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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 07.11.2022
Die Kuratorin
Kröll, Norbert Maria

Die Kuratorin


ausgezeichnet

Wir können die Kuratorin auf den ersten Seiten nur abstoßend finden. Sie ist kalt, kalkulierend, hart, ehrgeizig und sie möchte immer höher hinaus. Sie verachtet fast alles. Die Kuratorin hat nur eine Freundin und sie ist überzeugt, wenn jemand Sex mit ihr will, dann nur, weil er sich einen Vorteil erhofft. Doch dann passiert ein Unfall mit einem jungen Künstler. Ein Kondom platzt, die Pille danach versagt und etwas in ihr entscheidet sich gegen eine Abtreibung. Ihre einzige Freundin wünscht sich schon lange ein Kind, so scheint sich eine perfekte Lösung aufzutun.

Ja, der Plot erinnert auf den ersten Blick an einen schlechten Fernsehfilm, auch noch aus der Feder eines Mannes, auf den ersten Blick, denn erst vor Kurzem hat Norbert Maria Kröll sich als nonbinär geoutet. Ich lauerte darauf, mich fürchtend, dass die Kuratorin sich in den Vater des Kindes verliebt, ihre Karriere aufgibt und wenn sie nicht gestorben ist... Zum Glück haben wir es aber mit einer komplexen Figur und mit einer guten Geschichte zu tun.

Der Text ist rhythmisch, schnell, kühl und laut am Anfang im Kunstbetrieb, wechselhaft leise, fein und dann wieder trotzig in ihrer Familie. Die Kuratorin wird weicher, nachdenklicher im Verlauf und beginnt ihre Strategien in Frage zu stellen. Sie akzeptiert die Rolle der einsamen harten Kuratorin nicht mehr und sucht nach neuen Regeln.

Kunstbetrieb und Care-Arbeit, Kröll zeigt eine ganz eigene Mischung zwischen Subversion und Konservativismus auf. Wie treffend doch Abramović dazu zitiert wird, Nachkommen wären ein Desaster für ihre Arbeit gewesen und Frauen seien in der Kunstwelt nicht so erfolgreich, weil sie Kinder bekämen. Spannen wir den Bogen noch weiter, steckt in diesem Roman die Kontrastierung eine alten mit einem neuen Feminismus. Der Kuratorin die Zuwendung zu einer radical softness anzudichten, das wäre zu viel, aber sie bewegt sich darauf zu.

Der Kuratorin die Zuwendung zu einer radical softness anzudichten, das wäre zu viel, aber sie bewegt sich darauf zu.
Sehr gern gelesen, auch wegen des Humors, wegen der eingearbeiteten Kunstdiskurse, dem Bansky-Bashing, der 𝑚𝑜𝑛𝑒𝑦 𝑠𝑒𝑙𝑙𝑠-Idee und wegen der Einblicke in den Kunstbetrieb.

Bewertung vom 07.11.2022
MTTR
Friese, Julia

MTTR


ausgezeichnet

Theresa lebt ein ganz normales deutsches Großstadtleben. Ihre neue Beziehung mit Erk fühlt sich gut an, die Bürogemeinschaft auch okay und Kinder sind nichts, was sie im Jetzt in Erwägung zieht. Oder doch? Sie nimmt Folsäure ein, geht zur Frauenärztin und in einer Mittagspause der Schock, die Verwirrung, zwei Striche, schwanger. Wenn ich Mutter bin, denkt Theresa, stillen, nein, Erk und ich werden die Care-Arbeit teilen. Ich werde nicht abtauchen, wie Isabell mir schon jetzt vorwirft. Ich werde mich im Beruf nicht zerreißen. Ich werde kein großes Ding um Schwangerschaft und Geburt machen, ins Krankenhaus gehen, wird schon klappen. Ich werde zurecht kommen mit der Mutter von Erk, die Mikroaggressionen verteilt. Wie meine Mutter, nein, nein, nein. Theresa ahnt, dass ein Zuviel auf sie einströmen wird.

MTTR, gegenwärtig in Konsonantenschrift, wir verstehen es sofort. Nein, es ist die Abkürzung für Mean Time to Recover | Repair aus der Systemsprache, so leitet die Autorin den Roman ein. Sie stößt uns gleich darauf, dass es ihr nicht nur darum geht, die Geschichte einer Mutterwerdung zu erzählen, sondern auch um das Erbe einer nationalsozialistisch geprägten Erziehung. Theresa kommt aus einer normalen nicht-normalen westdeutschen Familie. Ihre Mutter, Königin der kleinbürgerlichen Abschottung, zeigt sich im Außen akkurat, kontrolliert, sich abhebend von vermeintlich "Assozialen" und "Ausländerkindern". Im Innen erlebt Theresa sie kalt, distanziert, kritisierend und gemeinsam mit dem Vater Gewalt ausübend. Friese streut immer wieder Gedanken ein zum nationalsozialistischen Erbe, zu einer wenig belichteten Fortführung autoritärer, zur Anpassung und Entsolidarisierung führender Erziehung. Es mag daran liegen, dass ich mich nicht als Teil dieses implizierten "Wirs mit unseren Eltern" empfinden kann, dass mich diese Ebene nicht am meisten überzeugte. Viel überzeugender war MTTR in der direkten, detailreichen und schonungslosen Transformation zum Muttersein, in der alles zuviel ist, in der alle reinreden und reinhandeln. Friese kann nicht nur Journalismus, ein beeindruckendes Debüt.

Bewertung vom 07.11.2022
Noon
Kränzler, Lisa

Noon


sehr gut

»Pumpend entlade ich mich ganz gut. Zum Bersten geladen bin ich, wenn gesund und genährt. Auch malend kann man sich entladen. Was ich lernen will: meine Kraft in den Text pumpen; mit Druck an die Maschine gehen und dabei nicht wahnsinnig werden, mich schreibend verausgaben; das Kribbeln in den Schenkeln in Konzentration verwandeln, allen Strom ins Hirn (ab)leiten, den allzu lebendigen Leib vor den Karren der Sprache spannen. Druck zeugt Sprachgewalt pro Papierfläche: Diese Utopie wahr zu machen wohl meine Lebensaufgabe.«

Mit energiegeladen Textfetzen steigt »Noon« ein. Aus Erzählanläufen, Aufzählungen und Notizen geht hervor, sie ist pleite, zieht von Karlsruhe nach Hamburg, sie malt und möchte alles in dieses Buch pumpen, an ihren zentralen Roman »Coming of Karlo« anschließen.

»Noon« ist anstrengend, bereitet Freude, lädt ein zum halbbewussten Eintauchen in azzozoatitive, melodiöse, provokativ-intensive Sprachgefilde. Der Text ist fragmentiert, hat eine inspirierende Energie und Harmonie. Wo die Energie implodiert, ins Depressive und Essgestörte fließt, nervt Noon und ich bin mehrmals kurz davor, es in die Ausgelesen-Abgebrochen-Ecke zu pfeffern. Doch dann kommen Sätze wie »Im Idealfall ist Kunst so stillos wie die Wirklichkeit«, der Text fängt mich wieder ein und ich genieße die Parolen, das Ringen um Sprache, die präzisen Formulierungen, die Provokation und den Rhythmus. Kränzler kombiniert erzählskizzierte Gedanken, Dialogerinnerungen, Reflexionen, sie arrangiert sie, rearrangiert, ringt um Genauigkeit.

Wer Spaß an experimenteller Literatur hat, an »Tagebuch-Prosa«, an Ästhetik und an Sprache selbst, es provokant, klug, melodiös mag, lasse sich ein auf »Noon«. Wahrscheinlich steigt der Genuss für all jene, die die Bezüge zu »Coming of Karlo« einzuordnen wissen. Es ist aber auch so eine wohltuende Abwechslung zu all der Plotgetriebenen, um Realitäten ringenden Gegenwartsliteraturen.

Bewertung vom 07.11.2022
Die postkoloniale Stadt lesen

Die postkoloniale Stadt lesen


ausgezeichnet

Ausgehend von Straßen, Bauten, Plätzen und historischen Personen werden die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Gegenwart Friedrichshain-Kreuzbergs in unser Bewusstsein gerückt.
Die meisten Beiträge beziehen sich auf Übersee und Rassismus, andere spannen den Bogen des deutschen Kolonialismusbegriffs weiter und beziehen die imperiale Vereinnahmung des Nahen Ostens und des östlichen Europas mit ein. Schade ist die chronologische Sortierung, denn gerade die ersten Beiträge lesen sich mitunter wie eine Seminararbeit, was mit der fragmentarischen Quellenlage zusammenhängt. Wir erfahren von Macellino, der 1854 vor Gericht seine Freiheit forderte, von W. E. B. Du Bois, Mtoro Bakari, Quane a Dibobe, die im 19. Jahrhundert in Berlin lebten, von Menschenschauen und Kolonialfilmen. von Kolonialwaren und - Handel, wie Sarotti, Muratti, die Oranienapotheke werden thematisiert, ebenso wie der koloniale Kontext von Chamiso, Pückler, Rathenau, Stresemann. Und die wundervollen May Ayim löst 2010 als Namensgeberin für einen Uferabschnitt den Kolonialisten Groeben ab.

Ich empfehle die Lektüre von »Die Postkoloniale Stadt lesen« sehr, denn er sollte uns viel präsenter sein, der deutsche Postkolonialismus. Bitte mehr davon.

Bewertung vom 07.11.2022
Eine beiläufige Entscheidung
Wurster, Maren

Eine beiläufige Entscheidung


sehr gut

Wenderoman über Tabus von Mutterschaft

»Irgendwann kroch Lena doch aus dem Schrank heraus. Sie ertrug den eigenen Geruch darin nicht mehr, die feuchtwarme Luft, die Enge. Und sie musste Milch loswerden.«

Wir können uns entscheiden mit welcher Seite wir beginnen, mit einer verzweifelten Mutter, die ihr Baby verlässt oder mit dem verlassenen Kind, das mittlerweile 15 Jahre alt ist. Wir lesen zwei Perspektiven, die in der Mitte aufeinander treffen. Sie sind verbunden in der Liebe zu Holz und Skulpturen, in den Orten, in ihrer emotionalen Valenz, der Sehnsucht nach Geborgenheit und ihrer Wut. Doch sie treffen sich nicht, ihre Zeitebenen bleiben getrennt.

Lena begegnen wir in einem Ausnahmezustand. Sie versteckt sich in der Hütte ihres Schwagers, hungernd mit schmerzenden Brüsten, die vor kurzem noch ihr Kind ernähren. Der Text ist direkt und körperlich. In springenden Rückblenden verdichtet sich die Geschichte ihrer Mutterschaft und ihrer Beziehung zu Robert. Sie war eine selbstbewusste Frau, dann wurde sie schwanger, fühlte sich verlassen, überfordert mit dem Schreibaby Konrad. Fast spannender hätte ich gefunden, wie ihr Leben weitergeht, doch davon erfahren wir nicht.

Auf Konrad treffen wir im Internat, innerlich leer und wütend 15 Jahre später. Er hat große Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen, macht er doch immer wieder die Erfahrung verlassen zu werden. Er verletzt sich schon als Vorschulkind selbst, therapeutische Hilfen erreichen ihn nur verhalten, das Kindermädchen ist zu jung, der Vater Robert weicht einer Bindung aus. Doch er entdeckt sein Begehren mit einem Mitschüler, ein kurzes Glück, denn der verlässt ihn auch.

Die Form des Wenderomans verzeiht kaum Qualitätsunterschiede im Sound und in der Ausarbeitung der Figuren. Leider empfand ich beide Teile als unterschiedlich stark. Auch wenn Lena in der dritten Person erzählt wird, kommt sie nahe, beschäftigt und überzeugt. Bei Konrad hoffte ich sehr auf eine Systemsprenger - Wirkung, doch meine emotionale Beteiligung blieb bei ihm diffus auf Distanz. Ein dennoch spannender Roman.

Bewertung vom 18.09.2022
Haha Heartbreak
Kuderewski, Olivia

Haha Heartbreak


sehr gut

»Der Moment, in dem ich mich in dich verliebt habe, war richtig dämlich. Ich habe dir das nicht erzählt, weil ich mich im Nachhinein dafür geschämt habe, dass ich so billig zu haben war: Es lief ein Song...

Bewertung vom 14.09.2022
Städte aus Papier
Fortier, Dominique

Städte aus Papier


sehr gut

Ach, Emily, besonders warst du, besonders und speziell, sofern wir von dir wissen. Überliefert ist dein Leben in Fragmenten, das wir mit der lyrischen Biographie von Dominique Fontiere zu greifen versuchen und nicht zu greifen bekommen. Nicht ganz, denn es bleiben Lücken, Leerstellen und doch, es wird deutlich, die innere Welt von dir ist bunt, laut, die äußere ist gleißend weiß und still.

Ach, Emily, deine Literatur ist groß, ihrer Zeit voraus, auch schon damals in ihrer lyrischen Kraft, ihrer Melodie erkannt und heute noch ebenso berührend.

Ach, Emily, sie haben es geschafft, deine Städte aus Papier, sie sind im Kanon der Weltliteratur nicht wegzudenken. Deine Städte und Welten aus Papier, leben heute noch, sie schienen Ihrer Zeit voraus.

Die kanadische Autorin Dominique Fortier begibt sich mit uns auf Spurensuche, fängt die Stimmungen und Gefühle der Emily Dickinson ein, über die erstaunlich wenig in unserer Welt erhalten ist. Emily wuchs auf in einer bürgerlichen Familie, schien immer etwas anders-entrückt. Lieber als den Menschen, wandte sich dem Garten, den Pflanzen, den Tieren und den Büchern zu. Geheiratet hat sie nie. Ob sie jemals abgesehen vom Lesen und Schreiben Liebe für einen Menschen empfand, bleibt unklar. Sie verließ die meiste Zeit ihres Lebens ihr Zimmer nicht und begab sich ganz in ihre innere reiche Welt und in die Bücher.

Bewertung vom 14.09.2022
Dry
Koschmieder, Christine

Dry


sehr gut

Dry ist ein direktes autofiktionales Buch. Die Stärke von Autofiktion ist, dass sie Nähe herstellt, ohne dass wir die gleichen Erfahrungen gemacht haben müssen. Sie kann Scham überwinden helfen und eine innere Auseinandersetzung provozieren. Dabei ist es eine Gratwanderung, denn in solch einer rohen Form wie hier, ist damit kaum Schutz der Privatsphäre zu spüren.

Nahe und ungefiltert fokussiert sich die Erzählung auf Verletzungen in einer Familie, in der beide Eltern trinken und keine verlässliche Bezugspersonen sind. Die Beziehungen zu Männern und Freundschaften schildert sie als nur kurzzeitig haltgebend. Sie thematisiert, wie ihre Verletzungen und der Alkohol Auswirkungen auf ihre Mutterschaft und ihre Kinder haben.

Unseren inneren Bildern einer verelendeten Alkoholikerin, die wir bequem von uns weisen könnten, entspricht sie nicht. Koschmieders Entscheidung zur Abstinenz und zur Entwöhnungsbehandlung folgt einem inneren Prozess und der Bereitschaft, sich intensiv mit sich auseinanderzusetzen, sie wirkt noch mittendrin.

Ich hätte mir gewünscht, dass Koschmieder ihrer Arbeit im Kulturbetrieb mehr Raum gegeben hätte. Es geht fast unter, sie ist erfolgreich und sie ist Mutter von drei Kindern, die sie mehr oder weniger alleine aufzieht. Ich vermute, dass es in ihrem Beruf dazugehört, eine permanente Anpannung, das sich beweisen müssen und die Normalität des Trinkens im Kulturbetrieb. Den Druck, so vermute ich auch, erhöht die Verantwortung für drei Kinder, die Carearbeit und die finanziellen Unsicherheiten.

Ich wünsche dem Buch sehr, dass es nicht als "Befindlichkeitsliteratur" oder "trivial" abqualifiziert wird. Ich wünsche der Autorin und den anderen thematisierten Menschen, dass sie sich geschützt fühlen, denn alles so persönlich und unmittelbar offenzulegen und sich damit der Öffentlichkeit preiszugeben, ist die Kehrseite von Autofiktion. Es kommt wie automatisch dazu, dass Kritik am Text sehr nah dran ist am Leben der Autorin und ein Leben ist nicht zu kritisieren, es ist da, es ist. Aber Literatur, die weiter geht und neue geschütztere Formen sucht, wie Ernaux oder Cusk es tun, wäre mir noch lieber.

Bewertung vom 14.09.2022
Im Herzen eines goldenen Sommers
Serre, Anne

Im Herzen eines goldenen Sommers


ausgezeichnet

»Sie haben aber zu viele Bücher. Wie wollen Sie sich da zurecht finden? Vermischen Sie nicht sämtliche Geschichten? Ach, das ist nicht schlimm? Das sehe ich aber anders! Wenn man Sie zu einem Buch befragt, sollten Sie es nicht verwechseln, sonst hält man Sie am Ende noch für verwirrt. Außerdem erzählt jedes Buch eine bestimmte Geschichte und keine andere. Wäre ich Schriftstellerin wie Sie, würde es mir kein bisschen gefallen, wenn man meine Bücher mit anderen verwechselt.«

Es ist verschwommen, was für eine Geschichte »Im Herzen eines goldenen Sommers« erzählt.
Serre mischt alles zusammen, ihre erlesenen, ihre erzählten und ihre erlebten Geschichten. Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat aus anderen Literaturen, zeigt eine der dreißig Facetten ein und derselben Person. Die Kapitel hängen scheinbar lose zusammen, sind angefüllt mit literarischen Bezügen, die ebenso wild zusammengewürfelt sind, wie die autobiographischen.

Wir lesen von einer Frau, von einer Schriftstellerin, die in der Literatur zuhause ist. Wir sehen durch ihre Augen eine sinnliche Mutter, einen liebenden Vater, eine verlorene Freundin, eine Angestellte, die Schwester, den Verleger, Lektor und immer wieder sie in verschiedenen Gestalten. Sie ist unsicher, wütend, ängstlich, begehrend, nimmt die Gestalt einer stalkenden Geliebten, einer ausbeutenden Arbeitgeberin, einer schüchternen Schwester, einer Mörderin ein. Dieser Text ist verwischt, phantasierend, magisch und er ist nicht auf der Suche nach der Wahrheit.

»Warum muss man immerzu auf die Wahrheit pochen? Und auf welche Wahrheit eigentlich?«

Gratulation an Serre, an Klobusiczky, an den Berenbergverlag. Ein spannender Text von hoher Qualität, der mit dem Trend der autofiktionalen Literatur spielt und neue spannende Formen findet.

Bewertung vom 14.09.2022
Schwerer als das Licht
Raich, Tanja

Schwerer als das Licht


gut

»Sie sah Wellen, konnte jedoch kein Rauschen hören, als wäre eine Wand zwischen ihr und der Welt.«

»Schwerer als das Licht« ist eine sprachgewaltige Dystopie, die im bedrohlichen Ungefähren bleibt. Es ist ein bekanntes Motiv, eine namenlose Frau ist allein auf einer tropischen Insel. Sie scheint nicht im Einklang mit ihrer Umwelt. Die Natur ist saftig, duftend, laut und reich, doch sie erlebt beunruhigende Dinge, die Schatten auf das wärmende Licht fallen lassen. Bäume verdörren, Blätter nehmen schwarze Farbe an. Es riecht erst fruchtig, dann faulig, dann riecht es gar nicht mehr. Pflanzen verelenden, Tiere sterben, Geräusche verstummen, Sterne fallen vom Himmel, das Licht verdunkelt sich.

Wir beobachten die Klimaveränderungen und die Frau von außen. Sie verschanzt sich in ihrer Festung, die sie schützen soll vor der feindlichen Umwelt oder ist es sie, die sich feindlich verhält? Languren und Vögel beobachten sie immerzu. Auch Menschen streifen sie, aus der Ferne hört sie Trommeln im Norden, ihr Impuls ist zu fliehen. Der Text gleitet immer wieder ins traumhafte, geisterhafte Figuren lächeln, wenn die Frau im Einklang ist, werden zornig, wenn nicht. Kriegerische Szenen entstehen, die Natur reagiert und agiert, sie stirbt oder sie sammelt Kraft für den nächsten Kreislauf.

Schwerer als das Licht bedient sich einer poetisch gewaltigen Sprache, es liest sich ungemein gut. Wir werden an Haushofer erinnert, aber auch an Inselromane, Robinsonaden mit all ihren exotisierenden und kolonial geprägten Bildern, die es mir mitunter schwer machten.