gebe meinem Körper, was ihm gut tut, und er dankt es mir jeden Tag».

Dieser aufregende Roman ist schwungvoll erzählt, wobei die Ironie darin unübersehbar ist. Trotz des Wirrwarrs, das die Geschichte mit ihren vielen Andeutungen erzeugt, folgt man ihr gerne, zumal die Spannung immer mehr steigt, was denn nun hinter all dem steckt. Übertrieben hat es Mathias Nolte allerdings mit den vielen Zufällen, auf denen sein Plot aufbaut. Überzeugend und angesichts der trickreichen Verflechtungen hilfreich ist, dass er das Erzählte häufig rekapituliert. Und nicht wenige Leser dürften sich zudem an der üppigen Intertextualität erfreuen.