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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 07.11.2022
Eine beiläufige Entscheidung
Wurster, Maren

Eine beiläufige Entscheidung


sehr gut

Wenderoman über Tabus von Mutterschaft

»Irgendwann kroch Lena doch aus dem Schrank heraus. Sie ertrug den eigenen Geruch darin nicht mehr, die feuchtwarme Luft, die Enge. Und sie musste Milch loswerden.«

Wir können uns entscheiden mit welcher Seite wir beginnen, mit einer verzweifelten Mutter, die ihr Baby verlässt oder mit dem verlassenen Kind, das mittlerweile 15 Jahre alt ist. Wir lesen zwei Perspektiven, die in der Mitte aufeinander treffen. Sie sind verbunden in der Liebe zu Holz und Skulpturen, in den Orten, in ihrer emotionalen Valenz, der Sehnsucht nach Geborgenheit und ihrer Wut. Doch sie treffen sich nicht, ihre Zeitebenen bleiben getrennt.

Lena begegnen wir in einem Ausnahmezustand. Sie versteckt sich in der Hütte ihres Schwagers, hungernd mit schmerzenden Brüsten, die vor kurzem noch ihr Kind ernähren. Der Text ist direkt und körperlich. In springenden Rückblenden verdichtet sich die Geschichte ihrer Mutterschaft und ihrer Beziehung zu Robert. Sie war eine selbstbewusste Frau, dann wurde sie schwanger, fühlte sich verlassen, überfordert mit dem Schreibaby Konrad. Fast spannender hätte ich gefunden, wie ihr Leben weitergeht, doch davon erfahren wir nicht.

Auf Konrad treffen wir im Internat, innerlich leer und wütend 15 Jahre später. Er hat große Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen, macht er doch immer wieder die Erfahrung verlassen zu werden. Er verletzt sich schon als Vorschulkind selbst, therapeutische Hilfen erreichen ihn nur verhalten, das Kindermädchen ist zu jung, der Vater Robert weicht einer Bindung aus. Doch er entdeckt sein Begehren mit einem Mitschüler, ein kurzes Glück, denn der verlässt ihn auch.

Die Form des Wenderomans verzeiht kaum Qualitätsunterschiede im Sound und in der Ausarbeitung der Figuren. Leider empfand ich beide Teile als unterschiedlich stark. Auch wenn Lena in der dritten Person erzählt wird, kommt sie nahe, beschäftigt und überzeugt. Bei Konrad hoffte ich sehr auf eine Systemsprenger - Wirkung, doch meine emotionale Beteiligung blieb bei ihm diffus auf Distanz. Ein dennoch spannender Roman.

Bewertung vom 18.09.2022
Haha Heartbreak
Kuderewski, Olivia

Haha Heartbreak


sehr gut

»Der Moment, in dem ich mich in dich verliebt habe, war richtig dämlich. Ich habe dir das nicht erzählt, weil ich mich im Nachhinein dafür geschämt habe, dass ich so billig zu haben war: Es lief ein Song...

Bewertung vom 14.09.2022
Städte aus Papier
Fortier, Dominique

Städte aus Papier


sehr gut

Ach, Emily, besonders warst du, besonders und speziell, sofern wir von dir wissen. Überliefert ist dein Leben in Fragmenten, das wir mit der lyrischen Biographie von Dominique Fontiere zu greifen versuchen und nicht zu greifen bekommen. Nicht ganz, denn es bleiben Lücken, Leerstellen und doch, es wird deutlich, die innere Welt von dir ist bunt, laut, die äußere ist gleißend weiß und still.

Ach, Emily, deine Literatur ist groß, ihrer Zeit voraus, auch schon damals in ihrer lyrischen Kraft, ihrer Melodie erkannt und heute noch ebenso berührend.

Ach, Emily, sie haben es geschafft, deine Städte aus Papier, sie sind im Kanon der Weltliteratur nicht wegzudenken. Deine Städte und Welten aus Papier, leben heute noch, sie schienen Ihrer Zeit voraus.

Die kanadische Autorin Dominique Fortier begibt sich mit uns auf Spurensuche, fängt die Stimmungen und Gefühle der Emily Dickinson ein, über die erstaunlich wenig in unserer Welt erhalten ist. Emily wuchs auf in einer bürgerlichen Familie, schien immer etwas anders-entrückt. Lieber als den Menschen, wandte sich dem Garten, den Pflanzen, den Tieren und den Büchern zu. Geheiratet hat sie nie. Ob sie jemals abgesehen vom Lesen und Schreiben Liebe für einen Menschen empfand, bleibt unklar. Sie verließ die meiste Zeit ihres Lebens ihr Zimmer nicht und begab sich ganz in ihre innere reiche Welt und in die Bücher.

Bewertung vom 14.09.2022
Dry
Koschmieder, Christine

Dry


sehr gut

Dry ist ein direktes autofiktionales Buch. Die Stärke von Autofiktion ist, dass sie Nähe herstellt, ohne dass wir die gleichen Erfahrungen gemacht haben müssen. Sie kann Scham überwinden helfen und eine innere Auseinandersetzung provozieren. Dabei ist es eine Gratwanderung, denn in solch einer rohen Form wie hier, ist damit kaum Schutz der Privatsphäre zu spüren.

Nahe und ungefiltert fokussiert sich die Erzählung auf Verletzungen in einer Familie, in der beide Eltern trinken und keine verlässliche Bezugspersonen sind. Die Beziehungen zu Männern und Freundschaften schildert sie als nur kurzzeitig haltgebend. Sie thematisiert, wie ihre Verletzungen und der Alkohol Auswirkungen auf ihre Mutterschaft und ihre Kinder haben.

Unseren inneren Bildern einer verelendeten Alkoholikerin, die wir bequem von uns weisen könnten, entspricht sie nicht. Koschmieders Entscheidung zur Abstinenz und zur Entwöhnungsbehandlung folgt einem inneren Prozess und der Bereitschaft, sich intensiv mit sich auseinanderzusetzen, sie wirkt noch mittendrin.

Ich hätte mir gewünscht, dass Koschmieder ihrer Arbeit im Kulturbetrieb mehr Raum gegeben hätte. Es geht fast unter, sie ist erfolgreich und sie ist Mutter von drei Kindern, die sie mehr oder weniger alleine aufzieht. Ich vermute, dass es in ihrem Beruf dazugehört, eine permanente Anpannung, das sich beweisen müssen und die Normalität des Trinkens im Kulturbetrieb. Den Druck, so vermute ich auch, erhöht die Verantwortung für drei Kinder, die Carearbeit und die finanziellen Unsicherheiten.

Ich wünsche dem Buch sehr, dass es nicht als "Befindlichkeitsliteratur" oder "trivial" abqualifiziert wird. Ich wünsche der Autorin und den anderen thematisierten Menschen, dass sie sich geschützt fühlen, denn alles so persönlich und unmittelbar offenzulegen und sich damit der Öffentlichkeit preiszugeben, ist die Kehrseite von Autofiktion. Es kommt wie automatisch dazu, dass Kritik am Text sehr nah dran ist am Leben der Autorin und ein Leben ist nicht zu kritisieren, es ist da, es ist. Aber Literatur, die weiter geht und neue geschütztere Formen sucht, wie Ernaux oder Cusk es tun, wäre mir noch lieber.

Bewertung vom 14.09.2022
Im Herzen eines goldenen Sommers
Serre, Anne

Im Herzen eines goldenen Sommers


ausgezeichnet

»Sie haben aber zu viele Bücher. Wie wollen Sie sich da zurecht finden? Vermischen Sie nicht sämtliche Geschichten? Ach, das ist nicht schlimm? Das sehe ich aber anders! Wenn man Sie zu einem Buch befragt, sollten Sie es nicht verwechseln, sonst hält man Sie am Ende noch für verwirrt. Außerdem erzählt jedes Buch eine bestimmte Geschichte und keine andere. Wäre ich Schriftstellerin wie Sie, würde es mir kein bisschen gefallen, wenn man meine Bücher mit anderen verwechselt.«

Es ist verschwommen, was für eine Geschichte »Im Herzen eines goldenen Sommers« erzählt.
Serre mischt alles zusammen, ihre erlesenen, ihre erzählten und ihre erlebten Geschichten. Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat aus anderen Literaturen, zeigt eine der dreißig Facetten ein und derselben Person. Die Kapitel hängen scheinbar lose zusammen, sind angefüllt mit literarischen Bezügen, die ebenso wild zusammengewürfelt sind, wie die autobiographischen.

Wir lesen von einer Frau, von einer Schriftstellerin, die in der Literatur zuhause ist. Wir sehen durch ihre Augen eine sinnliche Mutter, einen liebenden Vater, eine verlorene Freundin, eine Angestellte, die Schwester, den Verleger, Lektor und immer wieder sie in verschiedenen Gestalten. Sie ist unsicher, wütend, ängstlich, begehrend, nimmt die Gestalt einer stalkenden Geliebten, einer ausbeutenden Arbeitgeberin, einer schüchternen Schwester, einer Mörderin ein. Dieser Text ist verwischt, phantasierend, magisch und er ist nicht auf der Suche nach der Wahrheit.

»Warum muss man immerzu auf die Wahrheit pochen? Und auf welche Wahrheit eigentlich?«

Gratulation an Serre, an Klobusiczky, an den Berenbergverlag. Ein spannender Text von hoher Qualität, der mit dem Trend der autofiktionalen Literatur spielt und neue spannende Formen findet.

Bewertung vom 14.09.2022
Schwerer als das Licht
Raich, Tanja

Schwerer als das Licht


gut

»Sie sah Wellen, konnte jedoch kein Rauschen hören, als wäre eine Wand zwischen ihr und der Welt.«

»Schwerer als das Licht« ist eine sprachgewaltige Dystopie, die im bedrohlichen Ungefähren bleibt. Es ist ein bekanntes Motiv, eine namenlose Frau ist allein auf einer tropischen Insel. Sie scheint nicht im Einklang mit ihrer Umwelt. Die Natur ist saftig, duftend, laut und reich, doch sie erlebt beunruhigende Dinge, die Schatten auf das wärmende Licht fallen lassen. Bäume verdörren, Blätter nehmen schwarze Farbe an. Es riecht erst fruchtig, dann faulig, dann riecht es gar nicht mehr. Pflanzen verelenden, Tiere sterben, Geräusche verstummen, Sterne fallen vom Himmel, das Licht verdunkelt sich.

Wir beobachten die Klimaveränderungen und die Frau von außen. Sie verschanzt sich in ihrer Festung, die sie schützen soll vor der feindlichen Umwelt oder ist es sie, die sich feindlich verhält? Languren und Vögel beobachten sie immerzu. Auch Menschen streifen sie, aus der Ferne hört sie Trommeln im Norden, ihr Impuls ist zu fliehen. Der Text gleitet immer wieder ins traumhafte, geisterhafte Figuren lächeln, wenn die Frau im Einklang ist, werden zornig, wenn nicht. Kriegerische Szenen entstehen, die Natur reagiert und agiert, sie stirbt oder sie sammelt Kraft für den nächsten Kreislauf.

Schwerer als das Licht bedient sich einer poetisch gewaltigen Sprache, es liest sich ungemein gut. Wir werden an Haushofer erinnert, aber auch an Inselromane, Robinsonaden mit all ihren exotisierenden und kolonial geprägten Bildern, die es mir mitunter schwer machten.

Bewertung vom 14.09.2022
Mein lieber Petrovic
Danojlic, Milovan

Mein lieber Petrovic


sehr gut

»Aber das echte Leben gibt es für dich und mich nirgends. Dort drüben ist es schwer, hier ist es schwer, am schwersten ist es mit sich selbst... Was mich angeht, am besten wäre es, wenn ich gleichzeitig an mehreren Orten stehen könnte, hier und dort sein, in der Heimat und in der Fremde, in Wohlstand und in Armut, in Freiheit und Einschränkungen, das alles gleichzeitig erleben.«

»Mein lieber Petrović« ist ein mit Melancholie und Einsamkeit durchtränkter Briefroman eines Intellektuellen Rückkehrers.

Putnik (der Reisende) gehört wie sein angeschriebener Freund Petrović zu jener Schicht der königstreuen Serb:innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA auswanderten. Das Projekt Jugoslawien wird mit Ablehnung betrachtet, Feudalität, Traditionen und bürgerliche Bildung werden hoch gehalten. Ihre Erinnerungen und ein süßliches, sehnsüchtiges Bild von Heimat werden konserviert.

Putnik blickt in einem Gemisch zwischen Distanz, Desillusion und Sehnsucht auf Serbien, das noch Teil von Jugoslawien ist, im Vorabend der Kriege, die schon in der Luft liegen. Er schreibt um seine Existenz. Putnik erschreibt sich einen Platz, der ambivalent bleiben wird. Er sucht sein Zuhause in der Verbundenheit intellektueller Grenzgänger:innen, das er mit seinen Briefen an seinen Freund und an die Welt zu festigen versucht.

Es ist ein typischer Emigrations- Roman. Putnik bleibt ein Beobachter, im Außen blieb er in Amerika, im Außen bleibt er als Rückkehrer. Niemand interessiert sich in der alten Heimat für ihn, seine Sicht auf die Dinge, auch nicht für sein Geld. Putnik möchte eine Druckerei kaufen und eine Zeitung herausgeben, er scheitert an Bürokratie, Korruption und Ablehnung.

Spezifisch für die Region macht »Mein lieber Petrović« der Zeitpunkt und die Perspektive. 1990 veröffentlicht, spielt er in den 70er und 80er Jahren. Der Vielvölkerstaat, die Tito-Ära, der Sozialismus bröckeln längst, ohne dass sich erahnen lässt, was in den 90ern noch alles kommen wird. Putnik beobachtet eine nationalistische Radikalisierung, Liebe und Hass, ebenso wie Provizialismus, Pflegmatismus, Korruption.

Bewertung vom 14.09.2022
Erfüllung
Bouraoui, Nina

Erfüllung


ausgezeichnet

»Das Schreiben reinigt meine Seele, lindert meinen Schmerz. Worte lassen das Geschehene verjähren, verzerren die Realität, machen sie zumutbar.«

In ihren tagebuchartigen Einträgen zieht uns eine widersprüchliche Frauenfigur in einen soghaften, sinnlichen und das Wahnhafte streifenden Stream of Conciousness. Der Sound von »Erfüllung« ist leidenschaftlich, fließend, warm, sehnsüchtig. Die Gedanken sind giftig, erregt, besessen, melancholisch und beschämt.

Michéle Akli ist Französin, die in ihrer Zwischenwelt lebt. Nach der Revolution und Unabhängigkeit, ist sie ihrem Mann Brahim nach Algier in dem Moment gefolgt, in dem viele Kolonialisator:innen Algerien verließen. Sie hatte sich in Mann und Land verliebt, doch diese Liebe Erkältet. Michéle versucht ihre Einsamkeit mit Alkohol und dem Schreiben zu verdrängen. Ihrem Garten und ihrem zehnjährigen Sohn Erwan widmet sie sich mit devotionaler Obsession. Doch auch dort verschiebt sich etwas.

»Ich frag mich oft, was Erwan von mir und seiner Kindheit bleiben wird. Ich würde gern (...) unsere Glücksmomente auf Film bannen. Ich habe Angst, dass unsere Liebe mit den Erinnerungen schwindet.«

Erwan lernt Bruce kennen, ein Mädchen, das einnehmend ist, das sich in den Augen von Michéle zwischen den Geschlechtern bewegt. Auch wenn sie nahezu wahnhaft in diese Freundschaft ein erwachendes sexuelles Begehren hineinliest, das sie eifersüchtig zu verhindern versucht, sie spürt, die Erfüllung der innigen Mutter-Sohn-Beziehung wird enden. Haltlos richtet Michéle ihr leidenschaftliches Begehren auf Bruce's Mutter Catherine in ihren Heften. Real ist sie still, scheu, zurückgezogen und eigen. Michéle ist Französin in Algerien, sie ist priveligiert und sie ist gefangen in den Grenzen des Frauseins, so wie sie es versteht und schau eifersüchtig auf die Männer. Auch das zunehmende loslassen des Sohnes und die neue Stelle im Französischen Gymnasium bringen ihr keine Erfüllung.

Spannend machen »Erfüllung« besonders die nicht erzählten Perspektiven und Dimensionen, die sich andeuten und aufdrängen.
Wie erlebt der 10jährige seine Mutter, seinen Vater, wie Bruce, wie ist seine Welt in Algerien, wo er wahrscheinlich keine Zukunft haben wird? Wie ist die Welt von Brahim, der alles erduldet, der seine arabische Herkunft zu verachten scheint? Was ist Bruces Mikrokosmos? Ein Mädchen, das sich nicht mädchenhaft gibt, das von ihrem algerischen Vater abgelehnt wird und Nähe sucht zu seiner attraktiven Mutter Catherine, die Algerien als Zwischenstation sieht und sich von einer Affäre in die nächste stürzt. Was ist die Innenwelt von Amar, Catherines Mann, Unternehmer, in der Welt unterwegs, unter Beobachtung der Milizen und bald soweit, Algerien zu verlassen. Die postkoloniale Situation, die Gewalt in der Luft, die berechtigte Wut, die Zuwendung zum Islam, die Frage eines weiteren Krieges atmen zwischen den Zeilen und verstärken meine Begeisterung für diesen klugen und sinnlichen Roman.

Bewertung vom 14.09.2022
Brenntage (eBook, ePUB)
Stavaric, Michael

Brenntage (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

»Wenn man noch ein Kind ist und in einer kleinen Siedlung lebt, was versteht man schon da von einer Welt, die längst in Flammen steht?«

Brenntage führt uns in eine düstere, lichtdurchflutete Zwischenwelt. Unser Zeitempfinden verliert sich immer mehr, je weiter der Text voranschreitet, es steckt im Wald, in den Tiefen des stillgelegten Bergwerks, im Feuer, in den Figuren fest. Brenntage changiert dabei zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Realismus und Phantasie, zwischen Prosa und Lyrik.

Ich-Erzähler ist ein Junge, der mal naiv klein, dann wieder sehr erwachsen wirkt. Er lebt in einer abgeschiedenen Gemeinschaft umgeben von Wäldern und Bergen. Seine Mutter ist Tod, sein Onkel schwer greifbar. Der Onkel schenkt ihm eine lose Welt aus Erfahrungen und Ratschlägen. Klar ist er einzig in seiner Verachtung für alle Menschen, die die enge Gemeinschaft verlassen, denn »dort, wo die Siedlung aufhört, leben die Bösen... Sie leben dort in ihrem Gesinnungsmüll«. Die Brenntage sollen diesen Müll vernichten, alles verbrennen, was sie mit der Außenwelt verbindet.

Wer einen stringenten Plot sucht, wird kurz denken, ich hab ihn und dann den Faden wieder verlieren, einer nächsten Fährte folgen und wieder fallen. Wer es liebt, sich in Sprache, in Phantasie, in das Ungefähre fallen zu lassen, ihren Rhythmus und leise Kanten schätzt, der und dem empfehle ich, es aufzunehmen mit Stavarič.

Bewertung vom 14.09.2022
Erbgut
Scheiflinger, Bettina

Erbgut


sehr gut

»Bei meiner Geburt jage ich meiner Mutter einen Schrecken ein. Niemand muss mich herausholen, ich will von selbst heraus. (...) Ich presse mein Gesicht durch den Geburtskanal. Augen voran komme ich zur Welt. Ich will ihr frontal begegnen, mich ihr entgegen strecken und sofort sehen, was da ist.«

Stark startet »Erbgut«, auch sonst hat
Scheiflinger ein überzeugendes Debüt vorgelegt. Der Sound ist souverän, pointiert, der mitunter knappe, dichte Stil korrespondiert mit dem spannungsgeladenen Schweigen der Figuren.

»Erbgut« führt uns nach Kärnten, nach Wien, in die Schweiz und nach Italien. Es enthält Nazi-Vergangenheit, Kriegsgefangenschaft, Verschleppung, patriarchale Strukturen, Migration, Diskriminierung, Endometriose und Brustkrebs. Innere Härte, Schweigen, Gewalt, ein starker Drang, die Erwartungen anderer zu erfüllen, eine gefangene Sehnsucht zu wandern, nach einem besseren Leben woanders zu suchen und eine schweigsame Liebe tragen sich von Generation zu Generation weiter.

Einige Mosaiksteine verstehen wir und die Ich-Erzählerin tiefer, andere bleiben lose, im Halbklaren, können nicht auserzählt werden.

Es werden fast alle von uns, ob mit Migrationsgeschichte oder ohne, Aspekte von sich wiederfinden in diesem etwas anderen Generationenroman. Erbgut regt uns an, darüber nachzudenken, was die Versatzstücke unserer Familien in uns sind, wie sie in uns wirken, ob es möglich ist, sie zu verändern und wie das geht, Eigenständigkeit.