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Alais

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Insgesamt 187 Bewertungen
Bewertung vom 26.04.2019
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Muller, Richard A.

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sehr gut

Elektronen, die sich in der Zeit rückwärts bewegen (sogenannte Positronen); Flugreisen, die nach dem Bezugssystem der Erde das Leben verlängern; eine wissenschaftliche Theorie, die man unmöglich verstehen kann ("[Ich kann] mit Sicherheit behaupten, dass niemand die Quantenmechanik versteht" von Richard Feynmann, Physiker und Quantenmechaniker, zitiert auf den Seiten 276 und 277) und die doch zu erstaunlich zutreffenden Ergebnissen führt ...
Richard A. Muller zeigt in seinem Buch, das er der Frage nach dem geheimnisvollen Zeitpunkt "Jetzt" widmet, wie spannend die Welt der Physik und der Zeitphänomene unseres Universums ist. Dabei findet er für dieses so fürchterlich komplizierte Thema zumindest etwas verständliche Erklärungen und anschauliche Beispiele. Ich wünschte, meine früheren Physiklehrer wären wenigstens ein kleines bisschen so wie er gewesen!
Dennoch – vieles von dem, was ich in der Theorie jetzt doch etwas besser begreifen kann, wie beispielsweise die Relativitätstheorie, übersteigt trotz allem tief in mir drin mein Vorstellungsvermögen, wo eine kleine, hartnäckige Stimme immer wieder "geht doch gar nicht" meint.
Einiges empfand ich auch als beunruhigend, beispielsweise den Gedanken, dass die Milchstraße eine Geschwindigkeit von 1,6 Millionen Stundenkilometern aufweisen soll (wo ich doch schon bei wesentlich geringeren Geschwindigkeiten Panik bekomme), eigentlich aber alles schien mir sehr erstaunlich und faszinierend.
Sehr sympathisch finde ich seine kritische Haltung gegenüber dem oft geradezu fanatischen Glauben, alles, was sich (noch) nicht wissenschaftlich erklären lässt, wäre falsch ("Der Physikalismus war eine machtvolle Religion, die der Physik einen Brennpunkt gegeben und damit unsere Zivilisation weit vorangebracht hat, aber man sollte ihn benutzen um Wahrheiten abzulehnen, die sich nicht quantifizieren lassen. Es gibt eine Realität jenseits der Physik, jenseits der Mathematik [...]", S. 394).
Sehr schön ist auch die Gestaltung des Buches: ein himmelblaues Lesebändchen, mit viel Bedacht ausgewählte Illustrationen (beispielsweise Fotos erwähnter Wissenschaftler, zum Thema passende Comicstrips, ein Foto des ersten nachgewiesenen Positrons ...) und ein abwechslungsreicher Anhang mit einem Gedicht, Zitaten anderer Wissenschaftler und ganz vielen mir viel zu komplizierten Berechnungen.
Für mich keine leichte Lektüre, die mich aber auch ein bisschen zum Träumen von all den rätselhaften Zeitphänomenen brachte!

Bewertung vom 20.04.2019
Die Frauen von Salaga
Attah, Ayesha Harruna

Die Frauen von Salaga


sehr gut

Diese wendungsreiche Erzählung entführt in die präkoloniale Zeit des 19. Jahrhunderts in Ghana.
In zwei Handlungssträngen, die schließlich immer enger miteinander verwoben werden, erzählt Ayesha Harruna Attah von zwei sehr unterschiedlichen jungen Frauen. Jede beeindruckte mich auf ihre Weise.
Auf der einen Seite die aus einer Herrscherfamilie stammende Wurche, der das gelingt, was so vielen Menschen auch heutzutage und hierzulande nicht immer gelingt: Etabliertes in Frage zu stellen, selbstständig zu denken, und immer wieder beherzt neu zu entscheiden, wie der eigene Weg aussehen soll. Auf der anderen Seite die sanftere Aminah, in deren Gegenwart sich andere Menschen wohlfühlen und die trotz schrecklicher Erlebnisse und Verluste nicht aufgibt. Diese fiktive Figur ist vielleicht auch deshalb so liebevoll gezeichnet, weil sich die Autorin mit ihr ihrer Ururgroßmutter, von der sie kaum etwas weiß, annähert und dieser Frau, die in ihrer Familie nur „die Sklavin“ genannt wird, durch Aminah wieder einen Namen gibt. Völlig frei ist jedoch auch Wurche nicht …
Vieles bedroht zu jener Zeit und an jenem Ort den Frieden, die Freiheit und die Sicherheit der Menschen – Polygamie, arrangierte Eheschließungen, Gewalt in der Ehe, Menschenraub, Sklaverei, Missbrauch, Machtkämpfe und Krieg … Und ich fand es sehr ermutigend und inspirierend, wie beide Frauen trotz allem versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen.
Der Schreibstil ist sehr schlicht, für meinen Geschmack etwas zu schlicht und vor allem am Anfang etwas zu nüchtern und distanziert. Dafür werden Atmosphäre und Stimmungen sehr eindrucksvoll beschrieben, der Zauber einer Karawane und die eher düstere Faszination der alten Sklavenstadt Salaga meisterhaft eingefangen. Eine erfrischend heitere Note brachte für mich manchmal der Blick auf die Europäer – wobei der sich ankündigende Kolonialismus natürlich weniger erfreulich ist ...
Auch den Romanfiguren nähert sich die Autorin zunächst wie einer Katze – sehr behutsam und respektvoll. Dennoch baut sie vielschichtige Charaktere auf, die sich nicht so leicht in Schubladen stecken lassen, und ich fühlte mich vor allem Aminah und Wurche bald sehr nahe.
Gewünscht hätte ich mir manchmal ein paar hilfreiche Anmerkungen der Übersetzerin oder, besser noch, einen kleinen informativen Anhang, auch wenn wohl die meisten Leser Zugang zum Internet als Informationsquelle haben. Dafür aber enthält das Buch im vorderen Teil eine schöne und nützliche Karte.
Alles in allem hat mich diese Geschichte sehr bewegt und stellte für mich eine sehr willkommene Horizonterweiterung dar!

Bewertung vom 12.04.2019
Blutfelsen / Die Geheimnisse der Klingenwelt Bd.2
Honisch, Ju

Blutfelsen / Die Geheimnisse der Klingenwelt Bd.2


ausgezeichnet

„Blutfelsen“ war für mich eine positive Überraschung – trotz des schaurigen Titels und der großen Rolle, die Krieg und Kämpfe in diesem Roman spielen (Romanzutaten, die ich normalerweise verabscheue), hat mich dieses Buch von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen und konnte mich sehr schnell begeistern. Was mich an diesem spannenden Roman so faszinierte, waren vor allem die inneren Kämpfe der verschiedenen Romanfiguren. Immer wieder geht es um die großen Entscheidungen, die man im Leben trifft, um den Mut, anderen zu helfen, auch wenn man sich selbst dabei in Gefahr bringt. Darum, wie schwierig es manchmal ist, zu den Menschen, die man liebt, zu stehen und dabei nicht andere Menschen, die man ebenfalls liebt, zu verletzen.
Vor allem aber fand ich es wunderbar, staunend in die von der Autorin so kreativ und sorgfältig gestaltete Welt einzutauchen: die Kulissen der majestätischen Berge und des kunstvoll errichteten Schlosses, fremde Bräuche wie das Kratzen an der Tür, ganz eigene Flüche, eigene Pflanzen- und Tierwelt. Letztere umfasst faszinierende, jedoch sehr gefährliche Wesen: Riesenbuzzarde, Pantheiger und die etwas kleineren und doch alles andere als harmlosen Gerdel (die die Autorin zu dem so schönen Fluch „Das geht dich einen Gerdeldung an“ (S. 468) inspiriert haben).
Im hinteren Teil befindet sich ein Glossar und es stört auch gar nicht, dass es nicht im vorderen Buchteil Platz gefunden hat, denn alle Begriffe wurden von der Autorin so mühelos in die Geschichte eingewoben und nebenbei erklärt, dass man nicht über sie stolpert. Stattdessen empfand ich es sehr schön, das Glossar zum Romanausklang lesen und mich so noch einmal an all die schönen Wortschöpfungen erinnern zu können.
Dabei war die Handlung oft derart spannend, dass es manchmal schwerfiel, auf solche Details zu achten, und ich mich nur mit Mühe davon abhalten konnte, Sätze zu überspringen, weil ich unbedingt ganz schnell wissen wollte, wie eine Szene ausgeht ... Zum Spannungsaufbau trug bei, dass zwei Haupthandlungsstränge sehr lange Zeit parallel laufen, der eine so fesselnd wie der andere und gelegentlich erfolgte vor einem Wechsel zwischen diesen Handlungssträngen auch noch ein Cliffhanger ... Das war von der Autorin sehr geschickt aufgebaut.
In beiden Erzählungen, die sich allmählich zu einer großen Geschichte mit zum Teil sehr unheimlichen, düsteren Elementen vereinen, sind zwei junge Frauen, Shernay und Nimry, unterwegs, müssen sich verschiedenen Gefahren stellen, wachsen an ihren Herausforderungen und über sich hinaus. Trotz all dem Grauenvollen, das sich ereignet, bietet diese Geschichte viele erhebende, berührende und manchmal sogar humorvolle Momente. Die verschiedenen Romanfiguren sind vielschichtig und lassen sich nicht in Gut- und Böse-Schubladen stecken.
Ein großartiges Leseerlebnis, aber man sollte ein wenig Zeit einplanen, denn, wenn man erst einmal angefangen hat, mag man dieses Buch mit seinen über 700 Seiten so schnell nicht wieder aus der Hand legen!

Bewertung vom 15.03.2019
Glückskatz / Frau Merkel Bd.3
Panizza, Kaspar

Glückskatz / Frau Merkel Bd.3


ausgezeichnet

In München geht ein besonders grausamer Mörder um ..., der sich als Opfer äußerst unsympathische Zeitgenossen auserwählt. Doch Kommissar Steinböck und seine freche Begleiterin Frau Merkel, die Katz, sind ihm auf der Spur ...
Obwohl ich die beiden Romane „Saukatz“ und „Teufelskatz“ mit den ersten Fällen mit Frau Merkel nicht gelesen hatte, fiel es mir leicht, in die Welt von Kommissar Steinböck einzutauchen. Dass hier eine Katze auch schon mal mit an den Tatort darf, erscheint angesichts ihres Spürsinns völlig natürlich. Auch ist Frau Merkel eine Katze, mit der man sich nicht unbedingt anlegen möchte, indem man ihr irgendwelche Vorschriften macht ...
In dem Roman ist Steinböck der Einzige, der sie verstehen kann - und was er da zu hören bekommt, ist für ihn nicht unbedingt sehr schmeichelhaft, war dafür für mich als Leserin aber umso erheiternder ... Ihre bissigen und oft so furchtbar treffenden Bemerkungen ließen diesen Krimi für mich zu einem echten Lesehighlight werden.
Auch schön fand ich das bayrische Flair der Erzählung. Der Autor flicht immer wieder ein klein wenig bayrischen Dialekt ein (besonders gefreut habe ich mich über die Kombinationen Englisch-Bayrisch „hältst a briefing“ und „um sechse a Date“), aber nur in Maßen, sodass das Buch auch für Nicht-Bayern gut verständlich bleibt. Und durch die Glückskatz, eine geheimnisvolle Maneki-neko, die Steinböck aus Japan von einem verschollenen Kollegen zugesandt bekommt und von Frau Merkel leidenschaftlich gehasst wird, zieht auch ein Hauch von Exotik in die Erzählung ein ...
Durch die finsteren Machenschaften der Mordopfer, aber auch durch parallel dazu sich ereignende Geschehnisse im Leben der Ermittler kommen einige brisante Themen wie die Abmahnindustrie oder die Kinderarbeit unter extrem gesundheitsschädlichen Bedingungen zur Verwertung von Elektroschrott in Ghana zur Sprache. Gerade weil diese Themen so unangenehm sind, dass man sie gerne verdrängt, finde ich es wichtig, sie immer wieder anzusprechen. Denn Verschweigen macht es für die Verantwortlichen nur noch leichter ... Es hat mich sehr beeindruckt, dass es Panizza gelungen ist, so viele dieser Themen anzusprechen und dennoch eine unterhaltsame Kriminalerzählung zu kreieren.
Eine sehr gelungene Mischung aus einer spannenden Unterhaltung, ernsten Themen und einem einfach fabelhaften Humor!

Bewertung vom 10.03.2019
An den Ufern der Seine
Poirier, Agnès

An den Ufern der Seine


sehr gut

Dieses Buch besticht allein schon durch seine ausgesprochen gelungene Gestaltung – es enthält nicht nur ein Lesebändchen (sehr praktisch, wenn man einen Schoßkater hat, der hinter einem Buch bespaßt werden möchte, während man es liest), sondern dieses ist auch noch wunderschön und passenderweise in den drei Farben der französischen Nationalflagge gehalten.
Da fand ich die vereinzelten Tippfehler, die mir über den Weg liefen, gar nicht mehr so schlimm – obwohl es mich doch immer wieder verwundert, wenn Fehler wie auf S. 307 „Ankuft“ statt „Ankunft“, die durch die Korrekturfunktion in Word leicht zu finden sind, übersehen werden. Aber es waren zum Glück nur sehr wenige, ansonsten liest sich der Text (bis auf die Einleitung, die ich etwas trocken fand) sehr angenehm.
Für mich war es sogar ein großer Genuss, das Buch zu lesen – und für Frankreichfans ist es auf jeden Fall ein Muss! Es steckt voller Wissensperlen wie der erstaunlich frivolen Geschichte hinter dem Titel Warten auf Godot (ich naiver Mensch dachte tatsächlich an eine komplizierte Erklärung wie der französischen Verkleinerungsform von des englischen „god“ …) oder der heroischen Geschichte des Verlags Éditions de minuit …
Es ist ja auch eine spannende Zeit, in die man mithilfe des Buches eintauchen kann – die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die schwierige Moralprobe der Besatzung durch die Nazis und der Umgang mit den Kollaborateuren nach der Befreiung … Es war eine Zeit, in der die Menschen immer wieder Stellung beziehen musste, in der sie über sich hinauswachsen konnten, in der sie Angst um ihr Leben und die Zukunft der Welt, in der sie lebten, haben mussten … Und zugleich stellte Paris eine intellektuelle Hochburg dar, wurden dort wunderbare Werke geschaffen, die bis in die heutige Zeit hinein nachwirken, wurde leider auch bereits das Fundament des Kalten Krieges gelegt, aber zeichnete sich erfreulicherweise sogar schon das Entstehen der Europäischen Union ab …
Ich konnte viele Bildungslücken füllen und noch einmal einen ganz anderen Blick auf berühmte Schriftsteller werfen, deren Werke mich schon sehr lange begleiten. Vor allem freut mich, dass ich durch dieses Buch einen ganz anderen Zugang zu Sartre gefunden habe, der mir jetzt viel sympathischer ist. Gleichzeitig verstehe ich besser, warum Louis Aragons Bücher und ich nie wirklich Freunde wurden …
Interessant fand ich, wie stark die Rolle der Kommunisten in jenen Jahren in Frankreich war – und wie sie prompt an Einfluss verloren, als sie versuchten, den Künstlern ihre Freiheit zu nehmen (ausgerechnet Franzosen die Freiheit nehmen wollen …). Und auf der anderen Seite des Atlantiks die nicht weniger irrationale Hexenjagd auf Kommunisten, von panischen US-Amerikanern initiiert … die viele US-amerikanische Künstler wie Charlie Chaplin zur Auswanderung veranlasste … Erstaunlich, wie schnell der Einfluss der US-amerikanischen Hexenjäger in Europa Fuß fassen konnte, wobei Stalins Verbrechen dabei natürlich sehr hilfreich waren …
Ein eleganter Schreibstil, eine Fülle unterhaltsamer Anekdoten und ein spannender Blick in eine entscheidende Phase der europäischen Geschichte – für mich eine schöne Lektüre!

Bewertung vom 24.02.2019
Der Welt nicht mehr verbunden
Hari, Johann

Der Welt nicht mehr verbunden


ausgezeichnet

Der Journalist Johann Hari, der selbst viele Jahre unter Depressionen litt, schildert in diesem Buch seine Rechercheergebnisse zu diesem Thema, zu dem er eine Vielzahl interessanter Projekte, Studien und Ansätze zusammengetragen hat. In Journalistenmanier hat er diese komplexe Thematik für ein breites Publikum verständlich aufbereitet und bietet auch die Möglichkeit, sich die Aufzeichnungen seiner Gespräche mit verschiedenen Fachleuten auf der Buchwebsite anzuhören.
Was mich an diesem Buch gefreut hat, war, dass ich das Gefühl hatte, dass Menschen mit Depressionen ihre Würde zurückgegeben wird. Hari, dem lange etwas anderes eingeredet wurde, sieht eine Depression nun als eine durchaus rationale und gesunde Reaktion auf schlimme Erlebnisse oder Situationen, so wie körperlicher Schmerz ein wichtiges Signal ist, dass etwas nicht stimmt (sehr schön fand ich in diesem Zusammenhang das Zitat auf S.°243 des indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti: „Es ist kein Maßstab für Gesundheit, wenn man an eine kranke Gesellschaft angepasst ist“). Mir gefällt diese Betrachtungsweise, nicht die Depression und die oft mit dieser verbundenen Angststörung, sondern deren Ursache als Krankheit anzusehen und die Behandlung folglich auf diese Ursache bzw. den Umgang mit dieser Ursache zu konzentrieren.
Antidepressiva werden, so schließt Hari aus seinen Recherchen, maßlos überschätzt, dennoch betont er zweimal in seinem Buch, dass er niemanden davon abhalten möchte, Antidepressiva einzunehmen, denn: „Einige glaubwürdige Wissenschaftler haben festgestellt, dass sie [Antidepressiva] einer kleineren Zahl von Patienten vorübergehend Linderung verschaffen, und das sollte man nicht leugnen.“ (S. 388)
Er schlägt aber vor allem sieben andere mögliche Lösungswege vor, die er „soziale und psychische Antidepressiva“ nennt und sehr vorsichtig als „erste tastende Schritte, die auf vorläufigen ersten Untersuchungen beruhen“ (S. 251) bezeichnet. Diese sind so vielfältig wie die Ursachen und Ausprägungen von Depressionen, er selbst hat beispielsweise für sich entdeckt, dass es ihm am besten hilft, wenn er anderen hilft.
Besonders interessant und überzeugend jedoch finde ich seine These, dass Depressionen nicht allein durch individuelle Schritte geheilt werden können, weil die meisten Menschen eben nicht so einfach ihren Arbeitsplatz wechseln oder ihr Leben auf andere Weise neu gestalten können (zumal depressiven Menschen dazu auch oft die Kraft zu solch großen Schritten fehlt).
Deshalb schlägt er Änderungen auf der kollektiven Ebene vor, wie er es bei Kambodschanern beobachten konnte: „Ein geeignetes Mittel bestand für sie darin, dass die Gemeinschaft den depressiven Menschen mit vereinten Kräften in die Lage versetzte, sein Leben zu ändern“ (S. 248). Nachahmenswert finde ich vor allem den von Hari geschilderte Ansatz von Sam Everington, der in seiner Arztpraxis seinen Patienten gemeinnützige Projekte „verordnet“ – sinnvolle, durch einen Koordinator begleitete Tätigkeiten in kleinen Gruppen von Patienten, die diesen helfen, positive Erlebnisse zu sammeln, Selbstvertrauen und bei der Projektarbeit auch wieder Kontakt zu anderen Menschen zu finden (als Beispiel wird therapeutisches Gärtnern genannt). Aber Hari hat auch die Gesellschaft als Ganzes im Blick, für die es wichtig wäre, den Menschen überhaupt erst die Möglichkeit zu geben, ein glückliches Leben führen zu können. Auch hier nennt er konkrete Ansätze, die mir jedoch schwer durchzusetzen scheinen. Überhaupt sind in dieser Hinsicht natürlich wir alle gefragt und nicht nur Betroffene.
Mir macht das Buch Mut und zeigt ein paar Wege auf, die ich gehen könnte, damit aus meinen aktuellen Ängsten und Sorgen gar nicht erst wieder eine Depression entsteht – und vor allem hoffe ich, dass ich nun auch Menschen in meiner Umgebung, die akut an einer Depression leiden und denen es dadurch an Kraft und Mut fehlt, besser helfen kann.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.02.2019
Die Mauer
Lanchester, John

Die Mauer


ausgezeichnet

„Es ist kalt auf der Mauer“, – so beginnt Lanchesters gar nicht so realitätsferne Dystopie und besser als der Autor selbst kann man einen ersten Satz zu diesem Roman gar nicht formulieren. Steht doch im Mittelpunkt eine Mauer rund um Großbritannien, die auf eindrucksvolle Weise menschliche Kälte als Abschottung verkörpert.
Ich sehe in diesem Roman gerne eine Dystopie, doch beunruhigende Parallelen zu unserer Gegenwart sind offensichtlich: In beiden Welten schotten sich reiche Staaten ab, in beiden Welten lassen reiche Länder immer wieder Menschen lieber im Meer ertrinken, anstatt mit ihnen zu teilen oder sich Lösungen zu überlegen, wie sie die Menschen retten könnten ...
Was durch den Klimawandel und das dadurch bedingte Schrumpfen der Landflächen eines nicht allzu fernen Tages für uns Realität werden könnte, scheint in Lanchesters Romanwelt bereits eingetroffen zu sein: Es gibt auf der Welt nicht mehr genug Platz und Nahrung für alle.
Dass sich Großbritannien durch seine Mauer somit nicht nur vor dem gestiegenen Meeresspiegel schützt, sondern diese auch nutzt, um Bootsflüchtlinge abzuwehren, klingt kaltherzig, hört sich aber unter diesen Umständen auch zunächst noch halbwegs rational an. Doch mir drängt sich beim Lesen die Frage auf, ob Grausamkeit überhaupt jemals vernünftig sein kann oder ob es nicht immer viel vernünftiger ist, sein Gehirn zu nutzen, um dort, wo es bisher keine Lösung ohne Leiden gibt, eine solche Lösung zu entwickeln?
Brillant fand ich, wie der Autor durch das Konzept der "Fortpflanzler" entlarvt, wie viel Irrationalität sich hinter einem solchen grausamen, auf den ersten Blick so vernünftig erscheinenden Vorgehen in Wirklichkeit verbergen kann. Einerseits soll es auf der Welt zu viele Menschen geben, um alle zu versorgen, und die Menschen innerhalb der Mauer haben daher Angst, mit den „Anderen“ zu teilen. Andererseits gibt es innerhalb der Mauer die Befürchtung, dass es bald nicht mehr genug Menschen geben könnte, um die Mauer zu bewachen, weshalb diejenigen, die Kinder kriegen, belohnt werden ... Auch dies ist ein Widerspruch, der in unserer Welt nicht unbekannt ist.
Man merkt: Dieser Roman hat mich sehr bewegt und ich kann gar nicht aufhören, über ihn nachzudenken. Der Autor hat jedoch nicht nur wichtige Themen unserer Zeit aufgegriffen, sondern sie auch in eine spannende Geschichte verpackt. Diese ist abenteuerlich, düster, manchmal sogar etwas poetisch.
Der Hauptfigur, dem jungen Mauerverteidiger Joseph Kavanagh, fühlte ich mich zwar nicht besonders nahe, aber die Situationen, in die Joseph gerät, werden sehr anschaulich geschildert. So hatte ich beim Lesen immer das Gefühl, mich mitten im Geschehen zu befinden, konnte den kalten Wind auf der Mauer förmlich spüren, fragte mich immer wieder, wie ich mich verhalten hätte, und erschrak, als ich mich plötzlich dabei ertappte, "wie ein Verteidiger" zu denken ...
Auch der Schreibstil des Buches gefiel mir sehr. Der Autor versteht sich sowohl auf das Formen schöner kurzer, verdichteter Sätze als auch auf wunderbare längere Satzgebilde, die einzelne Situationen in all ihren verschiedenen Facetten beleuchten - die der Übersetzerin Dorothee Merkel zu verdankende deutsche Sprachfassung erscheint mir jedenfalls rundum gelungen.
Ein sehr empfehlenswerter Roman, der aktuelle Themen, Ängste und Entwicklungen unserer Welt in eine packende Geschichte einer möglichen, nicht allzu fernen Zukunft verpackt, die zum Nachdenken anregt und für mich ein deutlicher Hinweis ist: Abschottung und Gewalt sind definitiv der falsche Weg - gemeinsam aber lassen sich auch in größter Not Lösungen finden, wie in "Die Mauer" eine kleine Floßgemeinschaft beweist.
Aber wie wird unsere Zukunft aussehen? Lanchesters düstere Dystopie ist zwar aufrüttelnd, macht aber auch keine großen Hoffnungen ...

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.02.2019
111 tödliche Pflanzen, die man kennen muss
Blasl, Klaudia

111 tödliche Pflanzen, die man kennen muss


ausgezeichnet

„Generell steht sie gern auf Friedhöfen herum, doch sollte man nie in ihrem Schatten verweilen, es sei denn, man ist bereits tot. Ansonsten wächst die Lebensgefahr mit jedem Annäherungsversuch.“
(S. 62, über die Eibe)

Wer wie ich schon sehr lange Mitbewohnerin von Stubentigern ist, weiß es ja eigentlich schon: Manche Pflanzen sind einfach böse und sollten besser nicht in Katzenreichweite stehen – außer Katzengras kommt mir daher auch keine Pflanze auf das Fensterbrett. Dennoch hat mich dieses Buch mit seiner Zusammenstellung von Pflanzen mit Giftmörderambitionen regelrecht schockiert - finden sich dort doch auch einige meiner Lieblinge wie die Zucchini, die ich bisher für völlig harmlos hielt ...
Trotz kleiner Vorkenntnisse dank Agatha Christie konnte ich so noch viel lernen, unter anderem, dass für Katzen selbst das Trinken von Wasser aus Blumentopf-Untersetzern eine große Gefahr darstellen kann (wenn das süße Blümchen zufällig ein Ritterstern ist) ... Und dass man keine Memme ist, sondern sogar äußerst klug ist, wenn man Äpfel nicht ganz isst, sondern das Gehäuse mit den Kernen auslässt … (Es gab in meiner Kindheit tatsächlich Jungs, die anderes behaupten haben - hoffentlich leben sie noch ...)
Der Schreibstil von Klaudia Blasl ist einfach fabelhaft. Sie liefert eine Fülle von Informationen und doch haben ihre Texte einen erstaunlichen Unterhaltungswert.
Zu jeder Pflanze wird auf der linken Seite ein kurzweiliger, mit Informationen vollgepackter Text geboten und auf der rechten Seite befindet sich eine große, die ganze Seite einnehmende Abbildung des jeweiligen Pflanzenunholds, überdeckt nur von einem kleinen Infotext, der die wichtigsten Daten (Vergiftungserscheinungen etc.) zusammenfasst. Die großen Fotos kamen mir sehr gelegen, denn schließlich wuchsen in mir Zeile für Zeile das Unbehagen und der dringende Wunsch, mir die betreffenden Pflanzen genau einzuprägen, um ihnen besser aus dem Weg zu gehen ...
Man erfährt unter anderem, welche Teile der jeweiligen Pflanze gefährlich sind und unter welchen Umständen (beispielsweise ob bereits bei Berührung oder roh verzehrt oder gar „secondhand“, d. h., wenn man das Pech hat, ein Tier zu verspeisen, das zufällig gerade an dieser Pflanze geknabbert hatte …), und man kann sich über viele schaurige Anekdoten und spannende Blicke in die Geschichte freuen.
Eine unterhaltsame Lektüre, die äußerst interessant für Krimifans und Gärtner ist, aber vor allem auch ein wertvolles Nachschlagewerk sowohl für Eltern als auch für die Mitbewohner von Katzen und anderen Gefährten, die gerne von Pflanzen naschen!

Bewertung vom 04.02.2019
Drei Sekunden Jetzt
Platzgumer, Hans

Drei Sekunden Jetzt


ausgezeichnet

Hans Platzgumer hat mich mit seinem Schreib- und Erzählstil, der so wunderbar lässig ist und doch nie ins Flapsige abdriftet, sondern ganz entspannt auch schon mal poetische Höhen erreicht, von den ersten Zeilen an begeistert.
Die Geschichte erschien mir etwas seltsam (was ich immer gut finde) und zart. Sie bewegt sich jenseits von Klischees, nimmt gerne einen unerwarteten Verlauf und vermeidet große Dramen. Und doch geschieht so viel, wird so viel erlebt und gefühlt und ich fühlte mich ganz im Bann der Erzählung.
Gelungen fand ich auch die Wahl und Beschreibung der Schauplätze – von der Hitze Marseilles bis zur grausamen Eiseskälte von Montréal fühlte ich mich als Leserin immer wie am Ort des Geschehens. Platzgumer schafft so herrlich obskure Orte wie ein kleines Hotel mit Meerblick, das in der Regel keine Gäste wünscht, und lässt sogar einen Einkaufswagen zu einem faszinierenden, schicksalsträchtigen Ort werden ...
Der Hauptfigur François fühlte ich mich sehr nahe, auch wenn ich ihn nicht immer verstand – warum nur interessiert es ihn so wenig, woher das Geld, das er in dem merkwürdigen Hotel verdient, kommt? Mir hätte das Sorgen gemacht ... Andererseits arbeiten so viele Menschen für Unternehmen, die ganz legal der Gesellschaft oder sogar dem ganzen Planeten Schaden zufügen ... vielleicht hat François auch einfach nur ein realistischeres Weltbild als ich. Und eigentlich ist es auch genau das, was mir an ihm so gefällt: dass er andere Menschen nicht so schnell verurteilt und sie so annimmt, wie sie sind.
Ein großes Thema war für mich in diesem Roman die Verlorenheit der Menschen in der Welt. Das erinnerte mich ein bisschen an ein Zitat von Alma Mahler-Gropius, das ich gerade in einem anderen Buch gelesen hatte: "Wie behütet war ich doch als Kind, und wie fremd steht man später in der Welt." (Unda Hörner: "1919 - Das Jahr der Frauen", S. 176) Gerade François jedoch, der als Findelkind sogar schon verloren in die Welt startete, erhellt dieses dunkle Thema auf wundersame Weise mit seiner tröstlichen inneren Überzeugung, immer wieder gefunden zu werden ... Was für ein schöner Gedanke!
So habe ich diese Geschichte sehr genossen und empfand sie wie eine wunderschöne Hymne an das Leben, die alltäglichen Wunder der Welt, ganz besonders jedoch an die Erzählkunst!

Bewertung vom 20.01.2019
1919 - Das Jahr der Frauen
Hörner, Unda

1919 - Das Jahr der Frauen


ausgezeichnet

Wahrscheinlich ist jedes Jahr ein spannendes Jahr, aber der Blick zurück in jene Zeiten, relativ kurz bevor sich Katastrophen wie die Machtergreifung der Nazis ereigneten, ist natürlich von besonderem Interesse. Dies ganz besondere jetzt, da wir in Deutschland wieder Rechtsextreme im Bundestag sitzen haben und wachsam sein müssen, damit unser Land nicht wieder im rechtsradikalen Mief untergeht ...
Gleich zu Beginn schildert die Autorin auf sehr eindrückliche Weise mit der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts eine abscheuliche Tat, die mit den lächerlich milden Strafen für die Täter wie ein früher Vorbote der Nazizeit wirkt ... und mich auf unheilvolle Weise daran denken ließ, dass auch heute wieder Staatsdiener im Zusammenhang mit rechter Gewalt in Kritik stehen ...
Noch beunruhigender fand ich es angesichts des späteren Geschehens jedoch festzustellen, wie hoffnungsvoll und voller positiver Neuanfänge die Welt 1919 noch war, wie aktiv die Kulturszene sich zeigte und so doch das Land eigentlich gegen Rechtsextremismus hätte geimpft sein müssen. Durch Montessori und Steiner manifestierte sich endlich sogar ein Wille, Kinder zu eigenständigem Denken zu erziehen. 1919 schien also eigentlich noch nichts entschieden, vielleicht hätte man die Katastrophe noch abwenden können ... Dabei war gerade erst ein besonders grausamer, traumatisierender Krieg zu Ende gegangen.
Wahrscheinlich liegt mein Eindruck, dass diese Kriegstraumatisierung der Menschen in Europa in diesem Buch eine erstaunlich geringe Rolle spielt, einfach nur daran, dass die Autorin ihren Blick vor allem auf die Frauen richtet. Für uns Frauen war 1919 in der Tat ein ganz besonderes Jahr, in Deutschland unter anderem dank der Einführung des Frauenwahlrechts. Beeindruckt hat mich aber auch, wie die in diesem Buch versammelten Frauen auf unterschiedlichste Weise die Gesellschaft mitgestaltet haben, dabei mussten sie unter ganz anderen Bedingungen wirken, als wir heute in unserer von größerer (wenn auch nicht vollständiger) Emanzipation geprägten Gesellschaft ... Ich habe den erhebenden Eindruck, dass auf gewisse Weise jede von ihnen über ihre Zeit hinauswuchs, das ist sehr inspirierend!
Unda Hörner hat für ihr Buch aber auch eine Reihe wenn auch ziemlich unterschiedlicher, so doch immer faszinierender Persönlichkeiten ausgewählt, darunter Marie Curie, Coco Chanel, Else Lasker-Schüler, Sylvia Beach und Käthe Kollwitz. In dem nach Monaten angeordneten Kapiteln wirft sie nicht nur immer wieder einen Blick auf das Leben dieser Personen in diesem Jahr, sondern skizziert, wenn es angebracht erscheint, auch kurz die Vorgeschichte oder späteren Verlauf.
Ich empfand die Erzählweise der Autorin als sehr angenehm und unterhaltsam. Sie hat einen schönen, eleganten Schreibstil voller Leichtigkeit und ich habe mich gefreut, in ihrem Buch sowohl Bekannte wiederzutreffen als auch viele für mich neue und interessante Informationen zu erfahren.
Eine schöne und bereichernde Lektüre!