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Dajobama

Bewertungen

Insgesamt 130 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2020
Die Unschuldigen
Crummey, Michael

Die Unschuldigen


ausgezeichnet

Die Unschuldigen – Michael Crummey
Das war mal wieder ein herausragendes, ganz besonderes Leseerlebnis – auf gewisse Weise ein Highlight!
Neufundland, um 1800. Nach dem Tod der Eltern bleiben zwei Kinder, Ada und Evered, alleine in einer kleinen Hütte in einer Bucht zurück. Beinahe komplett von der Zivilisation abgeschlossen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten führen sie das harte, entbehrungsreiche Leben ihrer Eltern weiter, um ihr Überleben zu sichern.
Mit einer starken, eindringlichen Erzählstimme führt Crummey seine Leser durch mehrere Jahre im Leben der Geschwister. Sie kämpfen ums Überleben, leiden Not und sind doch mit ihrem armseligen Dasein zufrieden. Es darüber hinaus eine bedeutende Zeit in ihrem Leben, denn sie werden erwachsen. Sie wissen nur das, über das Leben, über Liebe und alles was dazugehört, was die Eltern ihnen darüber erzählt haben – und diese waren sehr schweigsam. Ada und Evered sind so überzeugend unschuldig dargestellt, in ihrer geschwisterlichen Liebe zueinander. Unschuldig und menschlich.
Diese fundamentalen Themen vor der Kulisse des wilden Kanadas machen den Roman zu einem kraftvollen, außerordentlich berührenden Leseerlebnis. Mich konnte es vollkommen überzeugen. Mit Sicherheit ein Buch, das länger im Gedächtnis bleibt. 5 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.11.2020
Niemals den roten Knopf drücken 1, oder der Vulkan bricht aus / Niemals den roten Knopf drücken Bd.1
Naumann, Kati

Niemals den roten Knopf drücken 1, oder der Vulkan bricht aus / Niemals den roten Knopf drücken Bd.1


ausgezeichnet

Niemals den roten Knopf drücken…. – Kati Naumann
Ein freches, experimentierfreudiges Kinderbuch (eigentlich Egons Forschertagebuch!) ab etwa 8 Jahren ganz im Stil von Greg. Auf witzige Art und Weise bringt es auch Lesemuffel ans Buch. Schon das Cover hat die Aufmerksamkeit meiner Kids geweckt: jeder der drei hatte sofort erstmal den Finger auf diesem roten Knopf, den man ja keinesfalls drücken soll…..
Egon und sein bester Freund Jojo forschen was das Zeug hält. Dabei geht allerdings regelmäßig ordentlich etwas schief. Lustiges Chaos ist garantiert, denn eine Katastrophe jagt die nächste. Die beiden Forscherjungs mit ihrem klassischen „Feindbild nervige kleine Schwester“ sprechen die Zielgruppe voll an und erleichtern den Einstieg in dieses Leseerlebnis.
Ansprechende Illustrationen im Comic-Stil und ein paar nette Extras runden das Ganze ab. So ist vorne im Buch ein Morsealphabet abgebildet und am Ende gibt es noch die Anleitung für Experimente zum Nachmachen.
Sohnemann war begeistert, ist des Öfteren in lautes Lachen ausgebrochen. Die Experimente haben funktioniert. Also alles in allem ein rundum gelungenes Kinderbuch. 5 Sterne von uns.

Bewertung vom 09.10.2020
INFINITUM - Die Ewigkeit der Sterne
Paolini, Christopher

INFINITUM - Die Ewigkeit der Sterne


sehr gut

INFINITUM – Christopher Paolini

Mit knapp 1000 Seiten ein richtig dicker Schinken, toll aufgemacht mit (für mich) rätselhaften Karten und Skizzen. Dazu muss ich sagen, dass Science Fiction eigentlich so gar nicht mein Genre ist. Doch die Leseprobe hatte mich angesprochen. Und tatsächlich haben mich die ersten hundert Seiten absolut begeistert. Was für ein spannender Plot! Die junge Forscherin Kira Navarez entdeckt bei der Untersuchung eines fernen Planeten eine bisher unbekannte Lebensform, die nicht nur ihr Leben für immer verändern wird.

Bald wurde es mir aber etwas zu viel. Schier unendliche kriegerische Auseinandersetzungen zwischen diversen Aliens und Menschen auf unterschiedlichsten Planeten und zwischendrin, mit innovativsten Waffen… nichts scheint unmöglich. Gerade das macht so manche Entwicklung etwas hanebüchen und unglaubwürdig. Der gesamte Mittelteil besteht aus endlosen Kämpfen mit viel Alienblut, unterbrochen immer wieder durch lange Reisen im Kälte-Schlaf. Dieser gesamte Mittelteil von sicher über 500 Seiten hätte gut um die Hälfte gekürzt werden können. Teilweise fühlt man sich als Leser nämlich selber orientierungslos im Weltall/in der Geschichte treibend.

Kira ist eine sympathische junge Frau, die alles verloren hat, sich aber trotzdem von nichts unterkriegen lässt. Eine klassische Heldin, praktisch unbesiegbar. Trotz aller Kritikpunkte ist das hier ein richtiger Schmöker, eine ganze eigene Welt, in der man versinken kann, wenn man nicht allzu viel darüber nachdenkt. Und genau das ist wohl Paolinis Stärke, die man schon von Eragon kennt: die Schaffung einer vollkommen neuen Welt, mit (oft zu) detailreichen Beschreibungen und Protagonisten zum Mitfiebern. Damit konnte er mich tatsächlich so sehr fesseln, dass es mir am Ende schwer fiel, Kira und ihre Crew zu verlassen. Trotz aller Kritikpunkte. Auch das ist eine Kunst, gerade weil mir der Plot wieder einmal klar gemacht hat, dass ich in Zukunft wieder die Finger von Science Fiction lassen werde, insbesondere wenn Aliens darin mitmischen….Also, trotz alldem bin ich total fasziniert, von dieser zukünftigen interstellaren Welt und vergebe 4 Sterne!

Bewertung vom 12.09.2020
Tage ohne Ende
Barry, Sebastian

Tage ohne Ende


ausgezeichnet

Tage ohne Ende - Sebastian Barry

Dieser Western-Roman hat mir beinahe den letzten Nerv geraubt. Er ist sperrig geschrieben, die Erzählweise oft abgehakt, die Figuren sind nur am Fluchen. Mehr als einmal tat ich mich schwer damit, wieder in die Geschichte zurückzufinden. Trotzdem habe ich diesem Roman 5 Sterne gegeben. Warum?

Allein schon die Handlung ist etwas Besonderes, beschreibt sie doch die turbulente Zeit der Indianerkriege. Ein Thema, das ich noch nicht oft literarisch verarbeitet gelesen habe. Der Ire Thomas McNulty erzählt Jahre nach den geschilderten Ereignissen aus der Ich-Perspektive. Bereits als Kind in der irischen Heimat vom Hungertod bedroht, besteigt er als einziger Überlebender seiner Familie ein Schiff nach Amerika. Auch dort schlägt er sich mehr schlecht als recht durch, bis er schließlich mit seinem Freund und Liebhaber John Cole bei der Armee landet. Dort kämpfen sie Seite an Seite, egal wo und gegen wen. Oft wissen sie nicht mal, worum es überhaupt geht. Sie haben bereits zu viel Leid gesehen, als dass ihnen Blutvergießen und Gemetzel etwas anhaben könnten. Entsprechend lakonisch ist der Erzählton.
„Wenn’s um Gemetzel und Hungersnot geht, darum, ob wir leben oder sterben sollen, schert das die Welt nicht im Geringsten. Bei so vielen Menschen hat die Welt es nicht nötig.“ (Klappentext)
Trotzdem oder gerade deshalb kriecht dem Leser das nackte Entsetzen in die Glieder.
"Dann standen wir alle keuchend da, kalter Schweiß strömte über erschöpfte Gesichter, unsere Augen glitzerten, unsere Beine zitterten, so wie man's bei Hunden sieht, wenn sie Lämmer gerissen haben." Seite 39

Man leidet mit den Soldaten mit, die teils unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen, ohne Rücksicht auf Verluste. Noch mehr fühlt man mit den dahingemetzelten Indianern, liest von dem fürchterlichen Kreislauf aus Rache und Vergeltung, der kein Ende zu nehmen scheint. Dabei hat jede Partei Anteil an der Schuld. Barry erzählt relativ wertungsfrei.

Immer wieder entwickelt sich ganz tolles Kopfkino, wie ein guter Western eben. Aber ohne jede Beschönigung. Die Sprache ist wie die Handlung derb, es gibt Flüche am laufenden Band. Daran sollte man sich nicht stören, es ist auf jeden Fall sehr passend und authentisch. Nur gut, dass sich hinter vielen dieser grausamen Krieger durchaus sanfte Kerle verbergen. Auch sie sind Opfer der Umstände und kämpfen ihrerseits täglich ums Überleben. Der unerschütterliche Optimismus des Protagonisten macht die Schilderungen erst erträglich.

Meine Begeisterung hat sich tatsächlich erst im Nachgang eingestellt. Ein sehr besonderer, lesenswerter Roman, der neben all den Gräueln auch eine Portion Wildwest-Romantik bietet. Leider hat dieses Werk bisher viel zu wenig Beachtung gefunden. Auch deshalb von mir 5 Sterne.

Gerade eben habe ich festgestellt, dass offenbar bereits eine Fortsetzung „Tausend Monde“ bei Steidl erhältlich ist. Wandert gleich mal auf die Wunschliste!

Bewertung vom 10.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


ausgezeichnet

Kalmann - Joachim B. Schmidt

Kalmann ist ein wirklich ganz besonderer Protagonist. Er ist "Experte für Gammelhai und die großen Fragen des Lebens " (Klappentext)
Dabei ist er ziemlich langsam im Kopf, manchmal drehen sich die Rädchen auch rückwärts, was ihn unberechenbar macht. Aber er hat ein gutes Herz und einen praktischen Verstand. Von seinem Großvater hat er ein Fischerboot übernommen, mit dem er auf Haifang geht um daraus Gammelhai herzustellen. Ansonsten fühlt er sich für sein isländisches Fischerdorf Raufarhövn verantwortlich. Mit Sheriff-Hut und Mauser zieht er durch die Gegend. Die Dorfbewohner kennen und schätzen ihn.
Eines Tages findet er tatsächlich eine Blutlache im Schnee. Doch kein Grund zur Sorge, Kalmann hat alles im Griff. Es wird sich schon alles finden. Mehr oder weniger unfreiwillig gerät er mitten hinein in die Ermittlungen in einem Vermisstenfall.

Ehrlich gesagt, bin ich beeindruckt und begeistert. Vom Autor und von Kalmann. Von diesem Roman mit Krimihandlung, bei dem einfach das Gesamtpaket passt.
Der Schauplatz Island und vor allen Dingen die tollen Beschreibungen sind schon mehr als lesenswert. Der Autor ist gebürtiger Schweizer, 2007 nach Island ausgewandert. Er weiß also, wovon er schreibt und das merkt man. Das Dorf Raufarhövn existiert tatsächlich und auch die thematisierte Problematik der Fangquoten in kleinen Fischerdörfern.
Der Protagonist Kalmann hat eine herzerwärmende Art und Weise seine Umgebung zu betrachten und darüber nachzudenken. So macht er sich als Haifischfänger und gelegentlicher Polarfuchsjäger durchaus Gedanken darüber, ob seine Opfer wohl Angst oder Schmerzen empfinden. Er denkt wie ein Kind und der Leser hat ungefiltert Zugang zu diesen Überlegungen und Erinnerungen.
"Er (Großvater) erklärte mir, dass man zu keiner Zeit Kinder für Haifischköder gebraucht habe, früher nicht und auch sonst, weder behinderte, noch unartige, noch rothaarige, einfach überhaupt keine Kinder, doch wenn man unbedingt aus einem Idioten Haifischköder machen wolle, dann aus Róbert, diesem Ochsenhoden!" (Seite 101)

Dabei versucht der Autor nichts zu beschönigen. Er spricht die Schattenseiten der Behinderung an, erzählt von Hänseleien und Selbstverletzungen. Aber vor allem hebt er die Herzenswärme und Menschlichkeit Kalmanns hervor.

Ein besonderer Protagonist mit teilweise unkonventionellen Ansichten, was für einen ganz speziellen Lesegenuss sorgt. Ich bin begeistert, gerne mehr davon! 5 Sterne

Bewertung vom 30.08.2020
Hilfe, meine Eltern haben meinen Geburtstag gestrichen!
Simmons, Jo

Hilfe, meine Eltern haben meinen Geburtstag gestrichen!


ausgezeichnet

Hilfe, meine Eltern haben meinen Geburtstag gestrichen

Wie kann so etwas nur passieren? Aber nach verschiedenen chaotischen Vorkommnissen und durch die Zeitknappheit der Eltern wurde Toms 11. Geburtstag bis auf Weiteres verschoben bzw. gestrichen. Kurz entschlossen plant er selbst eine unvergessliche Feier.

Dieses Kinderbuch ab etwa 9 Jahren ist total leicht zu lesen und es passiert total viel. Es gab viele Lacher, beispielsweise regt sich Tom darüber auf, dass Chihuahua-Welpen viel zu teuer sind, sehen sie doch aus wie erdrosselte Hamster. Naja, mein 10-jähriger fand das zum Brüllen...

Generell ist es sehr lustig erzählt. Im Stil von Gregs Tagebüchern geht es chaotisch zu und Tom tritt in so manches Fettnäpfchen. Meinem Sohn war es aber auch wichtig, dass Freunde zusammenhalten und sich gegenseitig helfen, etwa bei der Planung einer Party. Natürlich läuft auch dabei wieder nicht alles glatt.

Damit bringt man auch Lesemuffel ans Buch. Die Zielgruppe findet es toll und das ist die Hauptsache!

5 Sterne

Bewertung vom 22.08.2020
Vaters Wort und Mutters Liebe
Wähä, Nina

Vaters Wort und Mutters Liebe


sehr gut

Vaters Wort und Mutters Liebe - Nina Wähä

Im Norden Finnlands in den frühen 80ern, kurz vor Weihnachten. Annie kehrt zu einem Besuch nach Hause zurück, ins finnische Tornedal. Sie hat ein ungutes Gefühl, Angst, dass ihre Herkunft die Krallen in sie schlagen wird und nicht wieder loslässt. Die Familie ist groß, Annie hat 13 Geschwister, 11 lebende und 2 tote. Annie ist früh von zuhause ausgezogen, um dem jähzornigen, seine Familie tyrannisierenden Vater Pentti zu entkommen. Die Bindung zur ruhigen, duldsamen Mutter Siri und vielen der Geschwister ist trotz allen Reibereien und Entbehrungen stark, "als wären sie unsichtbar miteinander verknüpft. Wie ein Rattenkönig an den Schwänzen verknotet." (Klappentext)
Nun kehrt Annie also zurück und merkt schnell, dass alles beim Alten ist und auch wieder nicht. Etwas liegt in der Luft, etwas wird passieren.
Viele der Geschwister gingen früh fort und suchten das Weite. Und doch kommen sie immer wieder zurück. Bei diesem Besuch wird nun deutlich, dass Pentti untragbar geworden ist, das Leid der Mutter ein Ende haben muss. Es muss etwas passieren.

Die Autorin macht sich tatsächlich an das ehrgeizige Unterfangen, sämtliche! Familienmitglieder vorzustellen und zwar ausführlich. Es entstehen einzigartige, sehr intensive Charaktere. Wähä schaut ihren Figuren tief in die verletzten Seelen und ermöglicht das auch ihren Lesern. Tatsächlich empfand ich für fast alle Mitglieder dieser zerrissenen Familie Mitleid. Am wenigsten für diejenigen, die unleugbar Vaters Gene geerbt haben. Wir erfahren, mit welchen Eigenschaften jeder einzelne geboren wurde und wie ihn diese spezielle Kindheit geprägt hat. Wie werden wir zu dem, was wir sind und welche Rolle spielt dabei die elterliche Liebe? Kann man überhaupt 14 Kinder lieben und alle gleichbehandeln?
Spannende Fragen, großartig aufbereitet, höchstens manchmal etwas ausufernd, aber absolut faszinierend.

Gleichzeitig ist dies ein Coming-of-Age Roman. Ziemlich jeden einzelnen Darsteller begleiten wir vom Übergang von der Kindheit zum Erwachsenen. Sie tun sich alle schwer damit, müssen alle allein damit zurechtkommen. Nicht wenige der ersten sexuellen Erfahrungen sind in erster Linie traumatisierend.
Es ist ein hartes und einsames Leben im Norden Finnlands, viele der Geschwister entfliehen dem einsamen Elternhaus und dem brutalen Vater sobald sie können. Trotzdem zieht es sie immer wieder zurück, vor allem wegen der Mutter. Wirklich glücklich werden die meisten von ihnen wohl nirgendwo. Soviel Traumata, soviel ungünstige Verwicklungen, vieles verursacht vom gewalttätigen Vater, der offensichtlich nicht fähig ist zu lieben.
Schließlich erfahren wir auch die Hintergründe der Mutter, Siri und des Vaters, Pentti. Auch sie ehemals zwei Kinder, die sich vergebens nach Liebe gesehnt haben und diese auch in der Ehe nicht finden konnten. So traurig, sehr intensiv.

Bei den vielen Figuren war ich sehr dankbar für das Personenverzeichnis am Anfang mit den kurzen Beschreibungen. Damit war das machbar. Ein eigener eindringlicher Schreibstil. Die Geschichte fesselnd und tiefsinnig. Alles in allem eine berührende Familiengeschichte, die ich mit sehr guten 4 Sternen bewerte.

Bewertung vom 22.08.2020
Wilde Freude
Chalandon, Sorj

Wilde Freude


sehr gut

Wilde Freude – Sorj Chalandon

Jeanne hat Brustkrebs. Ihr Mann kann damit nicht umgehen, benimmt sich ziemlich daneben und macht sich schließlich rar. In ihrer Not lernt Jeanne drei Frauen kennen – Leidensgenossinnen. Allen hat das Leben übel mitgespielt. Eine große Rolle spielten jeweils Männer der untersten Schublade - und die Gesundheit ist auch dahin. Was als Zweckgemeinschaft beginnt, wird zu einer gegenseitigen Stütze. Da wird geholfen und getröstet, wenn beispielsweise die Nebenwirkungen einer Chemo überhandnehmen.
Da bietet sich die Gelegenheit, einer von ihnen etwas Gutes zu tun - wenn auch nicht mit legalen Mitteln. Diese Frauen haben nichts mehr zu verlieren und so wagen sie alles. Endliche nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hände. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Auch dank einer überraschenden Wendung gegen Ende.

Letztes Jahr war ich von Chalandons Meisterwerk "Am Tag davor" restlos begeistert. Dieser Roman hier ist ganz anders und reicht meiner Meinung nach leider nicht an seinen Vorgänger heran. Auch wenn ich es sehr interessant und lesenswert fand.

Der Autor (ein Mann!) erzählt einfühlsam von Jeannes Diagnose, von den Behandlungen und deren Nebenwirkungen, von Schuldgefühlen und Trauer. Das fand ich sehr gelungen dargestellt und ich klebte regelrecht an der Geschichte. All die Schicksale der anderen Frauen fand ich dann beinahe schon wieder etwas viel und irgendwie zu ähnlich (Männer und Krankheit).
Der Überfall, der leider bereits im Klappentext angekündigt wird, wird akribisch vorbereitet und begann mich ein wenig zu langweilen. Doch dann reißt Chalandon das Ruder noch einmal herum und lässt alles in neuem Licht erscheinen. Ich glaube, gerade diese Kehrtwende kurz vor Schluss kann der Autor besonders gut, das fiel mir beim Vorgänger bereits auf.
Der Roman ist großartig geschrieben und wirft grundsätzliche Fragen auf. Was zählt im Leben? Die Geschichte regt zum Nachdenken an und macht betroffen.

Insgesamt ein wunderbarer Roman, die Latte lag aber etwas hoch. Im Vergleich zum Vorgänger relativ einfach konstruiert. Zwischendurch war ich nicht besonders begeistert, das Ende hat es für mich aber noch gerettet.
4 Sterne

Bewertung vom 19.08.2020
Zugvögel
McConaghy, Charlotte

Zugvögel


ausgezeichnet

Zugvögel – Charlotte McConaghy

Ich liebe Abenteuer- und Schifffahrtsgeschichten und diese hier verbindet das mit aktuellen Themen wie dem Klimawandel und einer tragischen Liebesgeschichte.

Franny gibt sich als Ornithologin aus und überredet den Kapitän eines der letzten Fischerboote, sie mitzunehmen bis in die Antarktis - wohin die vermutlich letzte Reise der Küstenseeschwalben gehen soll. Die Fahrt ist gefährlich, das Wetter unberechenbar, Frannys Vergangenheit ein einziges großes Geheimnis.
Es ist eine düstere Zukunftsvision, die die Autorin hier zeichnet, jedoch gar nicht so unwahrscheinlich. Beinahe alle wildlebenden Tiere sind bereits unwiderruflich ausgestorben. Schuld daran ist der Mensch.
Die Crew, mit der Franny reist ist exzentrisch. Jeder hat einen Grund, am Fischfang festzuhalten, obwohl da kaum noch etwas zu holen ist. Das Meer ist praktisch leer.
Gerade wegen der Seefahrt und auch wegen der Verbissenheit einiger Protagonisten, erinnerte mich dieser Roman stellenweise recht stark an Moby Dick. Zunehmend rückt aber auch das Thema des Artensterbens in den Vordergrund.
Aber die Autorin macht es spannend. Am Anfang gibt es viele große Fragen, die zum Teil erst ganz zum Schluss aufgeklärt werden. Was treibt Franny an, warum macht sie das, was hat sie noch alles zu verbergen?
So wird die gefährliche Schifffahrt immer wieder unterbrochen durch Rückblenden in Frannys früheres Leben. Diese bringen langsam Licht ins Dunkel ihrer Geheimnisse. Ich fand das sehr gut gemacht und wirklich spannend!

Die Protagonistin Franny ist nicht unbedingt eine Sympathieträgerin. Identifizieren kann man sich eher nicht mit ihr. Zu irrational sind ihre Handlungen, zu wenig weiß man von ihren Beweggründen. Das hat mich hier aber überhaupt nicht gestört, denn der Leser bekommt immer wieder Häppchen serviert und am Ende löst sich alles auf.

Es ist insgesamt ein eher düsterer Lesegenuss, anders als das Cover vielleicht vorgaukelt. Die überwältigende Todessehnsucht Frannys kämpft gegen ihre Verbissenheit ihre Ziele zu erreichen, koste es was es wolle. Fesselnd und faszinierend erzählt.
Man merkt schon, dass der Autorin die aktuellen Themen Natur, Klimawandel, Artensterben, am Herzen liegen.
Ein wunderbares Debüt, das mich bestens unterhalten hat. Ich hoffe, da kommt noch viel mehr von dieser Autorin!
5 Sterne

Bewertung vom 03.10.2018
Piccola Sicilia
Speck, Daniel

Piccola Sicilia


ausgezeichnet

Piccola Sicilia ist ein Viertel in der tunesischen Hafenstadt Tunis. Vor dem Krieg leben an diesem Kreuzungspunkt am Mittelmeer viele Kulturen und Religionen friedlich zusammen. Ein multikulturelles Paradies in Nordafrika, nur wenige Kilometer durch das Meer von Europa (Sizilien) getrennt.
Im Jahr 1942 erreicht der Krieg der Europäer das Land und stürzt es ins Chaos.
"Die Tunesier starben, ohne etwas mit dem Krieg der Europäer zu tun zu haben. Ihr Tod hatte nichts Ehrenhaftes, es war kein Opfer für die Heimat, sondern einfach nur sinnlos." Seite 157

Moritz ist hautnah dabei, als Kameramann für die deutsche Propaganda, doch er kehrt nie zu seiner schwangeren Verlobten zurück.
Jahrzehnte später reist seine Enkeln Nina nach Sizilien, um ein verschollenes Flugzeug vom Meeresgrund zu bergen. Kam ihr Großvater darin ums Leben? Was ist damals wirklich passiert in Tunis?
Aus den verschiedenen Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt der Autor die Geschichten von Moritz und Nina. Und er erzählt sie gut. Denn er hat ein sehr komplexes Buch geschrieben, das unheimlich viele Themen beinhaltet.

Daniel Speck überrumpelt seine Leser mit einer recht unbekannten Sichtweise des Krieges. Tunesier als absolut Unbeteiligte werden zu Opfern. Gerade in dem Schmelztiegel unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen hat ein Eindringen okkupierender Streitmächte gravierende Folgen.
Dabei liefert der Autor viele Informationen, sei es über Rommels Truppen in Nordafrika, den übereilten Rückzug der Deutschen, oder auch über das jüdische Gedankengut. So spricht er die aus dem Krieg resultierende Entwurzelung und Perspektivlosigkeit von Millionen von Menschen an, in erster Linie Juden aller Nationen, doch durchaus auch anderer Religionen. Häufig drängt sich dem Leser ein Bezug auf die heutige Zeit auf. Die Gefühle von Flüchtlingen, die sich zwischen den Welten befinden und nirgendwo hingehören sind zeitlos und nicht an Orte gebunden.
"Heimat, ein fester Rahmen für die Seele. " Seite 465

Dieser Roman enthält unglaublich viele tiefgründige und kluge Denkanstöße. Immer wieder musste ich innehalten und über das Gelesene nachdenken. Ich fand es sogar gut, dass der Leser einige der Handlungsstränge und Richtungen bereits am Anfang kennt oder zumindest erahnt. Somit kann man sich besser auf die tollen Sätze und Lebensweisheiten konzentrieren.

Wer macht uns zu dem, was wir sind? Inwieweit können wir das überhaupt beeinflussen? Ist die eigene Identität eine Sache der Entscheidung oder prägen uns vielmehr die Erfahrungen und Erlebnisse unserer Eltern, vielleicht unbewusst?
Nicht zuletzt, wie kann eine Familie mit der ungeklärten Abwesenheit einer geliebten Person umgehen? Eine Frage, die sich durch das ganze Buch zieht.

Ein wichtiges Buch, ein kluges Buch, in dem es sehr viel zu entdecken gibt!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.