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Rezensentin aus BW

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Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 13.12.2020
Der letzte Prinz
Price, Steven

Der letzte Prinz


sehr gut

Steven Price hat diesen Roman dem Leben des Fürsten Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896 - 1957) gewidmet, der posthum mit seinem einzigen Roman „Der Leopard“, den er kurz vor seinem Tod geschrieben hat, Berühmtheit erlangte.

Er wird durchgängig aus Sicht des Protagonisten Giuseppe und in einer altmodisch anmutenden Sprache mit wunderschönen Formulierungen erzählt.

Wir begleiten den alternden und unheilbar an einem Lungenemphysem erkrankten Giuseppe, der der letzte männliche Nachkomme eines alten sizilianischen Adelsgeschlechts ist, in seinen letzten beiden Jahren.

Giuseppe, ein sprachbegabter und redegewandter Literaturliebhaber, lebt mit seiner selbstbewussten Frau Alessandra in einem kleinen Haus am Hafen von Palermo und spaziert gern durch die Strassen und Gassen seiner Heimatstadt.

Auf diesen Spaziergängen wandert er geistig zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her... und er denkt auch an die Zukunft.
Er weiß, dass sein Tod naht und möchte, nicht zuletzt wegen seiner Kinderlosigkeit, noch etwas Bleibendes schaffen.
Das gelingt ihm!
Aber von der Einzigartigkeit und Brillanz dessen, was er geschaffen hat, wird er nie erfahren.

Wir jedoch erfahren im Verlauf der Lektüre Vieles über Giuseppe und aus seinem Leben und lernen seine Familiengeschichte kennen.

Giuseppe ist ein eher konservativer, unterkühlter, wenig empathischer und passiver Mann, der den Stolz auf seine adelige Herkunft vor sich her trägt, Einiges erlebt und so seine liebe Not mit Veränderungen hat, was bei den vielen Umbrüchen im 20. Jahrhundert ein nicht gerade günstiger Wesenszug ist.

Mit seiner eher unausgeglichenen und selbstzentrierten Mutter scheint er zeitlebens ödipal verstrickt gewesen zu sein, so dass seine Autonomieentwicklung gehemmt und er nie wirklich emotional unabhängig und eigenständig wurde. Er duldete sogar ihre Ablehnung seiner Ehefrau Alessandra, von der er deshalb jahrelang getrennt lebte!

Eine melancholische Atmosphäre wird spürbar und die Handlungsorte und Szenen werden lebendig, weil der Autor die eher handlungsarme Geschichte feinfühlig, poetisch, empathisch und bildhaft erzählt. Ohne Spannungsbogen (der Leser weiß ja von Anfang an um den bevorstehenden Tod Giuseppes) und ohne Umschweife, aber unaufgeregt und in klaren Worten, erzählt Steven Price uns sowohl von Giuseppes Kindheit und Jugend, als auch von furchtbaren und traumatisierenden Erlebnissen im Ersten Weltkrieg und so ganz nebenbei werden auch politische Fragestellungen aufgegriffen

„Der letzte Prinz“ ist eine in Fiktion gebettete Biographie und ein brillanter, unbedingt lesenswerter und anspruchsvoller Roman über den mir zugegebenermaßen unsympathischen Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der mit „Der Leopard“ ein literarischen Meisterwerk geschaffen hat.

Da ich mich noch nicht selbst von der Klasse dieses Werkes überzeugen konnte, durch Steven Prices Roman aber sehr neugierig geworden bin, freue ich mich schon darauf, mir selbst ein Bild davon zu machen.

„Der letzte Prinz“ hat mich beeindruckt und bekommt einen Dauerplatz im Regal.

Ich kann jetzt, nach der Lektüre, nachvollziehen, dass er für den renommierten kanadischen Gilles Prize nominiert wurde.

Bewertung vom 12.12.2020
Wo du nicht bist
Gebert, Anke

Wo du nicht bist


sehr gut

Schon mal vorab:
Das Buch mit dem sich umarmenden Paar auf dem Cover ist ein Hingucker und der Titel „Wo Du nicht bist“ ist originell und passend gewählt.
Er ist eine Textzeile aus dem Lied „Dein ist mein ganzes Herz“ aus dem 2. Akt der Operette „Das Land des Lächelns“, deren Musik von Franz Lehár stammt.

Mit dem Aufklappen des Buches begeben wir uns ins Berlin der späten 1920-er Jahre und lernen dort Irma Weckmüller, eine willensstarke, loyale und großherzige Frau kennen.

Sie arbeitet als Verkäuferin in der Stoffabteilung im KaDeWe und sorgt mit ihrem Einkommen für den Lebensunterhalt von sich und ihrer Schwester Martha, die nach einer Vergewaltigung durch ihren Dienstherrn ihr unehrliches Kind großziehen muss.

Eines Tages und aus gutem Grund lernt Irma den jüdischen Arzt Dr. Erich Bragenheim kennen, von dem sie zunächst nicht ganz so angetan ist.
Für ihn ist es schon eher Liebe auf den ersten Blick.
Er besucht sie deshalb im KaDeWe.
Irma kann seiner zuvorkommenden, höflichen und aufrichtigen Art nicht widerstehen. Sie nähern sich an und aus dem zarten Pflänzchen der Verliebtheit wird langsam und stetig eine tiefe Liebe. Sie träumen von einer gemeinsamen Zukunft und planen, zu heiraten.

Über ihrem Glück schwebt jedoch schon bald eine große Gefahr: der aufkommende Nationalsozialismus.
Die Nazis wissen deren Eheschließung zu verhindern und nicht nur das.
Natürlich entgeht auch Erich nicht der Judenverfolgung.
Er wird deportiert und überlebt wie so viele andere Juden dieses düstere und brutale Kapitel der Menschheitsgeschichte nicht.

Irma bleibt mit ihrer tiefen Trauer und mit ihrer innigen Liebe zurück.
So innig ist diese Liebe, dass sie noch nach Erichs Tod darum kämpft, ganz offiziell seine Ehefrau zu werden.

Ob es ihr gelingt, dieses absurd erscheinende Ziel zu erreichen, werde ich sicher nicht verraten ;-)

Anke Gebert erzählt schnörkellos und klar, feinfühlig, sprachgewaltig und eindringlich von einer ganz einzigartigen, besonderen und außergewöhnlichen Liebe.

Sie zeichnet ihre Figuren vielschichtig und differenziert und deren Entwicklungen, die nicht immer gefällig sind, nachvollziehbar und glaubhaft.

Der Roman, sowohl historischer Roman, als auch Liebesroman, der auf einer wahren Begebenheit beruht und nicht mal ansatzweise schwülstig oder schmonzettig ist, hat eine emotionale Wucht, die den Leser nicht nur berührt, sondern aufwühlt und fesselt und das Buch neben einem eindrücklichen Zeitzeugnis zum Pageturner macht.

„Wo Du nicht bist“ hat mich beeindruckt und äußerst gut unterhalten.

Übrigens: Vor dem Haus Nummer 141 am Berliner Ku’damm wurde im Oktober 2020 ein Stolperstein für Dr. Erich Bragenheim verlegt.
Es ist ein Mahnmal.
Wie schön, dass Anke Gebert uns die Geschichte dahinter erzählt.

Ich empfehle diesen lesenswerten Roman sehr gerne weiter!

Bewertung vom 10.12.2020
Annette, ein Heldinnenepos
Weber, Anne

Annette, ein Heldinnenepos


ausgezeichnet

Wie schön, dass einer bemerkenswerten Person schon zu ihren Lebzeiten und nicht erst nach ihrem Tod ein Denkmal gesetzt wird.
In diesem Fall geht es um die französische Ärztin und Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, genannt Annette, die am 30. Oktober 1923 in der Bretagne geboren wurde.

Was des Weiteren bemerkenswert ist, ist die Art des Denkmals, das die Schriftstellerin Anne Weber ihr setzt. Es ist kein Roman, sondern ein Prosagedicht bzw. eine Mischung aus Prosa und Lyrik.

Aber keine Sorge!
Der Lesefluss wird nicht gestört und die Lektüre nicht erschwert.
Im Gegenteil. Wenn man sich ein bisschen eingelesen und daran gewöhnt hat, wird durch diese nicht alltägliche und etwas altertümliche Form eines Narrativs das Besondere und Heldenhafte dieser Frau, die sich noch heute gegen Nationalismus, Rassismus und religiösen Fanatismus engagiert, sogar hervorgehoben und unterstrichen.

In dem absolut lesenswerten Werk erfahren wir von einem Leben voller Engagement und Gefahren. Schon als Jugendliche setzte sich Annette für die Résistance ein, half Menschen und rettete Menschenleben.

Nach dem Krieg ließ ihr Eifer nicht nach. Sie studierte Medizin, spezialisierte sich in den Fachrichtungen Neurologie und Neurophysiologie und engagierte sich lange Zeit für ein freies Algerien.
Ihre Unterstützung der algerischen Befreiungsfront FLN hatte 10 Jahre Haft zur Folge und nach ihrer Flucht half sie, das algerische Gesundheitssystem aufzubauen.
Der Militärputsch von 1965 machte eine erneute Flucht notwendig.
Auf Umwegen über die Schweiz und Amnestie gelangte sie schließlich nach Südfrankreich, wo sie noch heute lebt.

Welch’ bewegtes und anstrengendes Leben!

Wortgewaltig, überwältigend, lebendig und leichtfüßig zeichnet Anne Weber das Porträt einer bewundernswerten Frau.

Das Werk, in dem es um Ungehorsam, Widerstand, Rebellion, Humanismus, Gerechtigkeit, Mut, Einsatz und Kampf für Freiheit geht, wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Ich empfehle dieses interessante und besondere Epos sehr gerne weiter.

Bewertung vom 09.12.2020
Ich bin Circe
Miller, Madeline

Ich bin Circe


sehr gut

Mit „Circe“ lernt der Leser, der in der Schule seinen Fokus auf andere Gebiete gelegt hat, die griechische Mythologie auf eine ganz andere, äußerst moderne und sehr unterhaltsame Weise kennen.

Der mächtige Sonnengott Helios und die Nymphe Perse haben einige Kinder.
Eines davon ist Circe, die sich von ihren Geschwistern schon durch Äußerlichkeiten wie Stimme und Haare unterscheidet.
Aber nicht nur dadurch hebt sie sich ab.
Circe fühlt sich, im Gegensatz zu ihren göttlichen Geschwistern, den sterblichen Menschen nahe.
Sie fühlt sich bei ihnen wohl, kann sich in sie einfühlen und verliebt sich letztlich sogar in eines dieser nicht-göttlichen Wesen.

All das hat Konsequenzen!
Von ihrer Familie aufgrund ihrer Andersartigkeit gering geschätzt und eher geduldet als geliebt, wird Circe auf die einsame Insel Aiaia verbannt, wo sie sich in der Natur und unter Tieren zu einer mächtigen Zauberin entwickelt und schon bald den Ruf einer Hexe und Heilerin erwirbt. Als solche wird sie nicht selten um Hilfe gebeten.

Circe findet zu sich selbst und entwickelt sich von einer unerfahrenen, unsicheren und unbedarften Heranwachsenden zu einer imposanten Magiern und starken, leidenschaftlichen und selbstbestimmten Frau.

Der Götterbote Hermes besucht sie regelmäßig auf der Insel und hält sie auf dem Laufenden.
Über ihn erfährt Circe auch von der Not ihrer Schwester Pasiphaë, was eine Reise nach Kreta nach sich zieht.

Und dort geht es dann weiter mit fesselnden Geschichten über Theseuss und Minotauros, das Meeresungeheuer Scylla und Jason und das goldene Vlies.
Wir erfahren, dass die Hexe von Aiaia gestrandete Seemänner in Schweine verwandelt und dass sie schließlich die Geliebte des listigen Götterboten Hermes und des schlauen und gerissenen Kriegers Odysseus und von letzterem sogar schwanger wird.
Bald ist Circe die alleinerziehende Mutter ihres Sohnes Telegonos, die trotz Ängsten und Sorgen kämpferisch auftritt und die sich sogar mit den mächtigen Göttern des Olymps anlegt.

Die zunächst schüchterne, später selbstbewusste Halbgottheit Circe erzählt ihre Geschichte selbst. Im Verlauf lernen wir nicht nur ihren Alltag, sondern auch ihre Innenwelt kennen.
Die Gefühle und Gedanken, Sorgen, Sehnsüchte und Wünsche dieses sympathischen und gleichermaßen menschlichen wie göttlichen Geschöpfs sind dabei gut nachvollziehbar.

Auch wer bisher wenig Ahnung von der griechischen Mythologie hatte oder sich nicht besonders für dieses Metier interessiert hat, tut gut daran, diesen bemerkenswerten und außergewöhnlichen Roman zu lesen.
Man braucht auch bei wenig Vorwissen nicht zu befürchten, in dem komplizierten Getümmel von griechischen Göttern und deren Namen die Orientierung zu verlieren, denn die Autorin Madeline Miller hat ein Händchen dafür, den Leser behutsam an die Sache heranzuführen.
Sie fokussiert die wichtigsten Götter und Verwandtschaftsverhältnisse und führt den Leser gewandt und dynamisch durch diese Geschichte voller Abenteuer und Intrigen.

„Ich bin Circe“ ist eine unaufgeregt erzählte, ruhige und kurzweilige Enwicklungs- und Abenteuergeschichte mit glaubhaften und und vielschichtigen Charakteren und spannenden Momenten.

Der Roman, der mit seinem mythologischen Inhalt für mich eine ganz neue Leseerfahrung war, bereitete mir großes Lesevergnügen und ich empfehle ihn sehr gerne weiter.

Bewertung vom 06.12.2020
Spiegel unseres Schmerzes / Die Kinder der Katastrophe Bd.3
Lemaitre, Pierre

Spiegel unseres Schmerzes / Die Kinder der Katastrophe Bd.3


sehr gut

Paris. 1940.
Ganz normaler Alltag in Paris.
Niemand glaubt mehr an den Krieg. Man plaudert im Café, man träumt von der Zukunft.
Auch im Restaurant „La Petite Bohème“ von Monsieur Jules in Montmartre geht alles seinen üblichen Gang.
Die Lehrerin Louise Belmont kellnert dort wie üblich an den Wochenenden und ist inzwischen zu einem unverzichtbarer Teil des Lokals geworden.
Dass sich an der Maginotlinie die feindlichen Truppen gegenseitig belauern wird verleugnet und dass die deutsche Wehrmacht auf dem Vormarsch ist und durch die Ardennen näherrückt ist noch nicht bei jedem ins Bewusstsein vorgedrungen.
Aber dann beginnt die Lawine zu rollen und Louise den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Louise erfährt äußerst Unerfreuliches und ihr Leben gerät ins Wanken.
Der Stammgast Doktor Thirion vom „La Petite Bohème“ spielt dabei eine Rolle und es offenbart sich eine komplizierte und dramatische Familiengeschichte in deren Zentrum Louises Bruder Raoul steht, der an der Maginot-Linie als Elektriker bei den Pionieren eingesetzt ist und dessen Stubenkamerad der Mathematiklehrer und Fernmelder Gabriel ist.

Auch der junge Soldat Gabriel, um den es in einem zweiten Strang geht, muss, wie Louise, erstmal damit klarkommen, dass sich in seinem Leben etwas verändert und bewegt, dass seine überraschende Beförderung Konsequenzen hat.

Und schließlich muss die gesamte Bevölkerung der Realität ins Auge sehen: die deutsche Wehrmacht hat die Maginotlinie durchbrochen und schreitet Richtung Paris.

Unruhe, Tumult, Aufruhr, Verwirrung, Verunsicherung, Angst und und Chaos sind die Folgen...

Seine Charaktere zeichnet Pierre Lemaitre in all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit.
Sie haben Ecken und Kanten, schlagen sich mit inneren Ambivalenzen und seelischen Konflikten auseinander und wirken dadurch authentisch.

Unterhaltsam, mit einem Schuss Leichtigkeit, spannend und mit einigen Prisen Humor schafft Pierre Lemaire es, die Gräuel und Dramen des Krieges zu schildern, die Atmosphäre sowohl im vor Schock gelähmten Paris als auch auf dem Feld und in einem Gefängnis glaubhaft zu vermitteln und dabei nichts zu bagatellisieren oder zu ironisieren.
Die Szenen und Handlungdorte beschreibt er so anschaulich, dass man das Gefühl hat, vor Ort zu sein.

Pierre Lemaitre, ein Menschenkenner , der scharf beobachten und wunderbar erzählen kann, hat mit „Spiegel unseres Schmerzes“ seine Romantrilogie, ein bedeutsames und lesenswertes literarisches Werk, sehr gut beendet.
Die Geschichte begann absolut fesselnd, hatte dann allerdings im Verlauf einige Längen.
Deshalb nur vier von fünf Sternen.

Bewertung vom 04.12.2020
Triceratops
Roiss, Stephan

Triceratops


ausgezeichnet

Stephan Roiss erzählt von einem traumatisierten und einsamen Kind, das in einer dysfunktionalen Familie aufwächst, in der jeder ein Einzelkämpfer ist und greift damit eine wichtige Thematik auf:
Das Aufwachsen von Kindern bei psychisch kranken Eltern.
Was können sie kompensieren? Inwiefern werden sie selbst dadurch psychisch beschädigt?
Gibt es ein unterstützendes professionelles Netzwerk, das helfend einwirken und das Schlimmste abwenden kann?

Warum malt ein kleiner Junge Monster in sein Schulheft?
Warum spricht er von sich als Wir? Warum ist er vom „Triceratops“ so angetan?
Erschafft er sich dadurch Freunde und Rückhalt?
Identifiziert er sich mit diesen Wesen und wird er dadurch stärker und mutiger?
Brauchen könnte er all das: Freunde, Rückhalt, Stärke und Mut.

Er lebt in einem schwierigen häuslichen Umfeld und wächst unter erschwerten Bedingungen auf.
Seine Mutter ist aufgrund ihrer depressiven Schübe und mutmaßlichen Anorexie immer wieder in stationär psychiatrischer Behandlung.
Sie kann ihren Kindern nicht geben, was sie brauchen, beansprucht im Gegenteil selbst sämtliche Zuwendung und Fürsorge ihrer Familie, die damit völlig überfordert ist und Gleichgewicht und Stabilität verliert.

Seine Schwester ist bereits psychisch auffällig, „geht im Haus herum wie ein Geist“, und sein Vater flüchtet sich in Bibeltexte, Teletext oder Alkohol.

Glücklicherweise hat er seine Großmutter, die ihm ausgleichend zur Seite steht und bei der er sich geborgen fühlt.
Ihr Tod bedeutet, dass Belastung und Überforderung bleiben, während eine bedeutungsvolle und Halt gebende Konstante wegbricht.

Der Junge fühlt sich andersartig und nicht zugehörig, versucht Halt bei Freunden zu finden, er flüchtet, seine Selbstfürsorge kommt zu kurz.

Der Autor gliedert seine Geschichte, die aus Sicht des namenlosen Protagonisten erzählt wird, in kurze Kapitel und verwendet eine nüchterne und knappe Sprache, was sehr authentisch ist, weil traumatisierte Menschen meist nur über ihre furchtbaren Erlebnisse sprechen können, wenn sie sich über die Sprache davon distanzieren.
Außerdem lockt er durch seine sachliche Darstellung die Emotionen des Lesers ans Tageslicht.

Stephan Roiss überrascht mit wunderschönen und detaillierten Formulierungen und erzählt geradlinig, klar, ehrlich, ungeschönt und schnörkellos, wodurch er die Wucht des Inhalts betont.

„Triceratops“ ist eine relativ kurze, intensive und tiefgründige Lektüre mit ernster und wichtiger Thematik, die aufrüttelt, verstört und nachhallt.
Die Geschichte ist zwar fiktiv, aber gleichzeitig könnte sie sich so oder ähnlich hinter vielen Haustüren abspielen.

Dass der Roman für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert wurde ist für mich nachvollziehbar.

Bewertung vom 02.12.2020
Dorfroman
Peters, Christoph

Dorfroman


sehr gut

In dem Roman geht es im Großen um eine der größten, umstrittensten und bekanntesten Investitionsruinen im Nachkriegsdeutschland:
Der „schnelle Brüter“ von Kalkar.
Im Kleinen geht es um das Aufwachsen und Erwachsen werden des Ich-Erzählers Peter.

Die Meinungen der Bewohner eines bäuerlich und katholisch geprägten Dorfes am unteren Niederrhein gehen stark auseinander, als in den 80-er Jahren in ihrer Nähe, in Kalkar, ein Kernkraftwerk, ein sogenannter Brutreaktor oder „schneller Brüter“, gebaut werden soll.

Zwei gegensätzliche Haltungen stoßen aufeinander:
Es gibt die Konservativen und Traditionsbewussten, die am Alten festhalten und das Bewährte und Gewohnte schätzen und es gibt die Fortschrittlichen und Modernen, die Veränderung und Entwicklung favorisieren, weil sie darin die Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand sehen.
Ein Teil des Kirchenvorstands will kirchliche Ländereien an die Kraftwerksgesellschaft verkaufen, der andere Teil und die Landwirte sind gegen den Bau des Hochtemperaturreaktors.

Als wäre das nicht schon konfliktträchtig genug, schaltet sich noch eine dritte Gruppe von außerhalb dazu: die Atomkraft-Gegner.
Sie wollen mit ihren politischen Aktivitäten den Bau blockieren und unterbinden, wodurch sie den Aufruhr im Dorf noch verstärken.
Die Konflikte kochen hoch, die bis dahin gut funktionierende Dorfgemeinschaft wird zerstört.

Peter wächst mitten in diesem Tumult auf, erzählt melancholisch und beschreibt detailliert in drei Handlungssträngen und Zeitebenen seine Geschichte und die des Dorfes.
Wir lernen ihn in seiner Kindheit, in der Teenagerzeit und als Erwachsenen kennen und erleben sämtliche Entwicklungsphasen mit.

Er bewundert seinen Vater, der ein Entscheidungsträger im Kirchenvorstand ist, für dessen Engagement, was den Bau des Reaktors anbelangt.
Er setzt sich mit seinen Eltern, der Kirche und dem politischen Geschehen auseinander, hinterfragt Obrigkeiten, zweifelt Autoritäten an, rebelliert, protestiert.
Er verliebt sich mit fast 16 Jahren erstmals in die um sechs Jahre ältere Juliane, eine Atomkraft-Gegnerin, entwickelt ein politisches Bewusstsein, kehrt dem Dorf den Rücken, zieht nach Berlin und besucht schließlich Jahrzehnte später seine inzwischen hochbetagten Eltern in dem Dorf seiner Kindheit und Jugend. Ein Besuch, der Erinnerungen weckt und von denen wir hier lesen.

Christoph Peters erzählt unaufgeregt, einfühlsam und ruhig von einer wohlsituierten Mittelstandsfamilie vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten und Spannungen anlässlich des geplanten Reaktorbaus in der noch jungen Bundesrepublik.

„Dorfroman“ ist eine packende und kluge Coming of Age-Geschichte, die ein recht genaues und ziemlich interessantes Bild des damaligen westdeutschen Zeitgeschehens und des ländlichen Milieus mit seinen Sitten und Bräuchen vermittelt.

Christoph Peters präsentiert mit seinem Buch anspruchsvolle, interessante und lesenswerte Unterhaltung

Übrigens: Der „schnelle Brüter“ in Kalkar wurde 1985 fertiggestellt, aber wegen sicherheitstechnischen und politischen Bedenken nie in Betrieb genommen. 1991 wurde das Projekt eingestellt.

Bewertung vom 01.12.2020
Tiger
Clark, Polly

Tiger


ausgezeichnet

„Tiger“ ist ein besonderer Roman mit einem außergewöhnlichen und einzigartigen Plot:
Im Zentrum steht, wie der Titel schon sagt, diese anmutige und Respekt einflößende Raubkatze mit dem charakteristischen dunklen Streifenmuster auf goldgelbem bis rotbraunem Grund und darum herum siedeln sich die Geschichten dreier Personen an, die sich letztlich verknüpfen.

Drei Erzählstränge, die teilweise zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten spielen vereinen sich in dem Buch in der Gegenwart.

Im ersten Strang lernen wir die englische Primatenforscherin Frieda Bloom kennen. Sie promoviert gerade, verliert ihre Stelle in ihrem Forschungsprojekt jedoch wegen Morphinmissbrauch.
In einem Privatzoo in Devon findet sie einen neuen Job. Eigentlich soll sie sich um ihre geliebten Bonobos kümmern, aber die Umstände machen es erforderlich, dass sie sich um ein neues Tigerweibchen kümmert, das aufgepäppelt werden muss. Nach und nach entdeckt sie zunächst ihr Interesse, dann ihre Faszination und schließlich ihre Liebe für diese Tierart.
Ihre Reise nach Sibirien wird eine Reise zu sich selbst.

Im zweiten Strang befinden wir uns in der russische Taiga. Tomas, ein einsamer Mann, dessen Geschichte wir kennenlernen, möchte dort mit seinem Vater Ivan ein Tigerreservat aufbauen und auf diese Weise die vom Aussterben bedrohten Tiere schützen.
Die beiden Männer verbindet eine konfliktreiche Beziehung, aufgrund derer Tomas zweifelhafte und suspekte Entscheidungen trifft. Und dann führt eine Begegnung zu einem Wendepunkt in seinem Leben.

Im dritten und letzten Erzählstrang lernen wir Edith und ihre Tochter kennen. Sie flüchten vor dem alkoholkranken Mann und Vater in die Taiga, wo sie ein selbstbestimmtes Leben führen und einige Jahre überleben.
Auch für Edith stellt eine Begegnung ein einschneidendes Ereignis dar.

Die bravouröse Zusammenführung der drei Stränge führt zu einem äußerst gelungenen Ende.

Polly Clark erweckte bei mir eine tiefe Faszination für die Anmut und Eleganz dieser majestätischen Tiere.
Ihre Sprache ist sowohl kraftvoll, klar und bildgewaltig, als auch poetisch und feinfühlig.
Sie stellt Widersprüche dar und lässt Gegensätze aufeinanderprallen:
Einerseits der Zoo in Devon-andererseits die sibirische Wildnis.
Einerseits der Lebensraum der Menschen-andererseits der Lebensraum wilder Tiere.
Einerseits Spannung wie in einem Thriller-andererseits eine ruhige, fast meditative Darstellung der rauhen Natur.
Einerseits die detaillierten Beobachtungen einer Naturforscherin-andererseits die gefühlsbetonten Beschreibungen einer Poetin.

Für mich stellte der Roman mit seinen außergewöhnlichen Protagonisten, beeindruckenden Handlungsorten und herausragenden Naturbeschreibungen ein ganz besonderes Lesevergnügen dar.

„Tiger“ ist eine unkonventionell und lebendig erzählte, fesselnde, berührende, eindrückliche und abenteuerliche Geschichte, die voller Empathie und Poesie geschrieben ist.
Die faszinierende Landschaft und die unendlichen Weiten der sibirischen Taiga, sowie die Rauheit der Natur wird dem Leser wunderbar nahe gebracht und ich meinte sogar, die gnadenlose Kälte Sibiriens zu spüren ;-)

Bewertung vom 30.11.2020
Die Rabentochter
Dionne, Karen

Die Rabentochter


sehr gut

Der Psychothriller „Die Rabentochter“ von Karen Dionne spielt in der Upper Peninsula von Michigan, einer Halbinsel, die über riesige Waldgebiete verfügt.

Die 26-jährige Rachel Cunningham, die die Wildnis der Upper Peninsula liebt, lebt sei 15 Jahren freiwillig und mit Schuldgefühlen in einer psychiatrischen Klinik.
Sie war bisher der festen Überzeugung, als 11-Jährige ihre Mutter getötet zu haben und psychisch krank zu sein,

Eines Tages beginnt Trevor, der Bruder eines Mitpatienten und ein angehender Journalist, sich für ihren Fall zu interessieren, bittet Rachel um ein Interview und fängt an zu recherchieren.

Rachel stutzt und wird neugierig, nachdem sie mit Hilfe von Trevor Einblick in die Polizeiakte bekommt.
Berechtigte Zweifel am Tathergang erwachen und Fragen stellen sich.
Sie verlässt die Klinik mit dem klaren Entschluss, sich der furchtbaren Vergangenheit zu stellen und die Wahrheit herauszufinden. Deshalb macht sie sich zusammen mit Trevor auf den Weg in ihr Elternhaus, ein herrschaftliches Jagdhaus, in dem inzwischen ihre Schwester Diana und ihre Tante Charlotte, zwei Verbündete, die ein Geheimnis hüten, wohnen.
Rachel erinnert sich zunehmend und gerät mehr und mehr in Gefahr.

Es gibt zwei Handlungsstränge, wobei der Roman aus zwei Perspektiven und auf zwei Zeitebenen erzählt wird:
Die verstorbene Mutter Jenny berichtet von damals, die jüngere Tochter Rachel von heute.

Wir erfahren von Rachels Aufwachsen bei ihren liebevollen Eltern im abgeschiedenen und stattlichen Jagdhaus der Großeltern.
Rachel und ihre ältere Schwester scheinen sich gut verstanden zu haben. Die Mädchen spielten miteinander und genossen den Freiraum und die Freiheit in der Natur. Ihre Tante lebte bei ihnen.

Die Autorin hat glaubwürdige Charaktere entwickelt, die aufgrund ihrer Individualität und Komplexität nicht hölzern oder klischeehaft wirken und sie hat das Geschehen in idyllischer Natur angesiedelt, die sie anschaulich und bildhaft beschreibt.

„Die Rabentochter“ ist ein sehr atmosphärisches und beklemmendes Buch, in dem die unheimliche Stimmung, die subtile Bedrohung und das unterschwellige Böse durchgehend spürbar sind.

Ob Rachels jahrelange Überzeugung der Wahrheit entsprach und wer der Täter ist, lässt sich bald erahnen, aber das mindert die Spannung nicht im Geringsten, denn es geht viel mehr um Motive und Tatumstände.

Karen Dionne hat mit „Rabentochter“ einen ziemlich schlüssigen, aber nicht 100%-ig glaubhaften Psychothriller geschrieben, der spannende Unterhaltung und einen fulminanten Showdown liefert.

Da die Geschichte nicht ganz stimmig und der Schluss etwas übereilt ist, kann ich keine fünf Sterne vergeben, aber vier Sterne bedeuten immer noch, dass es ein sehr guter und lesenswerter Roman ist.

Bewertung vom 29.11.2020
Die Schweigende
Sandberg, Ellen

Die Schweigende


sehr gut

Wir bewegen uns in dem Roman „Die Schweigende“ von Ellen Sandberg auf zwei Zeitebenen: in der Gegenwart (2019) und in den 1950-er Jahren.

Im Hier und Jetzt lernen wir die fünfköpfige Familie Remy kennen, die auf den ersten Blick und nach außen hin fast bilderbuchmäßig daherkommt.
Aber wenn man hinter die Kulissen schaut, erkennt man die gefühlskalte, strenge und distanzierte Mutter Karin, die den drei inzwischen erwachsenen Töchtern Geli, Imke und Anne nicht die Zuneigung geben konnte, die sie gebraucht hätten.
Glücklicherweise konnte der Vater Jens Vieles ausgleichen.
Er kümmerte sich und glättete Wogen, er war für Nestwärme und emotionalen Belange zuständig und er glich den Mangel an Herzlichkeit, Zuwendung und Liebe aus.
Sein plötzlicher Tod lässt die drei charakterlich sehr unterschiedlichen Schwestern traurig und fassungslos zurück.
Ein Versprechen, das der Vater seiner mittleren Tochter Imke am Sterbebett abgenommen hat, muss eingelöst werden und Karin, die Witwe, versinkt aufgrund des Verlusts ihres Mannes nach 54 Ehejahren in Depressionen, lebt antriebslos in den Tag hinein und vernachlässigt ihren sonst so gepflegten Garten.

Mit dem Einlösen des Versprechens, ein Unterfangen, das durch das Schweigen der Mutter erheblich erschwert wird, kommt nicht nur die familiäre Vergangenheit ans Tageslicht, sondern werden Gefühle zum Leben erweckt und aufgewirbelt, die lange unter Verschluss gehalten wurden.
Die Fassade bröckelt.

Durch Rückblicke ins Jahr 1956 lernen wir Karin als lebensfrohes und unbeschwertes junges Mädchen kennen, das von einer Karriere als Ärztin träumt.
Außerdem erfahren wir von erschütternden Ereignissen und einer folgenreichen Entscheidung, wodurch wir schließlich nachvollziehen können, weshalb Karin zu einer so emotional erstarrten Frau wurde.

Um Überraschungen, die aus unvorhergesehenen Wendungen resultieren, nicht vorwegzunehmen und das Lesevergnügen nicht zu mindern, verrate ich vom Inhalt nicht mehr.

Die Autorin fesselt den Leser durch den packenden Plot und baut durch überraschende Wendungen, Perspektivwechsel und Zeitsprünge Spannung auf.
Da die Geschichte abwechselnd aus der Sicht der Töchter und der Mutter erzählt wird, lernen wir die einzelnen Frauen gut kennen.

Ellen Sandberg erzählt anschaulich und feinfühlig und während die Schwestern, v. a. Anne, etwas überspitzt und zu eindimensional dargestellt werden, wird Karin sehr genau und differenziert beleuchtet. Die Autorin stattet sie mit Ecken und Kanten aus und lässt sie durch ihre vielschichtige und komplexe Persönlichkeit authentisch wirken.

Thematisch geht es in dem Roman von Ellen Sandberg um Belastungen, Defizite und schädigende Einflüsse in der Kindheit, um Willkür, Machtmissbrauch, Umgang mit Traumata und um Auswirkungen auf nachfolgende Generationen.
Ellen Sandberg veranschaulicht gut, dass sich eine Traumatisierung wie ein roter Faden durch die Generationen ziehen kann, wenn die einschneidenden schädigenden Erlebnisse nicht verarbeitet und überwunden werden.

„Die Schweigende“ ist ein spannender, psychologisch stimmiger und tiefgründiger Familienroman, der eine schwierige und brisante Thematik aufgreift, zum Nachdenken anregt, trotzdem unterhaltsam und auf jeden Fall lesenswert ist.