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miss.mesmerized
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Deutschland
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https://missmesmerized.wordpress.com/

Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2022
Misfits
Coel, Michaela

Misfits


ausgezeichnet

Die britische Drehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin Michaela Coel rechnet in ihrem Manifest mit der Gesellschaft aber vor allem auch mit der Industrie, in der sie arbeitet, ab. Sie wurde eingeladen, eine der renommierten MacTaggart Lectures, die im Rahmen des Edinburgh TV Festivals stattfinden, zu halten, die sie überarbeitet und ergänzt hat und unter dem Titel „Misfits“ veröffentlichte. Es ist die Geschichte einer Tochter ghanaischer Einwanderer, die immer nur als Außenseiterin, als nicht passend wahrgenommen wird, bis sie den Spieß umdreht und genau das zu ihrem Markenzeichen und zur Kampfansage macht.

Es ist eine frische und unverblümte Stimme, die keine Hemmungen hat, ihre Schwächen und Sorgen offenzulegen, die frei darüber spricht, wie sie an sich und ihren Fähigkeiten zweifelt. Ihre Kindheit war von Geldsorgen geprägt, aber das war es, was ihr den ersten Kontakt zum Theater ermöglichte, woraus später der Weg in die Schauspielschule führte. Die Welt des Theaters ist vieles, aber nicht divers, weshalb sie mit ihrer Hautfarbe schnell heraussticht und wo sie auch offenen Rassismus erlebt – der jedoch immer entschuldigend zurückgenommen wird. Mit ihrer ersten Comedy Produktion kommt sie jedoch in eine andere Situation und kann das hinterfragen, was in der Branche von Neueinsteigern eigentlich unwidersprochen hingenommen wird. Sie will aber nicht einfach hinnehmen, sondern stellt unbequeme Fragen und legt zweifelhafte Strukturen offen.

Der Untertitel „Ein Manifest“ trifft wirklich sehr gut, was den Text kennzeichnet. Es ist ein Aufruf zu sich und dem, was man repräsentiert und mitbringt zu stehen, aber auch eine Aufforderung nach mehr Diversität, mehr Perspektiven und mehr Stimmen, die andere Sichtweisen liefern und jedermanns Horizont erweitern können.

Bewertung vom 03.01.2022
Wayward
Spiotta, Dana

Wayward


sehr gut

Samantha Raymond cannot say what it was exactly that lead her to buy a house and to move out of the suburban comfort zone with her husband Matt and their teenage daughter Ally. Maybe Trump’s election, maybe the feeling of menopause hitting her or just the fact that she spends her nights awake pondering about her life and all that is connected to it: motherhood, mortality and the country she lives in. Via the Internet, she connects with some radical women whose notions are new to her. But sorting out her new life also means getting more and more away from her old life and her daughter. Has she ever been a good mom? Didn’t she do all that was necessary to bring Ally up? And what did she use her one life for actually?

In her novel “Wayward”, Dana Spiotta portrays a woman at a crucial point of her life. She made some decisions that now come under scrutiny. It is not only the outer, visible elements of her life but much more her inner convictions that have to stand the test. Her first move sets in motion a chain of events that bring her further away from all she has known for so many years and it remains to be seen where this will lead her.

What I liked most was the combination of metaphors the author uses. The old house that Sam finds and is attracted to immediately mirrors her body. Just like the cosy new home, life also has left traces on her body. Just like she renovates the house, she starts to train to get stronger. However, all the renovation cannot hide that the years have left their marks on it and some things simply cannot be redone.

Just as she analyses her complicated relationship with her own mother and also with her daughter, she analyses the state the country is in. The opposing parts become obvious through the segregation between the white and better-off parts of town and her new place which is quite the opposite. Coming from a protected life, she is now confronted with crime which has always been a reality for other parts of society, but not the suburban housewives she has known for so long.

The novel has a clear feminist perspective. Sam volunteers at a small museum that was the home of a 19th century feminist who ignored societal constraints and followed her ideals, also Sam’s mother is an independent woman, whereas she herself had given in to a life that she now is running from. Her daughter also tries to rebel against Sam’s life choices and wants to free herself - in her very own way. All women make choices that have consequences, all woman have to decide between conformity and rebellion, they want their life to be meaningful – but what does that mean and what is the price for it?

An interesting read from a point of view that is slowly expanded to show the bigger picture.

Bewertung vom 30.12.2021
Perfect Day
Hausmann, Romy

Perfect Day


gut

Als man ihren Vater, einen angesehenen Philosophie Professor, verhaftet und beschuldigt, der brutale Schleifenmörder zu sein, der zehn Mädchen entführt und getötet hat, kann Ann das nicht glauben. Nach dem Tod ihrer Mutter hat er sich liebevoll um die Tochter gekümmert, war immer für sie da. Außerdem hätte sie ja etwas davon merken müssen! Die Polizei scheint sich sicher zu sein, andere Spuren verfolgen sie erst gar nicht und auch Ludwig, Anwalt und Freund des Vaters, kümmert sich nur halbherzig um dessen Verteidigung. Als Ann zufällig die Mutter eines der Mädchen kennenlernt, führt sie dies auf eine andere Spur, die die Ermittler schon vor Jahren ignorierten, dabei sind die Indizien eindeutig. Als es in einem bayerischen Dorf zu einer Entführung eines Mädchens kommt, macht sich an mit dem befreundeten Journalisten Jakob auf dorthin. Ihr Vater im Gefängnis kommt nun unmöglich als Täter infrage.

Romy Hausmann erzählt ihren Roman aus Sicht der verzweifelten Tochter, die offenbar alleine an die Unschuld ihres liebenswerten Vaters glaubt. Unterbrochen wird die Handlung durch Protokolle, in denen der Mörder offenbar Jahre später in Interviews über seine Beweggründe berichtet sowie eine Innenschau in diesen, wenn es zu den Taten kommt. Man erhält so Einblick in die Gedankenwelt ohne dass schon viel offengelegt wird.

Sowohl das Szenario wie auch die zusätzlichen Informationen des Täters sind spannend angelegt. Durch die persönliche und vor allem emotionale Involvierung der Protagonistin weiß man, dass ihr Blick getrübt und verfälscht sein kann, dass sie nur sieht, was sie sehen will, da sie nicht objektiv nach einem Schuldigen sucht, sondern sich rasch in ihr Gedankenkonstrukt verbeißt. Aber man hat ja noch einen zweiten Blick, dem man als Leser versucht, weitere Details, kleine Anhaltspunkte zu entlocken, um den Mörder zu entlarven.

Leider wurde für mich vieles davon durch für mich gänzlich unglaubwürdige Zufälle und eine doch stark überzogene Hauptfigur verleidet. Die Handlung kommt eigentlich immer nur durch unerwartete Glücksfälle voran, selten ist etwas glaubwürdig motiviert; im passenden Moment geschieht immer etwas, das den nächsten Schritt auslöst. Auch dass sich genau jene Figuren immer begegnen, die sich zwingend begegnen müssen, wirkt nicht authentisch – mal davon abgesehen, dass die Polizei offenbar keine Veranlassung sieht, sie ernsthaft in die Schranken zu weisen, wenn sie überall rumplatscht und sich einmischt. Natürlich haben wir es mit einer Superheldin zu tun, die schlimmste Situationen und Verletzungen meistert, um sich drei Minuten später in den nächsten Kampf zu begeben. Was ich bei James Bond augenzwinkernd hinnehmen kann, wirkt hier einfach überzogen.

Guter Ansatz, leider für mich nicht überzeugend ausgearbeitet. Auch das letztliche Motiv, das am Ende aus dem Hut gezaubert wird, kann nur halbherzig die Taten erklären. Fazit: durchaus spannend erzählt, aber auf der Plotebene doch auch mit großen Schwächen.

Bewertung vom 23.12.2021
Das gebrannte Kind / Cold Case Bd.3
Frennstedt, Tina

Das gebrannte Kind / Cold Case Bd.3


ausgezeichnet

Tess Hjalmarsson hat eigentlich den Fall Jenny im Auge, in dem es scheinbar neue Erkenntnisse von ihren deutschen Kollegen gibt. Doch eine Serie von Bränden, bei denen auch Todesopfer zu beklagen sind, führt wieder einmal dazu, dass ihr Cold Case Team sich mit aktuellen Fällen beschäftigen muss und ihre eigentliche Aufgabe liegenbleibt. In diesem Fall jedoch scheint es Parallelen zu geben zu einer früheren Serie, in der Tess ebenfalls ermittelte und einem anderen, bislang ungelösten Fall einer jungen Mutter, die nachts in ihrem Schlafzimmer umkam, jedoch schon tot war, bevor das Feuer ausbrach. Wie immer geht Tess an ihre Grenzen, doch dieses Mal wird sie persönlich gefordert, denn bald zeigt sich, dass sie selbst ein potentielles Ziel des Täters sein könnte.

Zum dritten Mal bereits schickt die Kriminalreporterin Tina Frennstedt ihr südschwedisches Cold Case Team auf Mördersuche. „Das gebrannte Kind“ verbindet ebenfalls aktuelle Fälle mit ungelösten Morden, die seit Jahrzehnten auf Aufklärung und Ruhe für die Hinterbliebenen warten. Brisant dieses Mal: die Kommissarin ist unmittelbar involviert und kann keine emotionale Distanz wahren, was ihr den Blick für die Gefahr versperrt.

Die bisherigen Bände der Reihe haben mich dadurch überzeugt, dass bei den Figuren auf gängige Klischees verzichtet wurde und man den Eindruck gewinnt, real existierende Menschen sind am Werk, denen man auch auf der Straße begegnen könnte. Auch wenn Zeitdruck herrscht, können sie Alltagssorgen nicht ganz ausblenden, diese überlagern jedoch die Krimihandlung nicht, sondern ergänzen diese glaubwürdig. Sie sind keine Superhelden, sondern arbeiten professionell und beharrlich, wobei es auch mal menschlich wird und Fehler nicht ausgeschlossen sind.

Der Fall benötigt einige Zeit, bis das Ermittlerteam auf die richtige Spur kommt. Den deutschen Titel finde ich dabei aus Spannungsgesichtspunkten leider nicht ganz glücklich, das schwedische Original „Skärseld“, Fegefeuer, passt viel besser, auch wenn mir die biblischen Bezüge etwas zu unmotiviert erschienen. Insgesamt ein routinierter, ruhiger Krimi, der spannend ist, jedoch nicht nervenzerreißend und vor allem ohne unnötig brutale Gewaltdarstellung auskommt.

Bewertung vom 22.12.2021
Das Chalet
Ware, Ruth

Das Chalet


ausgezeichnet

Danny und Erin warten in dem französischen Luxus-Chalet auf die nächste Gruppe von Gästen: ein britisches Start-up, das dort die Neuausrichtung der Firma diskutieren und gleichzeitig entspannen will. Doch schon bei der Ankunft wird deutlich, dass es große Spannungen gibt und die Gruppe in zwei Lager zerfällt, die sich zwischen den beiden Gründern und Mehrheitseigentümern Topher und Eva aufspalten. Nur Liz scheint irgendwie nirgendwo dazuzugehören, es ist auch nicht klar, weshalb die ehemalige Mitarbeiterin überhaupt zu dem Trip mitgekommen ist. Die ohnehin angespannte Stimmung wird herausgefordert als erst Eva von einem Ski-Ausflug nicht zurückkommt und dann eine Lawine das Chalet von der Außenwelt abschließt. Doch statt zusammenzuhalten und sich gemeinsam der Situation zu stellen, ereignen sich mysteriöse Todesfälle, die nur eins bedeuten können: unter den Anwesenden ist ein Mörder.

Wie gewohnt routiniert erzählt Ruth Ware auch ihren neuesten Thriller und erfüllt mit diesem genau die Erwartungen, die ich hatte: Die Story beginnt harmlos und entwickelt sich dann langsam zu einem spannenden Katz-und-Maus-Spiel, bei dem man keiner Figur trauen kann, denn alle haben ihre kleinen und großen Geheimnisse. Der Kreis der Verdächtigen ist überschaubar, aber es ist nicht nur die Frage, wer da ein perfides Spiel treibt, die einem das Buch nicht mehr weglegen lässt, sondern noch viel mehr jene nach dem Warum.

Die Abgeschiedenheit des Chalets hoch in den Alpen bietet die perfekte Kulisse für den Thriller, die junge hippe Gruppe des Start-Ups erfüllt zunächst auch alle Klischees, die die Sympathien herausfordern. Es scheint als sei das im Raum stehende Übernahmeangebot das Moment, das sie auseinanderdividiert, bald jedoch wird deutlich, dass noch viel mehr dahintersteckt und dass das Beziehungsgeflecht komplexer ist als vermutet. Als Mordmotiv würden zig Millionen aus dem Deal ja allemal ausreichen, aber das wäre hier bei weitem zu kurz gedacht.

Die Handlung wird im Wechsel aus zwei Perspektiven erzählt, die zunächst verwundern. Zum einen von Erin, die als Mitarbeiterin des Chalets Außenseiterin der Gruppe ist und diese mit einem gewissen Abstand betrachten und analysieren kann und der man aufgrund ihrer zuvorkommende und hilfsbereiten Art auch gerne glaubt. Bis ihre Figur Fragen aufwirft, viele Fragen, große Fragen. Nicht minder sieht dies bei der zweiten ich-Erzählerin Liz aus, deren Anwesenheit ebenfalls verwundert und die ein natürlicher Störkörper zu sein scheint. Sie passt in keiner Weise zu den anderen, aber hätte sie wirklich ein Motiv, ihnen was Böses zu wollen?

Die Autorin hat ihren Stil gefunden, der mir immer wieder gefällt und mich bestens unterhält. Wenn man mehrere ihrer Romane gelesen hat, weiß man worauf man sich einlässt und was einem erwartet, auch „Das Chalet“ ist diesbezüglich keine Überraschung, was ich allerdings keineswegs negativ sehen würde.

Bewertung vom 15.12.2021
Eis. Kalt. Tot.
Nordby, Anne

Eis. Kalt. Tot.


ausgezeichnet

Eine Leiche wird in Kopenhagen aus dem Wasser gezogen. Der Kopf fehlt und auch ansonsten ist der Mann schrecklich zugerichtet. Kommissarin Kirsten Vinther stürzt sich mit Feuereifer auf den Fall, ihren neuen Kollegen Jesper Bæk beäugt sie dabei mit Vorsicht, er wirkt unnahbar und sie kann nicht herausfinden, weshalb er aus der Provinz in die Hauptstadt versetzt wurde. Unterstützt werden sie von der Super-Recognizerin Marit Rauch Iversen und bald merken sie, dass sie auch jede Hilfe gebrauchen können, denn sie haben es mit einem bestialischen Serientäter zu tun, der seine Opfer präpariert und ausstellt. Seine zweifelhaften Kunstwerke entlehnt er dabei der Grönländischen Sagenwelt, Marits Heimat, weshalb sie auch schnell die Verbindung herstellen kann. Doch was will er ihnen damit sagen? Und was verbindet die Opfer, von denen immer mehr auftauchen?

Unter dem Pseudonym Anne Nørdby veröffentlicht Anette Strohmeyer ihre Skandinavien Thriller. „Eis.Kalt.Tot.“ ist der Auftakt zu einer neuen Reihe um Marit Rauch Iversen und ihre speziellen Fähigkeit der Gesichtserkennung. Diese steht jedoch nicht ganz so sehr im Vordergrund des ersten Bandes wie die Mythen der autonomen dänischen Insel. Diese sind Ausgangspunkt und Schlüssel für das Ermittlerteam, um dem Täter auf die Schliche zu kommen. Doch der Weg dorthin ist weit und ausgesprochen spannend.

Die Leichen werden als sogenannte Tupilait inszeniert, groteske spirituelle Mischwesen, halb Mensch halb Tier. Wegen ihrer unsichtbaren Mächte und Fähigkeiten sind sie sehr gefürchtet, in Kopenhagen stoßen die seltsamen Gebilde aus menschlichen und Tierkörper eher ab. Viel erfährt man nebenbei über den Glauben der Grönländer, der ihnen das Leben in der kargen Einöde ermöglicht hat, da die Sagen immer auch Warnungen waren, die letztlich ihrem Schutz dienten. Marit mag schon lange in Europa leben und rational denken, ganz lösen kann sie sich jedoch von den alten Geschichten nicht und sie verlässt sich immer auch auf ihre Intuition, die sie mehr als einmal zurecht warnt.

Das Ermittlerduo Kirsten und Jesper ist recht konträr aufgebaut, was zu einigen Spannungen führt, aber so auch die menschlichen Unzulänglichkeiten der beiden durchscheinen und sie authentisch wirken lässt. Der Fall ist komplex und eröffnet erst nach und nach durch akribische Polizeiarbeit sein ganzes Ausmaß. Es sind keine Zufälle, sondern Beharrlichkeit und konsequentes Spurenverfolgen, dass sie letztlich auf die richtige Spur führt.

Ein überzeugender und fesselnder Thriller, der perfekt in den Winter passt mit dem kalten und abstoßenden Klima, in dem die Handlung angesiedelt ist. Interessante Figuren, die Lust auf mehr Fälle machen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.12.2021
Aufbrüche
Farinelli, Arianna

Aufbrüche


sehr gut

Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai zum Präsident gewählt wird. Sie kennt als Expertin die Strukturen von Hass, weiß, wie Menschen reagieren, wenn sie unzufrieden sind mit ihren Regierungen und welche Folgen das haben kann, droht das nun auch den USA? Doch nicht nur die politische Lage ist prekär, auch ihr Familienleben liegt in Trümmern: seit einigen Wochen schon hat sie eine Affäre mit Yunus, einem ihrer Studenten. Nun steht die Polizei in ihrem Büro und fragt nach dessen Verbleib, denn es scheint, als hätte sich der junge Mann radikalisiert und dem IS angeschlossen. Dass sie von ihm schwanger ist, macht die Lage mit ihrem erzkonservativen Mann und den beiden Kindern nicht leichter.

Arianna Farinelli ist selbst, genauso wie ihre Protagonistin, italienischer Abstammung und lehrt Politikwissenschaften in New York. „Aufbrüche“ ist ihr vielbeachtetes Debüt, das im Originaltitel „Gotico Americano“ auf ein Bild von Grant Wood anspielt („American Gothic“), einem Nationalheiligtum, das den amerikanischen Pioniergeist und das ländliche Leben preist. Genau jene ländliche Bevölkerung war es auch, die mit ihrem rückwärtsgewandten Blick, den das Bild illustriert, den politischen Erdrutsch verursachte. Die politische Ebene wird durch jene der Familie gespiegelt, in der die beiden Ehepartner ebenfalls auseinandertriften: Tom aus konservativer Familie mit ebensolchen Ansichten, der den progressiven Ansichten seiner Frau kaum mehr folgen kann.

Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und kommt immer wieder in die Gegenwart, die sich bereits in einem desaströsen Zustand befindet, zurück. Dabei wechseln sich die großen Blickwinkel der weltpolitischen Lage und ihrer wissenschaftlichen Analyse zunächst mit den Disruptionen im Nukleus der Familie ab. Besonders interessant hier, wie differenziert es der Autorin gelingt, die Situation der italienischen Einwanderer, die je nach Einwanderungszeitpunkt gänzlich unterschiedlich in die amerikanische Gesellschaft aufgenommen wurden, mit zu integrieren. Bruna bleibt formal genauso ein „Alien“ wie sie sich Toms Familie immer fremd fühlt.

Einen Nebenkriegsschauplatz ist die Situation ihres Sohnes, der schon als kleines Kind lieber mit Puppen spielt und Kleider tragen will als den gesellschaftlichen Vorstellungen eines Jungen zu entsprechen und mit den anderen wilde Spiele zu verfolgen. Mario benötigt zunächst keine Bezeichnung für das, was er ist oder wie er sich fühlt, nur wäre er lieber eigentlich Maria als Mario - dass er damit für seinen Vater und dessen Familie Enttäuschung darstellt, ist keine Frage. Der Großvater hat auch keine Hemmungen, den noch kleinen Jungen übel abzuqualifizieren. Mit einer unsichtbaren Freundin und seiner cleveren und mental starken Schwester jedoch kann er seinen Platz finden.

Ein vielschichtiger Roman, der gleich mehrere große Themen anreißt, alles zentriert um eine interessante und ebenso vielschichtige Protagonistin, deren Leben an einem Scheidepunkt steht, bei dem nicht klar ist, welcher Weg für sie am Ende wartet.

Bewertung vom 02.12.2021
Die Freiheit einer Frau
Louis, Édouard

Die Freiheit einer Frau


ausgezeichnet

Der junge französische Autor Édouard Louis setzt die Erzählung seiner Familie fort. Nachdem er in „En finir avec Eddy Belleguele“ (dt. „Das Ende von Eddy“) seine eigene Geschichte erzählte, in „Histoire de la violence“ (dt. „Im Herzen der Gewalt“) eine nahezu unerträgliche Gewalteskapade ausführte, näherte er sich in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ seinem Vater. Jetzt ist seine Mutter, die auch das Cover ziert, in „Die Freiheit einer Frau“ im Fokus. Genau jenes Bild, das er zufällig entdeckte, war auch der Auslöser für das Buch, das einmal mehr in seiner ganz eigenen literarischen Form zwischen Erzählung, Memoiren und Biografie verfasst wurde.

„Sie war gedemütigt, aber sie hatte keine andere Wahl, oder sie dachte, sie hätte keine, die Grenze dazwischen ist schwer zu bestimmen, (...)“

Moniques Leben gerät früh schon auf die schiefe Bahn. Während der Ausbildung wird sie als Teenager schwanger, bekommt bald schon das zweite Kind. Sie verlässt den Vater der Kinder für einen anderen Mann, der jedoch ebenso gewalttätig und unterdrückend ist. Mit ihm folgen weitere Kinder, darunter auch Édouard. Ihr bleibt das Leben als Hausfrau und Mutter auf dem nordfranzösischen Dorf. Dass sie einmal eine lebenslustige Frau mit Träumen war, davon ist nichts mehr zu spüren. Stoisch erträgt sie das Schicksal, das ihr scheinbar zugewiesen wurde. Sie braucht Jahrzehnte, um sich zu erinnern, dass sie schon einmal geflüchtet ist und dass sie sie diese Möglichkeit wieder hätte.

„Sie war sich ganz sicher, dass sie ein anderes Leben verdiente, dass es dieses Leben irgendwo gab, abstrakt gesehen, in einer virtuellen Welt, so gut wie in Reichweite, und dass ihr Leben in der wirklichen Welt eigentlich wegen eines Versehens so aussah wie es war.“

Was die Erzählungen Édouard Louis‘ auszeichnet, ist die gnadenlose Beschreibung einer unschönen Realität. Er kommt aus einem prekären Milieu, das von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt ist und eröffnet mit seinen Büchern einen Blick in diese Welt, vor der man lieber die Augen verschließen möchte. Ihm selbst ist nicht nur der soziale Aufstieg geglückt, er kann mit dem Abstand von Zeit und Raum auch das reflektieren, was er als Kind und Jugendlicher erlebt und gesehen hat und schreibt dies nieder.

Auch wenn die schon bekannte endlose Spirale, die sich von Generation zu Generation wiederholt - geboren in Gewalt und Armut, den Ausweg nicht finden, den Weg der Eltern reproduzieren, selbst gewalttätig werden und mit prekären Jobs gerade so überleben – auch hier geschildert wird, erlaubt der Blick auf die Mutter doch auch einen Funken von Hoffnung. Und Versöhnung, denn der Sohn ist älter und reifer, erkennt seine eigenen Fehler gegenüber der Mutter, seine Fehleinschätzungen, die blinden Flecken, die er in jungen Jahren nicht sehen oder richtig deuten konnte. Somit wird der Bericht auf eine Reflektion über das eigene Denken und das Eingeständnis von selbst ausgeübter Gewalt, die in seinem Fall eher psychologisch denn physisch war.

Eine Hommage an eine letztlich starke Frau, keine schöne Lebensgeschichte, aber eine aus dem echten Leben, das nun einmal nicht immer rosarot ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.11.2021
A Cornish Christmas Murder (eBook, ePUB)
Leitch, Fiona

A Cornish Christmas Murder (eBook, ePUB)


sehr gut

Jodie Parker and her catering team – consisting of her 13-year-old daughter Daisy, her mother and her right hand Debbie – have taken over a job at short notice at Bodmin Moor, an old abbey about to be turned into a guest house. Millionaire Isaac is hosting a Christmas party for kids with a Santa and all it needs to have a great event. The food is great and they all have a wonderful day. Yet, when they want to leave in the evening, it turns out that due to heavy snow fall, all roads are blocked. Thus, Jodie and her team, Isaac with his assistant and his son as well as Santa Steve have to stay overnight. Two knocks on the door bring more stranded people: a group of four Japanese women and a mysterious couple. They make the best of the situation, but when a dead body is discovered the next morning, they realise that a murderer must be among them.

I hadn’t noticed that “A Cornish Christmas Murder” is the fourth in Fiona Leitch series about the nosey ex member of the Met Police Jodie Parker. Yet, the cosy crime novel offers enough about her backstory to simply enjoy the case at hand. It is a classic setting with a group of strangers gathering in an isolated place where no mysterious intruder could have entered secretly to commit the deed. Thus, you know soon that one of the lovely bunch must be the culprit, only the questions of how and why remain of which the search for an answer is entertaining to follow.

It was especially that Agatha Christie-esque setting that drew me to the novel and I wasn’t disappointed. Christmas time is a jolly period which makes people especially unaware of the dark sides of the world. Despite the unwanted stay at the mansion, the night guests explore the premises and make the best of it. And the house has to offer some secret passages which open room for speculation about past times – and present times, too. Some late-comers about whom we do not learn too much add suspense to the circle of suspects.

The protagonist is a very likable down-to-earth woman – with quite a clever daughter – whom I liked immediately. The case offers some mysteries which are not too obvious to untangle but find a convincing end. A charming and diverting read perfect for the Christmas season.

Bewertung vom 27.11.2021
Schwedische Familienbande / Ein Pfarrer-Samuel-Williams-Krimi Bd.1
Cedervall, Marianne

Schwedische Familienbande / Ein Pfarrer-Samuel-Williams-Krimi Bd.1


gut

Samuel Williams muss die Großstadt verlassen, um in dem Dörfchen Klockarvik seine neue Stelle als Pfarrer anzutreten. Doch kaum ist er angekommen, ist es mit der beschaulichen Dorfruhe auch schon vorbei als er auf dem Friedhof die grausam zugerichtete Leiche von Finn Mats Hansson findet. Der Hotelbesitzer war gut bekannt und hat sich mit seinen Geschäften nicht wenige Feinde gemacht. Aber auch seine Ex-Frau, gerade durch eine Jüngere ersetzt, hätte durchaus ein Motiv, sich ihres Mannes zu erledigen. Ebenso sein Sohn, der um das Erbe fürchten muss. Statt sich auf das Seelenheil seiner neuen Schäfchen zu konzentrieren beginnt Samuel zu ermitteln, sehr zum Missfallen von Maja-Sofia Rantatalo, der zuständigen Kommissarin.

Marianne Cedervall hat ihren cosy crime Fall zu Beginn der Adventszeit angesiedelt, in der die Menschen eigentlich in besinnlicher Stimmung sein sollten, das schwedische Dorf jedoch durch den Mord aufgerüttelt wird. „Schwedische Familienbande“ greift mit dem in Eigenregie ermittelnden Geistlichen ein bekanntes Thema auf und unterscheidet sich damit stark von den typischen schwedischen Psychothrillern, die in nervenzerreißender Weise grausame Brutalität schildern. Hier geht es eher beschaulich und gemächlich zu, in guter Tradition eines Father Brown oder Brother Cadfael.

In seinem ersten Fall muss der Neuankömmling sich erst mit den Bewohnern und den Traditionen seines neuen Wirkkreises vertraut machen, womit auch dem Leser der Einstieg leicht gelingt. Das fehlende Wissen um Verbindungen und alte Fehden muss dich der Pfarrer erst mühsam erfragen, ist dabei aber erfolgreicher als die Polizei. Mit Maja-Sofia hat er eine würdige Gegenspielerin, die so gar nicht von seinem Tun begeistert ist, aber erkennen muss, dass der Kirchenmann durchaus clever kombiniert und seinen eigenen Zugang zu den Menschen findet.

Als Protagonist ist Samuel mit einigen Eigentümlichkeiten ausgestattet: geschieden mit Freundin passt er nur bedingt in das Bild des gottesfürchtigen braven Bürgers. Mit seinem Boss, also dem ganz oben, führt er Zwiegespräche, vor allem dann, wenn ihm die attraktive Kommissarin wieder einmal droht seine eigentliche Freundin vergessen zu lassen.

Leider funktioniert nicht alles in der Übersetzung. Der Running Gag bezüglich der Namen hat sich mir schlichtweg nicht erschlossen und wurde dadurch irgendwann etwas müßig, ebenso die Dialektfrage, die aber wohl scheinbar auf eine Erfindung der Autorin zurückgeht. Handlung und Figuren sind etwas schematisch und lassen leicht die bekannten Vorbilder erkennen, hier hätte etwa mehr Originalität gutgetan.