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YukBook
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München

Bewertungen

Insgesamt 278 Bewertungen
Bewertung vom 09.09.2021
Im letzten Licht des Herbstes
Lawson, Mary

Im letzten Licht des Herbstes


ausgezeichnet

Selten habe ich ein Buch gelesen, in dem die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen so einfühlsam beleuchtet wird wie in diesem Roman. Dass ein Teenager namens Rose in der kanadischen Kleinstadt Solace spurlos verschwunden ist, spielt eher eine Nebenrolle. Vielmehr geht es um ihre jüngere Schwester Clara, die am Boden zerstört ist. An ihre vertraute alte Nachbarin Elisabeth Orchard kann sie sich nicht wenden, da diese im Krankenhaus liegt; ihren Eltern, die ihr Dinge verschweigen, traut sie nicht mehr. So knüpft sie aus lauter Verzweiflung Kontakt zu dem fremden Mann Liam Kane, der in Elisabeths Wohnung gezogen ist.

In weiteren Erzählsträngen lernen wir sowohl Liam, der einen Neuanfang wagt, als auch Elisabeth, die ihren Erinnerungen mit ihrem verstorbenen Mann nachhängt, näher kennen. Was die beiden miteinander verbindet und offenbar wieder entzweit hat, verrät die Autorin nur häppchenweise und baut so einen großen Spannungsbogen auf. Dabei gibt sie jeder Figur viel Raum.

Es ist bemerkenswert, wie souverän sie zwischen der kindlichen Perspektive und der Erwachsenensicht wechselt und uns tief in ihre Seelen blicken lässt. Claras Entschlossenheit, das Revier ihrer Nachbarin zu schützen, oder Liams Bemühen, nicht die gleichen Fehler zu machen wie in seiner gescheiterten Ehe, haben mich tief berührt. Dieser Roman, in dem sich ein starker Moment an den nächsten reiht, zählt zu meinen Lesehighlights in diesem Jahr.

Bewertung vom 23.08.2021
Das Adressbuch der Dora Maar
Benkemoun, Brigitte

Das Adressbuch der Dora Maar


ausgezeichnet

Manche Schriftsteller suchen mühsam nach interessantem Stoff für ein neues Buch, anderen fällt er buchstäblich in den Schoß – so wie Brigitte Benkemoun. In einer Vintage Kalenderhülle entdeckt sie ein Adressbuch mit lauter Namen berühmter Künstler wie Bréton, Braque, Cocteau und Éluard.

Wir begleiten die Autorin bei ihrer spannenden Detektivarbeit, bis sie schließlich herausfindet, dass es sich um das titelgebende Adressbuch von Dora Maar handelt. Sie nutzt diesen unglaublichen Fund für eine fragmentarische Künstlerbiografie: Statt den Lebensweg chronologisch zu erzählen, knüpft sie sich einen Namen nach dem anderen aus dem Büchlein vor und spürt auf, in welcher Beziehung sie zur Besitzerin standen.

So formt sich nach und nach das Bild einer Frau, die ich bisher nur als Malerin und Picassos Geliebte kannte. Ich wusste nicht, dass sie zuvor eine erfolgreiche Mode- und Werbefotografin gewesen war, nach der Trennung von Picasso an starken Depressionen litt und sich immer mehr dem Glauben und der Mystik zuwandte.

Manchmal rauchte mir der Kopf bei dem umfangreichen Personenensemble aus Surrealisten, Dichtern, Galeristen, Freunden und Bekannten. Zum Glück schreibt Brigitte Benkemoun sehr unterhaltsam und in einem lockeren Ton, als vertraue sie einer Freundin eine interessante Neuigkeit an.

In einer Zeit, in der wir Kontaktdaten digital pflegen, ging für mich ein umso größerer Reiz von diesem Adressbuch und der Vorgehensweise aus. Ich habe die Reise durch das Büchlein zu verschiedenen Orten wie Paris, Ménerbes und Brüssel sehr genossen und dank der akribischen Recherche viel Neues über Dora Maar und ihr Umfeld erfahren. Nun kann ich dem berühmten Gemälde "Weinende Frau“ von Picasso ein Gesicht zuordnen.

Bewertung vom 19.08.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


ausgezeichnet

Ein Ehepaar, das sich entfremdet hat, und ein Urlaub in der Uckermark, der zeigen wird, was noch zu retten ist – Das sind die Zutaten dieses Romans. Eigentlich recht unspektakulär und doch entwickelt die Geschichte von Anfang an eine starke Sogwirkung.

Der Alltag von Rahel und Peter auf einem Bauernhof liest sich wie ein Kammerspiel. Während Rahel Peters Nähe sucht und sich um eine Aussprache bemüht, scheint sich dieser in der Gesellschaft der Tiere wohler zu fühlen. Die landschaftlichen Beschreibungen der Uckermark gelingen Daniela Krien ebenso gut wie der Blick in Rahels Gefühlswelt. Immer wieder verquickt sie bissigen Humor mit Melancholie und Bitterkeit.

Nach und nach erfahren wir mehr über die Hintergründe der Ehekrise und weitere Familienkonflikte, besonders als ihre Tochter Selma anreist. Geschickt lässt die Autorin auch aktuelle Themen wie die Gender-Diskussion oder Konsumkritik in die Handlung einfließen. Es gibt immer wieder kleine Momente, in denen die Vertrautheit und Zuneigung zwischen Rahel und Peter aufblitzen und die mir Hoffnung machten auf ein Happy End.

Ich finde den Roman sowohl inhaltlich als auch stilistisch großartig und habe ihn verschlungen. Dinge, die eine glückliche Ehe ausmachen und die sie wieder zerstören können, bringt Daniela Krien mal unterschwellig, mal plakativ, aber immer treffsicher auf den Punkt.

Bewertung vom 11.08.2021
All The Lonely People
Gayle, Mike

All The Lonely People


ausgezeichnet

Hubert Bird hätte allen Grund zur Freude. Seine Tochter Rose, die als Professorin in Australien arbeitet, kündigt an, ihn endlich in London zu besuchen. Doch der 84-jährige Witwer verfällt in Panik. Wie soll er auf die Schnelle die ganzen „Freunde“ herbeizaubern, die er in seinen wöchentlichen Telefonaten erfunden hatte, damit sie sich keine Sorgen macht?

Vielleicht kann ja die Nachbarin Ashleigh helfen, die frisch nach London gezogen ist und Anschluss sucht. Als er die junge alleinerziehende Mutter und ihre kleine Tochter Layla näher kennenlernt, wird ihm erst bewusst, wie einsam er in Wirklichkeit all die Jahre war, obwohl er es sich nie eingestehen wollte.

Ihren besonderen Charme hat die Geschichte dadurch, dass sie abwechselnd auf zwei Zeitebenen spielt. Parallel erfahren wir, wie der junge Hubert aus seine Heimat Jamaika verließ, um in London sein Glück zu versuchen und zu dem Mann wurde, der er heute ist. Gespannt verfolgt man zum einen die bewegende Lebensgeschichte eines Windrush-Migranten, zum anderen den gesellschaftlichen Wandel seit den 1950er Jahren. Mike Gayle ist ein herzerwärmender, humorvoller und lebensbejahender Roman mit vielen liebenswerten Figuren gelungen, der sich zugleich um ernste Themen wie Migration, Rassismus, Verlust und Einsamkeit dreht.

Bewertung vom 04.08.2021
Die nächste Welle ist für dich
Eickelberg, Dörthe

Die nächste Welle ist für dich


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die mir eine völlig unbekannte Welt eröffnen und meinen Horizont ungemein erweitern. Dieses Buch ist so eines. Erwartet hatte ich einen Erfahrungsbericht einer Journalistin und leidenschaftlichen Surferin, die verschiedene Länder bereist und Surf-Pionierinnen trifft, um ihre Ängste zu überwinden. Doch es bietet weitaus mehr als das. Auf jeder Reisestation tauchen wir nicht nur in die oft von Männern dominierte Surferszene ein, sondern bekommen auch Einblick in die jeweilige Kultur und das Rollenbild der Frau.

In Chennai an der Südküste Indiens zum Beispiel trifft die Autorin auf Shaila, die große Opfer bringen musste, um ihrer Tochter Aneesha das Surfen zu ermöglichen, und begleitet die beiden zu den ersten Surfmeisterschaften des Landes. Suthu, die vermutlich erste schwarze Surferin, bringt uns in Durban einheimische Bräuche und die demütige Einstellung der Menschen zum Ozean näher. Auf Hawaii erfahren wir, woher Paige, die Weltmeisterin im Big Wave Surfen, ihren Mut nimmt.

Jede Begegnung und gemeinsame Surfsession regen die Autorin zur kritischen Selbstreflexion an. Sie schreibt so persönlich und mitreißend, dass sie selbst mir, die sich noch nie auf ein Surfbrett getraut hat, den Sport ein wenig schmackhaft machen konnte. Was man sich beim Surfen (zu-)traut und wie man sich behauptet, lässt sich auf viele andere Lebensbereiche wie die Arbeitswelt übertragen. Der gelungene Mix aus unterschiedlichen Frauenporträts, Surf-, Reise- und Erfahrungsbericht hat mich schlichtweg begeistert.

Bewertung vom 01.08.2021
Revolution der Träume / Wege der Zeit Bd.2
Izquierdo, Andreas

Revolution der Träume / Wege der Zeit Bd.2


sehr gut

Über die Goldenen Zwanziger habe ich schon einige Bücher gelesen, doch ich wusste wenig über die Zeit davor und die Kehrseiten der Blütezeit. Andreas Izquierdo katapultiert uns in diesem Roman mitten in diese Epoche des Umbruchs nach Berlin, wo die drei Protagonisten Carl, Isi und Artur einen Neuanfang wagen. Obwohl ich den ersten Teil der "Wege der Zeit"-Reihe nicht kenne, fand ich mich schnell in die Geschichte ein.

Dass die Handlung aus Carls Sicht erzählt wird, kam mir sehr entgegen, denn mit ihm konnte ich mich am besten identifizieren. Mit großer Neugier verfolgte ich sowohl sein erstes Filmprojekt als Kameramann bei der UFA als auch seine Bekanntschaft mit der geheimnisvollen Marlies. Durch Isi, die sich in einen Adligen verliebt, und Artur, der sowohl ein beliebtes Lokal als auch gefährliche Geschäfte in der Unterwelt betreibt, lernte ich das damalige Berlin in all seinen Facetten kennen. Die gegensätzlichen Charaktere sind sehr gut gezeichnet, nur mit Isis Entwicklung tat ich mich etwas schwer.

Andreas Izquierdo erzählt eine bewegende Geschichte über drei enge Freunde, die sich durch eine Zeit voller Unsicherheit und Gewalt durchschlagen und in jeder Lebenslage zusammenhalten, eingebettet in spannenden Geschichtsunterricht.

Bewertung vom 17.07.2021
Frieda von Richthofen
Abbs, Annabel

Frieda von Richthofen


ausgezeichnet

D. H. Lawrence und sein berüchtigter Roman „Lady Chatterley“ sind sicher vielen ein Begriff, doch wer kennt seine große Liebe, die ihn zu dieser Figur und zu vielen weiteren berühmten Werken inspirierte? Von dieser besonderen Frau handelt dieser biografische Roman.

Frieda fühlt sich in der prüden und affektierten Gesellschaft in Nottingham und in der Ehe mit dem verknöcherten Professor Edgar Weekley fehl am Platz. Wer weiß, wie lange ihr trostloses Leben noch so weitergegangen wäre, hätte sie nicht ihre Schwester in München besucht. In der Schwabinger Bohème fühlt sie sich das erste Mal lebendig und erkennt ihr wahres Wesen und ihre Bestimmung. Besonders die Begegnung und Affäre mit dem Psychoanalytiker Otto Gross und seine revolutionären Ideen von einem freizügigen Leben entfesseln Frieda und stellen die Weichen für ihre spätere Liebesbeziehung zum Schriftsteller D.H. Lawrence.

Spannend ist nicht nur Friedas Wandlung, sondern wie diese von ihrer Familie wahrgenommen wird. Mit großer Sensibilität und viel Mitgefühl erzählt die Autorin das Geschehen auch aus der Sicht des Ehemannes Ernest und des Sohnes Monty. Am meisten litt ich natürlich mit Frieda, zerrissen zwischen der Liebe zu ihren Kindern und zu Lawrence, für den sie weit mehr als eine passive Muse ist. Wer sich nicht nur für die Emanzipationsgeschichte einer außergewöhnlichen Frau, sondern auch für die damaligen Reformbewegungen interessiert, kann sich auf ein großes Lesevergnügen freuen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.07.2021
Miss Hollywood - Mary Pickford und das Jahr der Liebe
Walton, Emily

Miss Hollywood - Mary Pickford und das Jahr der Liebe


ausgezeichnet

Emily Walton erzählt eine Liebesgeschichte, die ich mir lebhaft auf der Leinwand vorstellen kann. Sie spielt sich jedoch nicht vor, sondern hinter der Kamera ab und beruht auf wahren Begebenheiten. Mary Pickford und Douglas Fairbanks, beide große Hollywoodstars der Stummfilmära, verlieben sich und halten lange Zeit ihre Affäre geheim, um ihre Karriere nicht zu gefährden, denn beide sind bereits verheiratet. Besonders Mary darf ihr braves, tugendhaftes Image als „America‘s sweetheart“ nicht aufs Spiel setzen.

Die Handlung wird abwechselnd aus Sicht der beiden Hauptfiguren erzählt, wobei sich Marys Dilemma zwischen Vernunft und Gefühlen stärker in den Vordergrund drängt. Einerseits will sie ihre hart erkämpfte Karriere nicht achtlos wegwerfen, andererseits möchte sie nach zahlreichen persönlichen Opfern endlich ein wenig Glück für sich beanspruchen, statt nur den Erwartungen der Studiobosse, ihrer Fans und ihrer unbarmherzigen Mutter und Managerin gerecht zu werden.

Sowohl die ehrgeizige, streng gläubige Mary als auch der furchtlose Lebemann und Abenteurer Douglas werden als gegensätzliches Paar sehr gut charakterisiert. Besonders ihre gemeinsame Werbetournee im April 1918 mit Charlie Chaplin, um Kriegsanleihen zu verkaufen, versetzt den Leser in eine Zeit, in der die Menschen verrückt waren nach Stars und Entertainment, um dem Alltag zu entfliehen.

Neben der sehr dominanten Liebesgeschichte hätte ich mir noch mehr Einblick in Marys Arbeit als Schauspielerin und vor allem Filmproduzentin gewünscht. Wie der Untertitel verrät, legt Emily Walton klar den Fokus darauf, in welchem Ausmaß ihre Liebe zu Douglas sie veränderte und ihr zu einem selbstbestimmten Leben verhalf.

Bewertung vom 07.07.2021
Schreibtisch mit Aussicht

Schreibtisch mit Aussicht


ausgezeichnet

Wer begeistert ein Buch verschlungen hat, macht sich selten Gedanken darüber, welch harte schriftstellerische Arbeit und Willenskraft dahinter steckt. Einen Blick hinter die Kulissen gewährt uns Ilka Piepgras mit Werkstattberichten von 24 berühmten Schriftstellerinnen wie Siri Hustvedt, Katharina Hagena oder Deborah Levy.

So unterschiedlich wie die Werke der Autorinnen sind auch die Texte, in denen sie uns ihre Einstellung zum Schreiben, ihre Motivation, Vorbilder und Rituale näher bringen. Mütter wie Anne Tyler erzählen davon, wie rar und kostbar im streng durchgetakteten Alltag jene Momente sind, in denen sie am Stück schreiben kann. Für Eva Menasse ist die Schreibroutine wie ein Helikopterlandeplatz, der täglich gepflegt werden muss und auf dem sie mehr Zeit mit dem Umschreiben als mit dem Schreiben verbringt. Besonders bewegt hat mich der Text von Kathryn Chetkovich mit dem Titel „Neid.“ Sie beschreibt, in welchen Konflikt sie geriet, als sie sich in einen Schriftsteller verliebte, der in ihren Augen besser schrieb als sie und mit seinem veröffentlichten Roman tatsächlich große Erfolge feierte.

Ich war erstaunt, dass viele Schriftstellerinnen keinen Plot planen, sondern sich von bestimmten Bildern und von ihrer Intuition leiten lassen, bevor es dann ans Eingemachte und an die mühsame handwerkliche Arbeit geht. Wie erfahren nicht nur, wie sie zu ihren Romanideen kamen, sondern auch interessante biografische Hintergründe wie Kindheitserinnerungen, Erlebnisse in Schreibseminaren oder persönliche Träume und Fantasien. Die vielseitigen Essays waren für mich sehr inspirierend.

Bewertung vom 04.07.2021
Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3
Ditlevsen, Tove

Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3


sehr gut

Der Titel des dritten Teils der Kopenhagen-Trilogie verheißt nichts Gutes. Dabei ist Toves Wunsch, den 30 Jahre älteren Verleger Viggo Fr. Møller zu heiraten, in Erfüllung gegangen. Doch das Eheleben mit ihm wird zu einer Enttäuschung, was zu einer Reihe von neuen männlichen Bekanntschaften und Liebschaften führt.

In diesem Teil verlor die Erzählerin deutlich Sympathiewerte. Mit dem Studenten Ebbe und der gemeinsamen Tochter hat sie allen Grund, glücklich zu sein, doch sie begeht wissentlich eine Torheit nach der anderen, verhält sich egoistisch und selbstzerstörerisch. Am liebsten hätte ich sie kräftig geschüttelt und zur Vernunft gebracht.

Es ist schmerzhaft, wie nüchtern und fatalistisch Tove ihre Medikamentensucht und den Teufelskreis beschreibt, als wäre sie fremdgesteuert. Ihren einst starken Willen und ihre Entschlossenheit, die ich so bewundert hatte, richtet sie nicht mehr auf ihre schriftstellerische Karriere, sondern einzig und allein darauf, in den Besitz von Pillen zu kommen. Wie ehrlich und offen sie über ihre Sucht schreibt, verdient allerdings größte Anerkennung.