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Bücherfreundin

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Insgesamt 265 Bewertungen
Bewertung vom 22.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Zutiefst berührende Geschichte
Der Dumont Verlag hat "Kontur eines Lebens", den neuen Roman des niederländischen Schriftstellers Jaap Robben, veröffentlicht.
 
Im Mittelpunkt der emotionalen Geschichte steht die 81-jährige Frieda. Ihr Mann Louis, mit dem sie seit einem halben Jahrhundert verheiratet ist, pflegt und umsorgt sie. Als er vollkommen unerwartet stirbt, muss Frieda in ein Pflegeheim umziehen. Ihr Sohn Tobias und seine schwangere Freundin Nadine unterstützen sie und kümmern sich um die Auflösung der Wohnung. Die Eingewöhnung in die neue Umgebung fällt Frieda schwer. Erinnerungen an ihre erste Liebe und an ein Ereignis, das 60 Jahre zurückliegt und um das niemand außer ihr weiß, werden wach und lasten schwer auf ihr. Es gibt unbeantwortete Fragen, und endlich setzt sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander und stellt Nachforschungen an.
 
Wir erleben Frieda auf einer zweiten Zeitebene. Im März 1963 ist sie 21 Jahre alt, lebt noch bei ihren Eltern und ist als Floristin in einem Blumenladen tätig. Ihre drei Schwestern haben bereits das Elternhaus verlassen und gehen eigene Wege. Die Gegend ist katholisch geprägt, die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst selbstverständlich. Auf einem zugefrorenen Fluss lernt sie den 10 Jahre älteren Otto kennen, der an der Universität arbeitet und glücklich mit seiner Frau Brigitte verheiratet ist. Frieda und Otto verlieben sich ineinander, und es kommt zwischen ihnen zu einem intimen Verhältnis, das nicht ohne Folgen bleibt ...

Der Autor beschreibt Friedas Leben auf sehr feinfühlige Art, die unter die Haut geht, aber niemals kitschig ist. Friedas Schicksal steht stellvertretend für das Schicksal vieler Frauen, die in den sechziger Jahren und auch noch danach schwanger waren, ohne verheiratet zu sein. Sie brachten Schande über ihre Familien und wurden nicht selten von diesen verstoßen. Jaap Robben schildert die schwere Zeit von Friedas Schwangerschaft und eine kurze Zeit danach. Es ist erschütternd, zu lesen, wie verächtlich und herzlos Frieda von ihren Eltern, ihrem Umfeld und im Krankenhaus behandelt wurde.
 
Lange hat mich kein Buch mehr so berührt und erschüttert wie dieses. Ich habe mit der jungen Frieda mitgefühlt und mitgelitten und der alten Frieda gewünscht, dass sie ihren Seelenfrieden findet. Die abwechselnd auf zwei Zeitebenen erzählte Geschichte ist in wunderbarem und sensiblem Sprachstil geschrieben, sie hat mich vom Anfang bis zum Ende gefesselt. Die Charaktere sind ebenso authentisch und großartig beschrieben wie der Zeitgeist der sechziger Jahre. Der Autor lässt uns nicht nur eintauchen in die Gedanken- und Gefühlswelt der jungen Frieda, sondern auch in die der alten, etwas eigenwilligen Frieda.
 
Absolute Leseempfehlung von mir für dieses großartige und bewegende Buch, das mich tief beeindruckt hat und noch lange beschäftigen wird!

Bewertung vom 20.07.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


sehr gut

Schockierender und aufwühlender Roman
"Sekunden der Gnade", der neue Roman des amerikanischen Schriftstellers Dennis Lehane, spielt inmitten einer Hitzewelle im Sommer des Jahres 1974 in Boston. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 42-jährige Krankenhaushelferin Mary Pat Fennessy. Ihr erster Ehemann Dukie lebt nicht mehr, der zweite, Ken, hat sie wegen einer jüngeren Frau verlassen. Mary Pat lebt mit ihrer 17-jährigen Tochter Jules, die ihr Ein und Alles ist, in ärmlichen Verhältnissen. Ihr Sohn Noel starb nach seiner Rückkehr aus Vietnam an einer Überdosis Heroin. In der Stadt brodelt es, seit ein Bostoner Richter entschieden hat, dass die Rassentrennung an den öffentlichen Highschools aufgehoben werden soll. Das bedeutet, das nun Schüler aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel zur Schule gebracht werden und umgekehrt. Die Entscheidung weckt den Widerstand vieler Bostoner.
 
Eines Nachts kehrt Jules nach einem Treffen mit Freunden nicht nach Hause zurück. Ihre Mutter sucht sie verzweifelt, und schon bald sucht auch die örtliche Polizei nach Jules im Zusammenhang mit dem Tod eines jungen Mannes in der Nacht ihres Verschwindens. Mary Pat will herausfinden, was passiert ist. Sie stellt viele Fragen und stößt bei ihren Recherchen auf eine Mauer aus Schweigen. Doch sie findet mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln heraus, was sich in der Nacht von Jules Verschwinden ereignet hat und startet einen Rachefeldzug.
 
Die Geschichte ist keine leichte Kost. Bereits Mary Pats Kindheit und Jugend sind geprägt von Gewalt durch die Eltern und Geschwister. Der Leser begleitet sie auf der Suche nach ihrer Tochter, bei der sie fast nur unter Einsatz brutaler Gewalt zu weiteren Erkenntnissen gelangt. Diese Gewaltszenen waren für mich schwer zu ertragen. 

Dennis Lehane erzählt die Geschichte in nüchternem und kraftvollem Sprachstil, sie ist spannend und beschreibt sehr detailliert den Rassismus der damaligen Zeit. Das düstere Buch, in dem es um Drogen und Mafia, Liebe, Hass und Rache geht, hat mich gefesselt, aber auch schockiert und aufgewühlt. 

Bewertung vom 20.07.2023
Nur ein einziger Tanz
Stellmacher, Hermien

Nur ein einziger Tanz


ausgezeichnet

Warmherzige und bewegende Geschichte
In ihrem neuen Roman "Nur ein einziger Tanz" erzählt Hermien Stellmacher die Geschichte der Rike Kehrmann. Die 56-jährige Übersetzerin wurde vor kurzem nach 12 Jahren Zusammenleben von ihrem Lebensgefährten Edgar für eine Auszeit verlassen. Nun hat sie gerade ein Buchprojekt beendet und möchte sich in der Bretagne erholen. Mitten in der Planung erreicht sie ein Brief aus Amsterdam. Der ihr unbekannte Hendrik Rhee schreibt ihr, dass er ihre Mutter Francisca, die vor einem Jahr gestorben ist, kannte und sie seit seiner Rückkehr aus Australien gesucht habe. Nach einem Telefonat mit Hendrik beschließt Rike, nach Amsterdam zu fahren, der Stadt, in der sie ihre Kindheit verbrachte.

Dort trifft sie den 92-jährigen Hendrik und lernt ihn und seine beiden Mitbewohner Greet und Karel kennen. Nach und nach erfährt sie von Hendrik nicht nur Einzelheiten über die Beziehung zwischen ihm und Cisca, wie er sie nennt, sondern auch viel Überraschendes über ihre Mutter. Rike wandelt in Amsterdam auf den Pfaden ihrer Kindheit, sie erinnert sich mehr und mehr daran und auch an die Jahre in Süddeutschland, die anfangs so schwer für sie waren. Ihre eigene Vergangenheit und die Geheimnisse ihrer Mutter werden langsam aufgeblättert, und Rike erkennt den Grund, der zu dem plötzlichen Wegzug ihrer Familie aus Amsterdam führte.

Das Buch ist in schönem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die Autorin erzählt die Geschichte mit großer Herzenswärme, aber auch viel Humor. Nach und nach fügen sich die Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen, das Ende ist sehr berührend und stimmig. Nicht nur die sympathischen Hauptprotagonisten Rike und Hendrik, auch sämtliche Nebenfiguren sind äußerst liebevoll und authentisch skizziert. Wir begleiten Rike auf ihrer Reise in die Vergangenheit, die für sie einige Überraschungen bereithält, Höhen und Tiefen hat. Der Roman, der auch viele Lebensweisheiten enthält, hat mir sehr gut gefallen. Er hat mich von der ersten Seite an gefesselt und berührt, ohne dabei kitschig und vorhersehbar zu sein.

Auch das Nachwort ist lesenswert, die Autorin erzählt darin die Entstehungsgeschichte des Buches.
Leseempfehlung von mir für diesen schönen Roman mit Tiefgang, den ich mit sehr viel Freude gelesen habe.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

Wunderbarer Roman mit Tiefgang
In ihrem neuen Roman "Nachts erzähle ich dir alles" erzählt Anika Landsteiner die Geschichte der 35-jährigen Léa, die auf Drängen ihrer Mutter Brigitte in deren Ferienhaus an die Côte d’Azur fährt. Léa braucht dringend Erholung, sie hat sich vor 6 Monaten von ihrer Lebensgefährtin Antonia getrennt und ist überlastet durch ihre Tätigkeit in dem von ihr geführten Café in München. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr in dem Haus in Saint Martin, um das sich Brigittes Freundin Claire kümmert. Am ersten Abend kommt ein fremdes Mädchen in den Garten. Alice ist 16 Jahre alt, die beiden unterhalten sich angeregt bei einem Glas Wein, man verabredet sich locker für den nächsten Tag. Wenige Tage später steht Émile Bernard vor Léas Tür, Alice' Bruder. Alice ist tot, und Léa ist die letzte Person, die das Mädchen lebend gesehen hat. Der völlig Verzweifelte möchte herausfinden, was passiert ist.
Léa versucht, Émile bei seiner Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Sie sind sich sympathisch, führen viele intensive Gespräche und treffen sich immer wieder. Obwohl der 10 Jahre Jüngere als erfolgreicher Podcaster in einer vollkommen anderen Welt als Léa lebt, verlieben sie sich ineinander, was Léa vor neue Probleme stellt.
 
Parallel zur Geschichte lesen wir (in kursiver Schrift) eine Art Brief, den Claire an Léa richtet. Sie erzählt darin aus ihrem Leben und von der besonderen Beziehung, die sie mit Brigitte verbindet. 
 
Das anspruchsvolle Buch ist in ganz wunderbarem und klugem Sprachstil geschrieben, es hat mich von Beginn an fasziniert, gefesselt und berührt. Wir begleiten die Protagonisten und tauchen dabei ganz tief in ihre Gedanken- und Gefühlswelt ein. Es geht in dem Roman nicht nur um Liebesbeziehungen, sondern auch um Trauerbewältigung und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung. Anika Landsteiner hat die interessanten und sympathischen Figuren sehr liebevoll gezeichnet, die Charaktere sind authentisch. Das Buch hat mir sehr gut gefallen, das Ende ist stimmig und lässt Raum für eigene Gedanken.
 
Absolute Leseempfehlung von mir für dieses wunderbare Buch!

Bewertung vom 15.07.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


gut

Schöner Debütroman für junge Leser
In ihrem Debütroman "22 Bahnen" erzählt Caroline Wahl die Geschichte von Tilda Schmitt. Tilda wohnt gemeinsam mit ihrer Mutter Andrea und ihrer 10-jährigen Schwester Ida in einer Mietwohnung in einer nicht benannten Stadt. Während ihre Freunde nach dem Abitur die Welt bereisten und aus der Kleinstadt wegzogen, hat die nerdige Mathematikstudentin ihre Heimat nie verlassen. Tilda pendelt jeden Tag zwischen Uni und der Fröhlichstraße, in der sie wohnt, hin und her. Sie kümmert sich nicht nur um ihre alkoholkranke Mutter, sondern auch um Ida. Da das Geld knapp ist, arbeitet sie nachmittags als Kassiererin in einem Supermarkt. Entspannung vom stressigen Alltag findet sie im Schwimmbad, das sie täglich aufsucht, um genau 22 Bahnen zu schwimmen. Dort begegnet sie Viktor, dem älteren Bruder von Ivan, mit dem sie vor 5 Jahren befreundet war. Als ihr Professor ihr eine Promotionsstelle an der Humboldt-Universität in Berlin in Aussicht stellt, gerät sie in einen Konflikt. Kann sie es wagen, diesem Ruf zu folgen und ihre kleine Schwester bei der Mutter zurücklassen?

Das Buch ist in der Sprache der Jugend in der Ich-Form aus Tildas Perspektive geschrieben und liest sich sehr flüssig. Etwas gewöhnungsbedürftig fand ich, dass die Dialoge wie in einem Drehbuch verfasst sind. 
Wir lernen Tilda kennen, die weitgehend auf eigene Vergnügungen verzichtet, um ihren Alltag bewältigen zu können. Liebevoll kümmert sie sich um Ida, die immer wieder den Ausbrüchen der betrunkenen Mutter ausgesetzt ist. Die Autorin beschreibt das Verhältnis der Schwestern zueinander sehr berührend. Mit Tildas Unterstützung gelingt es Ida, selbstbewusster zu werden und sich neben ihrer Malerei neuen Aktivitäten zu öffnen. Die sich langsam und sehr behutsam entwickelnde Annäherung zwischen Tilda und Viktor wird vollkommen kitschfrei beschrieben, das Ende des Buches stimmt zuversichtlich. 

Die Coming-of-Age-Geschichte hat mir gut gefallen, ich empfehle sie jedoch eher jungen Lesern.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.07.2023
Den Teufel im Leib
Radiguet, Raymond

Den Teufel im Leib


ausgezeichnet

Großartiger Klassiker in wunderbarer Neuübersetzung
Der Pendragon Verlag hat genau 100 Jahre nach dem Erscheinen des Buches "Den Teufel im Leib" von Raymond Radiguet das Werk in neuer Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel veröffentlicht. Das Buch ist sehr hochwertig und ansprechend gestaltet. Es enthält neben der eigentlichen Geschichte Zeichnungen und erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Texte von Jean Cocteau sowie Gedichte und Briefe von Raymond Radiguet und ein sehr lesenswertes Nachwort des Übersetzers.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 15-jährige François, der auf einer gemeinsamen Wanderung mit seinem Vater die 18-jährige Marthe kennenlernt, die ihn sofort verzaubert. Marthe ist mit dem Soldaten Jacques verlobt, der im Ersten Weltkrieg für sein Land kämpft. Einen Monat später treffen sich François und Marthe zufällig wieder, und der Jugendliche begleitet die junge Frau, die bald heiraten wird, beim Möbelkauf. Kurz nach der Hochzeit setzt Marthe sich mit François in Verbindung, der sie fortan täglich in ihrer Wohnung besucht. Sie verlieben sich ineinander und beginnen eine intime Beziehung. Doch schon bald erhält Marthe einen Brief ihres Ehemannes, in dem dieser seinen bevorstehenden Fronturlaub ankündigt ....

Dank der großartigen, unserer Zeit angepassten Übersetzung und des schönen Sprachstils liest sich das Buch sehr flüssig. Der Ich-Erzähler François lässt uns teilhaben an seiner Gefühls- und Gedankenwelt, wir erleben seine innere Zerrissenheit und seine jugendlichen Verhaltensweisen. Dem Autor ist es gelungen, die Charaktere authentisch und bildhaft zu skizzieren. Ich fand den frühreifen François nicht sympathisch, einige seiner Gedankengänge und Handlungen entsetzten mich. Er liebt Marthe und kann ohne sie nicht sein, dennoch verhält er sich ihr gegenüber häufig dominant und manipulativ.

Das Buch, das der Autor mit 17 Jahren fertigstellte, wurde veröffentlicht, als er 20 Jahre alt war. Dass es bei seinem Erscheinen 1923 einen Skandal auslöste und von der Kritik als Geschmacklosigkeit gewertet wurde, kann ich auch aus heutiger Sicht gut nachvollziehen. Ich habe diesen anspruchsvollen Roman mit sehr viel Freude gelesen, er hat mich bis zu seinem stimmigen Ende berührt, fasziniert und gefesselt.

Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Klassiker!

Bewertung vom 10.07.2023
Gelegenheiten
Schneider, Romy

Gelegenheiten


gut

Leichte Sommerlektüre
Der Kopfreisen Verlag hat "Gelegenheiten", den Debütroman von Romy Schneider, veröffentlicht.
 
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Marketingmanagerin Karla. Der 34-Jährigen geht es eigentlich bestens: sie lebt mit ihrem Freund Marc, einem erfolgreichen Vermögensberater, in einer großen Penthousewohnung in Berlin, hat Karriere gemacht und verdient gut. Das Paar lebt im Luxus, macht teure Reisen und genießt gesellschaftliches Ansehen. Aber Karla ist nicht glücklich, denn sie hat seit langem einen Traum. Sie wünscht sich, Schriftstellerin zu sein und sieht sich dabei in einem kleinen Häuschen in der Provence. Marc hat jedoch andere Lebensziele, und so fasst Karla den Entschluss, ihn zu verlassen und allein einen neuen Anfang zu wagen.
 
Karla kündigt ihren Job, packt 2 Koffer und fährt zum Haus ihrer Eltern. Von dort aus macht sie sich auf den Weg in die Provence, wo sie durch Vermittlung einer befreundeten Buchhändlerin ein Haus in der Nähe von La Motte-d'Aigues mietet. Dort verbringt sie die ersten Tage mit den nötigen Einkäufen und Renovierungsarbeiten und widmet sich fortan ihrem Buchprojekt.
 
Den Einstieg in die Geschichte fand ich sehr gelungen, konnte ich doch Karlas Wunsch nach Veränderung gut nachvollziehen. Wir begleiten Karla nun auf ihren Wegen in der neuen Umgebung, lernen ihre neuen Freunde kennen und erleben dank schöner Landschaftsbeschreibungen die Faszination der Provence. Mit Karlas Ankunft in der Provence flacht die Geschichte aber leider sehr schnell ab. Nahezu alles, was Karla anpackt, ist von Erfolg gekrönt und perfekt. Das habe ich als wenig authentisch empfunden, es mangelte mir an Tiefgang und ging mir zu sehr in die Richtung eines sogenannten Wohlfühlromans. 
 
Das Buch ist in angenehmem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Alle Charaktere sind sehr sympathisch, allerdings zeigt keine der Personen Ecken und Kanten. Der Teil des Buches, der in Berlin und in Karlas Heimatdorf spielt, hat mir gut gefallen. Ich empfand die Handlung als stimmig und authentisch. Den Teil, der in der Provence spielt, fand ich hingegen in weiten Teilen unrealistisch und vorhersehbar. Die Buchidee eines Neuanfangs als Schriftstellerin ist so  schön und interessant, ich habe mir viel erhofft und mich auf eine tiefgründige Lektüre gefreut. Vielleicht waren meine Erwartungen zu hoch - der Roman hat mich leider nicht überzeugen können.

Bewertung vom 08.07.2023
One of the Girls
Clarke, Lucy

One of the Girls


ausgezeichnet

Dramatischer Junggesellinnenabschied
Der dtv Verlag hat "One of the Girls" vorgelegt, den neuen Roman der britischen Autorin Lucy Clarke.
 
Lexi Lowe ist überglücklich. Bald wird die 31-Jährige Yogalehrerin heiraten, ihr Auserwählter heißt Ed Tollock und ist 35 Jahre alt. Lexi wünscht sich eine Hochzeit im kleinen Kreis, in einer alten Mühle. Ihre selbsternannte beste Freundin Bella macht ihr klar, dass sie um einen Junggesellinnenabschied nicht herumkommt und organisiert einen Flug nach Griechenland. Auf einer kleinen Insel wollen Lexi und fünf Freundinnen während eines verlängerten Wochenendes eine unbeschwerte Zeit genießen. 
Nach und nach lernen wir die Freundinnen kennen und erfahren, woher und wie lange sie Lexi kennen. Außer Bella ist da noch Fen, die Lebensgefährtin Bellas, deren Tante den jungen Frauen die Villa, die bald verkauft werden soll, zur Verfügung stellt. Robyn ist Anwältin und Mutter eines kleinen Jungen. Außerdem ist Eleanor dabei, Eds Schwester, deren Verlobter Sam vor einem Jahr kurz vor der Hochzeit gestorben ist. Und wir lernen Ana kennen, alleinstehende Mutter eines 15-jährigen Sohnes.
Die Freundinnen sind begeistert von ihrer geschmackvollen Unterkunft unter griechischer Sonne, genießen die Abgeschiedenheit und den herrlichen Blick aufs Meer. Doch schon bald kommt es zu Spannungen und Auseinandersetzungen, der reichliche Alkoholkonsum trägt dazu bei, dass Geheimnisse enthüllt und Freundschaften auf den Prüfstand gestellt werden.
 
Das spannende Buch hat mir sehr gut gefallen. Bereits der Einstieg in die Geschichte ist sehr gelungen. Von Anfang an weiß der Leser, dass in der Strandfeuernacht etwas Schreckliches passieren wird, dass eine Person den Urlaub nicht überleben wird. Das hält die Spannung durchgehend auf einem hohen Level. Lucy Clarke erzählt die Geschichte in kurzen Kapiteln, trotz ständig wechselnder Perspektiven behält man sehr gut den Überblick. Das Buch ist sehr gut aufgebaut und hat zahlreiche unerwartete Wendungen, immer wieder wurde ich überrascht. Nach und nach erfahren wir viel aus der Vergangenheit der Freundinnen, gute und schlechte Erinnerungen werden enthüllt. Es gibt aufschlussreiche Verknüpfungen zwischen den Frauen, und es werden wahre Gefühle preisgegeben. Die interessanten und vollkommen unterschiedlichen Charaktere hat die Autorin sehr bildhaft und gekonnt beschrieben.
 
Ich habe den Roman sehr gern gelesen und war gefesselt bis zum für mich vollkommen überraschenden Ende.  

Bewertung vom 06.07.2023
Elternhaus
Mank, Ute

Elternhaus


ausgezeichnet

Lesenswerter Roman über ein emotionales Thema
Der dtv Verlag hat "Elternhaus", den zweiten Roman von Ute Mank, veröffentlicht.
 
Sanne ist die älteste von drei Schwestern und hat sich in letzter Zeit neben ihrem Beruf verstärkt um ihre alt gewordenen Eltern gekümmert, die ganz in der Nähe immer noch ihr vor Jahrzehnten gebautes Haus mit großem Garten bewohnen. Die ständigen Besuche bei den Eltern und die damit verbundenen Hilfeleistungen überfordern Sanne, und sie beschließt, dass die Eltern in eine altersgerechte Wohnung umziehen sollen. Ihre Schwester Gitti, die jüngste der Schwestern, ist dagegen, die mittlere Schwester Petra, die weit entfernt wohnt, ahnt nichts von den Umzugsplänen. Sanne setzt sich durch, ist nach dem Umzug der Eltern erst einmal erleichtert. Dann aber plagt sie doch das schlechte Gewissen, und sie fühlt sich nach wie vor verpflichtet, täglich bei den Eltern vorbeizuschauen. Diese haben ihr das Haus bereits überschrieben, und Sanne möchte es verkaufen, wovon weder die Eltern noch ihre Schwestern etwas wissen.
 
Im Mittelpunkt der gefühlvollen Geschichte stehen Sanne und Petra, über Gitti erfahren wir eher wenig. Abwechselnd erleben wir Sannes und Petras Alltag und blicken dabei tief in ihre Gefühls- und Gedankenwelt. Die Frauen erinnern sich an die Zeit, als sie noch Kinder waren und mit den Schwestern im Elternhaus lebten. Mit ihrem Auszug aus dem schmalen Haus haben sie sich auseinandergelebt, das Verhältnis ist schwierig, und sie haben wenig Kontakt zueinander. 
 
Das Buch hat mich sehr berührt, und ich konnte mich sehr gut in die Eltern hineinversetzen, die wenig begeistert von den Umzugsplänen ihrer Tochter sind, aber auch in Sanne, die durch die Situation völlig überlastet ist und einen Ausweg sucht. Das aktuelle Thema ist emotional, fast jeder von uns steht irgendwann vor der Frage, was zu tun und vor allem richtig ist, wenn die Eltern alt werden und "nicht mehr können". Die Autorin schildert die Problematik des Älterwerdens und den Umgang der jüngeren Generation damit äußerst einfühlsam und lebensnah. Auch das Verhältnis der Schwestern untereinander, die zutage tretenden alten Konflikte und die emotionale Belastung, die mit der aktuellen Situation verbunden ist, hat Ute Mank ganz wunderbar beschrieben, die unterschiedlichen Charaktere äußerst authentisch und bildhaft skizziert.
 
Ich habe die in ruhigem und klarem Sprachstil erzählte Geschichte sehr gern gelesen, sie hat mich berührt und sehr nachdenklich gemacht.
Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 04.07.2023
Reitmayr machte immer alles mit links
Jan C. Behmann

Reitmayr machte immer alles mit links


ausgezeichnet

Großartige und intelligente Unterhaltung
In seinem beeindruckenden Roman "Reitmayr machte immer alles mit links" erzählt Jan C. Behmann die Geschichte des Rechtsanwalts Frederic Reitmayr, der es geschafft hat, Partner in der Sozietät Flachs & Delk in Frankfurt zu werden. Der 43-jährige kommt aus einfachen Verhältnissen, der Vater war Beamter, die Mutter Hausfrau, Geschwister hat er keine. Er ist stolz auf das Erreichte, schließlich beschäftigt die Firma fast 200 Juristen, aber nur 22 davon sind Partner. Den erarbeiteten Luxus weiß er zu genießen, hat sich ein Penthouse direkt am Main gegönnt, relaxt gern in seinem Eames-Lounge-Chair und genießt den Kaffee aus seiner Siebträgermaschine . Seinen Audi TT wird er in Kürze durch einen Porsche 911 ersetzen, er trägt nur noch Maßanzüge, und bald wird er handgefertigte Maßschuhe aus Wien sein Eigen nennen. Er liebt es, bei einem edlen Wein gepflegt speisen zu gehen, gern in Begleitung seines besten Freundes aus Studientagen, Balthasar Seydler, der Jurist in einer anderen Großkanzlei ist.

Reitmayr widmet sich mit Hingabe seinem Luxusleben, vernachlässigt darüber jedoch seine Anwaltstätigkeit, und bald steht ihm großer Ärger ins Haus wegen eines für die Kanzlei unverzichtbaren Mandanten. Außerdem entdeckt eine Wirtschaftsprüferin Unregelmäßigkeiten bei Zahlen in wichtigen Dokumenten. Plötzlich geschieht etwas, das Reitmayr in seinen Grundfesten schwer erschüttert ...

Der Roman, mit dem uns der Autor ins Anwaltsmilieu entführt, hat mir sehr gut gefallen. Er liest sich sehr flüssig, ist spannend und in intelligentem Sprachstil geschrieben. Mit viel Humor beschreibt der Autor das private und berufliche Leben seines sympathischen Protagonisten und lässt uns dabei tief in dessen Gedanken- und Gefühlswelt blicken. Die Charaktere sind bildhaft und präzise skizziert. Das Ende hat mich überrascht, es ist stimmig und regt einmal mehr zum Nachdenken darüber, was wirklich wichtig ist im Leben, an. Ich habe die Geschichte mit sehr viel Freude gelesen, der feine Humor des Autors machte den Roman für mich zu einem äußerst unterhaltsamen und kurzweiligen Leseerlebnis.

Das Buch kommt als Taschenbuch im handlichen Pocketformat daher und passt dadurch in fast jede Tasche. Hervorzuheben ist das wunderschön gestaltete Cover, das mich bereits auf den ersten Blick begeistert hat.

Absolute Leseempfehlung von mir für diesen intelligenten, humorvollen und spannenden Roman!