Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Havers
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 25.08.2022
Der Bunker / Frank Bosman Bd.2
Murath, Clemens

Der Bunker / Frank Bosman Bd.2


ausgezeichnet

Clemens Murath hat sich mit seinen über dreißig verfilmten Drehbüchern einen Namen gemacht. Unter anderem wurde er für „Im Schatten des Jaguar“ mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet und „Es ist nicht vorbei“ stand auf der Nominierungsliste für den Grimme-Preis. Im vergangenen Jahr wagte er sich nun auf neues Terrain und veröffentlichte mit „Der Libanese“ den ersten Band einer Thriller-Reihe. Nun also die Fortsetzung „Der Bunker“, im Zentrum Frank Bosman vom LKA Berlin, ein unkonventioneller Ermittler, kein strahlender Held, dessen Blick auf das, was ihm tagtäglich im Beruf unterkommt, durch seinen Einsatz im Kosovo, wo er für die EULEX ziemlich erfolglos als Ausbilder tätig war, nachhaltig geprägt wurde.

Nun holt ihn die Vergangenheit in Gestalt der UN-Sonderermittlerin Elaine Szolnay ein, mit der er damals zusammengearbeitet hat und die jetzt auf der Spur Remi Ekrems ist, der für seine Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden soll. Damals wurde er von oberster Stelle beschützt und war somit für Szolnay und Bosman unantastbar. Mittlerweile hat er andere Einkommensquellen erschlossen, überschwemmt mit Helfern und Helfershelfern die Hauptstadt mit Drogen jeder Art, und dafür will ihn Bosman drankriegen. Als ein Zeuge mit schockierenden Informationen auftaucht, die dafür sorgen könnten, dass Ekrem endlich zur Rechenschaft gezogen wird, schmieden Szolnay und Bosman einen Plan, nicht wissend, dass dieser nicht nur für sie lebensgefährlich ist. Ab diesem Zeitpunkt überschlagen sich die Ereignisse. Kriegsverbrechen, Organhandel, Drogen, Rechtsradikale, Umstürzler, Reichsbürger, Migranten. Falsche und richtige Entscheidungen. Die Vergangenheit, die bis in die Gegenwart nachwirkt.

Während im Vorgänger die Handlung ausschließlich im Berliner Kiez verortet ist und sich auf Clan-Kriminalität konzentriert, erweitert sich hier der geografische Radius von Berlin über Bernau bis nach Durrës und Prizren, was sich natürlich auf die Story auswirkt. Diese kommt wesentlich komplexer und rasanter als der Vorgänger daher, auch wenn die Plot Twists stellenweise fast zuviel des Guten sind. Doch darüber habe ich gerne hinweggesehen, denn Murath überzeugt zusätzlich einmal mehr mit jeder Menge Grau, rotziger Sprache und einem speziellen Humor. Respektlos und rau, und um Klassen besser, als vieles, was in Deutschland den Weg zwischen zwei Buchdeckel findet. Zugreifen, wenn ihr auf spannende Hardboiled Fiction steht!

Bewertung vom 15.08.2022
Die Köchinnen von Fenley
Ryan, Jennifer

Die Köchinnen von Fenley


gut

1941/42 ist auf der britischen Insel die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln (zumindest für das normale Volk) stark eingeschränkt. Lieferketten sind unterbrochen, Ackerflächen liegen brach, weil die Männer im Krieg sind. Die zurückgebliebenen Frauen landauf, landab, sind kreativ, bemühen sich, aus dem, was die Lebensmittelkarten an verfügbarer Nahrung anbieten, ihre Familien bestmöglich zu versorgen.

Als für die BBC-Kochsendung The Kitchen Front (die es in der Tat wirklich gab) eine Co-Moderatorin gesucht wird, lobt der Moderator einen Kochwettbewerb aus, bei dem die Gewinnerin den begehrten Job erhalten soll. Vier sehr unterschiedliche Frauen bewerben sich: eine junge Witwe, die ihren Mann im Krieg verloren hat und darum kämpft, ihren Kindern das hoch verschuldete Dach über dem Kopf zu erhalten. Ihre hochnäsige Schwester, die über ihren Stand geheiratet hat und nun in einer unglücklichen Ehe gefangen ist. Das schüchterne Küchenmädchen, eine Waise, deren Potenzial die betagte Chefköchin des Landguts erkannt hat. Und eine ausgebildete, ledige Köchin, die wegen ihrer ungewollten Schwangerschaft ihre Stelle in London verloren hat und nun in der Provinz festsitzt. Chancen muss man ergreifen, wenn sie sich bieten, denn jede dieser Frauen hätte durch den Gewinn des Wettbewerbs ohne Frage die Möglichkeit, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben.

Frauen und Kochsendungen, da war doch was. Richtig, Bonnie Garmus‘ „Eine Frage der Chemie“, ein kritisch-humorvoller Blick auf die Rolle der Frau im Wissenschaftsbetrieb der sechziger Jahre. Aber damit kann und sollte man Jennifer Ryans historischen Roman „Die Köchinnen von Fenley“ besser nicht vergleichen, bietet dieser doch „nur“ Unterhaltung im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs ist, eine Zeitspanne, die in letzter Zeit häufig bei britischen Neuerscheinungen den Hintergrund für die typischen „Frauenbücher“ bietet. Ob dies mit dem Brexit zusammenhängt? Ich denke schon, denn gemeinsam ist all diesen Romanen die Aussage: Wir schaffen das gegen alle Widrigkeiten.

Und genauso vorhersehbar entwickelt sich die Handlung dieses Romans, der den Schwerpunkt auf die zwischenmenschlichen Beziehungen legt und nicht an den in diesem Genre üblichen Klischees spart. Höchst interessant fand ich allerdings die dem Buch vorangestellte Auflistung der „Wöchentlichen Essensrationen in Kriegszeiten für einen Erwachsenen“ (die auf den ersten Blick nicht besonders kärglich erscheint) und deren kreative Verwendung samt Anreicherung mit dem, was die Natur zu bieten hat, sowie die entsprechenden Rezepte zu den Gerichten, die die Teilnehmerinnen daraus zubereiteten. Und auch wer sich für die Alltagskultur während dieser Zeitspanne interessiert, findet zwischen den Zeilen immer wieder interessante Informationen zu bestimmten Nahrungsmitteln, die auch heute noch mit Sicherheit in britischen Haushalten Verwendung finden und auf den Tisch kommen.

Bewertung vom 13.08.2022
Snowflake
Nealon, Louise

Snowflake


ausgezeichnet

Wo komme ich her, wo will ich hin? Wer bin ich, und wer will ich werden? Das sind die zentralen Fragen in Louise Nealons „Snowflake“, einem Coming-of-Age Roman.

Debbie White, wächst auf einer Milchfarm im irischen Kildare auf. Die Lebens- und Familienverhältnisse sind instabil und nicht unbedingt das, was für eine Heranwachsende hilfreich ist, die ihren Platz im Leben sucht. Mit ihr auf der Farm leben ihre Mutter Maeve, die psychische Probleme hat und davon überzeugt ist, dass ihre Träume Prophezeiungen sind, weshalb sie tagsüber entweder schläft oder damit beschäftigt ist, diese aufzuschreiben und zu analysieren. Und dann gibt es noch Onkel Billy, den melancholischen Alkoholiker, der auf dem Grundstück in einem Wohnwagen und auf dessen Dach haust, Sternbilder nachzeichnet und Geschichten erfindet, in denen griechische Götter die Hauptrolle spielen.

Ländliche Idylle sucht man vergebens, auch wenn der Umgang miteinander durchaus als liebevoll bezeichnet werden kann. Dennoch, Debbie möchte diesem Leben entfliehen, studieren. Sie bewirbt sich am Trinity College in Dublin und wird auch angenommen. Die nächste Herausforderung, vor der sie steht. Und hier kommt eine weitere wichtige Facette ins Spiel, nämlich die Herkunft. Sich im universitären und zwischenmenschlichen Leben zurecht zu finden, stellt Debbie vor große Herausforderungen. Gleichzeitig sind da aber auch noch ihre familiären Verpflichtungen, ein Spagat, der ihr kaum gelingen kann und sie extrem belastet.

Es sind viele Themen, die ihren Platz in diesem Roman finden. Natürlich geht es um Familiendynamik, um Emotionen, um Depression und Alkoholismus, aber auch um Verluste, Identität, die Wurzeln, um die Bewältigung von Herausforderungen, um Freundschaft und um das Leben. Wunderschön geschrieben, in einer teilweise fast schon lyrischen Sprache, dann wieder rau und direkt, aber auch mit sehr humorvollen Passagen, die berühren und mitten ins Herz treffen.

Bewertung vom 11.08.2022
Falsche Zeugen / Strafverteidiger Pirlo Bd.2
Bott, Ingo

Falsche Zeugen / Strafverteidiger Pirlo Bd.2


sehr gut

„Glücksspiel. Drogen. Prostitution. Das alles gibt es sowieso immer. Es kann von Vorteil sein, wenn man zumindest weiß, dass sich ordentlich darum gekümmert wird. Von ernst zu nehmenden Leuten, die wissen, was Respekt ist und wie man ihn zeigt.“ (S. 346)

Ingo Bott nimmt uns in „Falsche Zeugen“, dem zweiten Band der Pirlo-Reihe, mit ins Düsseldorfer Milieu, in dem der albanische Maliki-Clan und die Nazi-Rocker sich die genannten „Geschäftsfelder“ brüderlich teilen. Man respektiert sich und spuckt dem Gegenüber nicht in die Suppe, ist ja genug für alle da. Natürlich muss Mann immer wieder mal mit den Muskeln spielen, zeigen, wer der Herr im Ring ist, aber das ist Geplänkel. Ernsthafte Auseinandersetzungen oder Revierkämpfe sind eher selten.

Alles easy bis zu dem Abend, an dem Rainer Waßmer, Boss der Rocker, auf dem Parkplatz eines Bordells erstochen wird und Faruk Malikis Fingerabdrücke auf der Tatwaffe gefunden werden. Von da an bekommt die Aussage „Leben und leben lassen“ eine komplett andere Bedeutung. Die Mühlen der Justiz beginnen zu mahlen, was auch Faruk, dem Kronprinzen der Malikis, klar ist. Hier kommen Pirlo und seine Kollegin Sophie ins Spiel, bei denen er Hilfe sucht. Sie glauben seinen Unschuldsbeteuerungen und übernehmen den Fall trotz der dürftigen Beweislage.

Die Ermittlungen gestalten sich äußerst zäh, denn es gibt kaum Anhaltspunkte, wer ein Interesse daran haben könnte, Waßmer zu ermorden und Maliki an den Karren zu fahren. Nicht gut, denn Pirlo und Mahler arbeiten auf Erfolgsbasis, d.h. wenn Faruk schuldig gesprochen wird, sehen sie keinen müden Cent.

So plätschern die ersten 200 Seiten vor sich hin, kurz unterbrochen von Rückblicken auf den erfolgreichen Abschluss des Falls aus Band 1, Pirlos unbewältigte Familiengeschichte in Form seines Bruders Ahmid, der Sophie anbaggert, und dem Auftauchen von Alena, einer attraktiven Femme fatale (Verbeugung vor dem Malteser Falken ???), die Pirlo den Kopf dermaßen verdreht, dass er Sophie mit der gesamten Arbeit an dem Fall hängen lässt. Wer diese Durststrecke überwindet, wird mit einem zweiten Teil belohnt, der es in sich hat und Faruks Geschichte samt einigen interessanten Entwicklungen im Privaten der beiden Anwälte zufriedenstellend zum Ende bringt.

Wenn ich Sympathiepunkte verteilen müsste, würde das Pendel ohne Frage zu Sophies Seite hin ausschlagen, was vor allem den endlosen Wiederholungen geschuldet ist, mit denen ihr Chef beschrieben wird. Ja, wir haben zur Kenntnis genommen, dass er seinen Kaffee extrastark trinkt, alkoholischen Getränken nicht abgeneigt und von seinen Haaren fast schon besessen ist. Und dass er ein Problem mit seiner Herkunft hat. Wesentlich schwerer ins Gewicht fällt jedoch, wie er Sophie hängen lässt, obwohl er weiß, dass es brennt. Kein Charakterzug, der mich für ihn einnimmt. Aber bei einem Blick auf das Cover des dritten Bandes scheint es zumindest so, dass Pirlo endlich Sophies Qualitäten würdigt und sie zur Partnerin macht. Wir dürfen gespannt sein.

Kurze Kapitel und knappe Sätze forcieren das Tempo, und auch die nebenbei eingeflochtenen politischen Statements haben immer wieder für ein zustimmendes Kopfnicken meinerseits gesorgt. Beispiel gefällig?: „Irgendjemand dankt Sophie und Pirlo für den Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Vielleicht bekommen sie sogar eine Auszeichnung. Man hat Obama den Friedensnobelpreis gegeben. Im Afghanistan-Krieg. Während das Lager von Guantanamo in Betrieb war.“ (S. 222)

Nach anfänglichen Zweifeln überwiegt dann doch der positive Gesamteindruck (mit kleinen Abstrichen) und lässt mich gespannt auf die Fortsetzung der Reihe warten.

Bewertung vom 09.08.2022
Die Hyänen / Jack Reacher Bd.24
Child, Lee

Die Hyänen / Jack Reacher Bd.24


sehr gut

Es beginnt wie immer. Greyhound-Fan Jack Reacher sitzt mit Kreditkarte und seiner Zahnbürste im Bus, fährt ziellos durch die Gegend und beobachtet die Fahrgäste. Aus der Tasche eines alten Mannes (Aaron Shevick) ragt ein prall gefüllter Umschlag heraus, der offenbar eine größere Menge Bargeld erhält, was nicht nur Reacher sondern auch dem Kerl im Sitz vor ihm aufgefallen ist. Und der hat keine guten Absichten, folgt dem Mann, als er an der Haltestelle den Bus verlässt, passt eine günstige Gelegenheit ab und überfällt ihn. Hätte er besser nicht getan, denn natürlich ist unser einsamer Rächer als Retter in der Not zur Stelle und vereitelt den Überfall. So weit, so gut. Die klassische Einleitung, die den Boden bereitet für den Hauptteil, der den bekannten Mustern der Reihe folgt.

Reacher landet in einer nicht näher benannten Stadt, in der es von Kriminellen wimmelt. Rivalisierenden Albaner und Ukrainer tragen hier ihre Revierkämpfe aus, und natürlich gibt es da auch noch die Russen, die im Hintergrund auf ihre Chance lauern. Mittendrin jede Menge Unschuldige, die Reachers Hilfe benötigen, da die Polizei weitgehend tatenlos zuschaut. Unterstützung findet er bei seiner neuen Freundin, der Barkeeperin Abby, die ihn ohne groß Fragen zu stellen unterstützt und mit ihm in den Kampf zieht.

„Die Hyänen“ ist das vierundzwanzigste Buch und der letzte Band der Reihe, für den Lee Child allein verantwortlich zeichnet, bevor er die Fackel an seinen Bruder weiterreicht. Und er geht von Beginn an in die Vollen. Eine Actionszene reiht sich an die nächste, was zwar für Tempo sorgt, aber natürlich zu Lasten der Personen geht, die allesamt reichlich blass bleiben. Aber man weiß ja, was man bekommt, zumindest dann, wenn man die Vorgänger kennt. Wo Reacher draufsteht, ist Reacher drin, und diese Romane sind ja weder für den gewaltfreien Widerstand der Hauptfigur noch für deren filigran ausgearbeiteten Dialoge populär. Hier heiligt der Zweck die Mittel, und die Bösen bekommen am Ende das, was sie verdient haben. Basta.

Ein spannender Thriller mit jeder Menge Action, spannend erzählt, routiniert geschrieben und wie immer flüssig zu lesen. Wenn’s mal etwas einfacher gestrickt sein darf…

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2022
Mutterherz / Jane Rizzoli Bd.13
Gerritsen, Tess

Mutterherz / Jane Rizzoli Bd.13


sehr gut

Amy Antrim, eine Jugendliche, wird von einem Auto angefahren. Der Fahrer kümmert sich nicht um das verletzte Mädchen und begeht Fahrerflucht.

Sofia Suarez, eine bei Nachbarn und Kollegen beliebte Krankenschwester, wird nach Schichtende in ihrer Wohnung mit einem Hammer erschlagen.

Als wäre das nicht genug, tritt auch noch Angela, Jane Rizzolis Mutter, in die Fußstapfen von Miss Marple und beobachtet verdächtige Vorkommnisse in ihrer Nachbarschaft: Ein Mann und eine Frau, die bei Nacht und Nebel mit einem Umzugswagen vorfahren und das leerstehende Haus in der Straße beziehen, Gitter an den Fenstern einbauen und das Willkommensgeschenk, Angelas legendäres Zucchinibrot, nicht annehmen. Sehr verdächtig! Aber wozu hat man denn eine Tochter bei der Bostoner Mordkommission, soll die sich doch darum kümmern. Zu dumm nur, dass Jane, die mit ihrem Kollegen Barry Frost damit beschäftigt ist, den Mord an Sofia Suarez aufzuklären, und absolut keine Lust hat, sich mit den Ergebnissen von Hobby-Detektivin Angelas Schnüffeleien auseinanderzusetzen.

„Mutterherz“, der 13. Teil der Rizzoli & Isles Reihe hat mich überrascht, ähnelt die Story inhaltlich doch sehr stark dem, was wir von der mittlerweile eingestellten Fernsehserie kennen. Viel Familiengedöns und Drumherumgerede, die eigentlichen Ermittlungen im Fall der ermordeten Krankenschwester laufen eher nebenher.

Und dennoch, mich hat dieser Roman (Thriller würde ich ihn nicht unbedingt nennen) gut unterhalten, was den beiden sympathischen Protagonistinnen, in diesem Fall das Mutter-Tochter-Gespann, sowie den Fähigkeiten der Autorin geschuldet ist. Zum einen halten die Kapitel aus wechselnden Perspektiven das Interesse an dem Fortgang der Handlung hoch, zum anderen gelingt es Gerritsen, wie wir es von ihr gewohnt sind, die unterschiedlichen Baustellen der Handlung am Ende logisch und souverän zusammenzuführen.

Ein solider „Summer read“, den ich auch Leserinnen empfehlen kann, die es eher unblutig mögen.

Bewertung vom 03.08.2022
Natürlich Schwäbisch
Widmann, Andreas;Wien, Antonia

Natürlich Schwäbisch


ausgezeichnet

Lange bevor die Themen Nachhaltigkeit und Regionalität in Mode kamen, war es mir als Landkind schon immer wichtig zu wissen, wo die Lebensmittel herkommen, die tagtäglich auf unseren Tellern landen, und das ist bis heute so geblieben. Glücklicherweise hat dies in der Zwischenzeit auch viele Profiköche erreicht, die nicht auf möglichst exotische Zutaten sondern auf ausgezeichnete Qualität aus regionalem Anbau setzen.

Einer von ihnen ist Andreas Widmann, ein Kind der Schwäbischen Alb, der nach seinen Lehr- und Wanderjahren zurück in der Heimat gekommen ist und dort in der Nähe von Heidenheim (Ostalb) erfolgreich sowohl ein Gourmetrestaurant als auch ein klassisches Wirtshaus betreibt. Ihm ist der Spagat zwischen traditioneller Landküche und internationaler Haute Cuisine gelungen, denn auch bei seinen gehobenen Kreationen kommen die erstklassischen Zutaten aus der unmittelbaren Umgebung und werden von ihm unter Einsatz traditioneller Techniken kreativ verarbeitet (Miso-Paste aus Alblinsen oder Ketchup aus fermentierten Tomaten). Oder Fleisch von Lämmern, die auf den Wacholderheiden der Alb ihr Futter finden und somit auch in die ökologische Landschaftspflege eingebunden sind. Wie auch die Rinder, die ihr Leben nicht angebunden in dunklen Ställe fristen sondern auf der Weide stehen. Alle diese regionalen Produkte garantieren höchste Qualität und führen einmal mehr den Beweis, dass man nicht in die Ferne schweifen muss, um von außergewöhnlichen Geschmackserlebnissen überrascht zu werden.

„natürlich schwäbisch“ ist mehr als ein Kochbuch. Es ist gleichzeitig ein Lesebuch, in dem Widmann die vielen Facetten dieser Region zeigt, und es ist ein Bekenntnis zu seiner Heimat. Er macht uns mit seinen verschiedenen Lieferanten bekannt, stellt aber auch Menschen vor, die sich mit Leib und Seele ihrem Handwerk verschrieben haben, wie beispielsweise die Häfnerin oder den Schreiner.

Rezepte gibt es natürlich auch, und zwar in Hülle und Fülle. Dabei fehlen natürlich nicht die Klassiker der schwäbischen Küche: die Festtagssuppe und der Gaisburger Marsch, die Maultaschen und die Spätzle, der Ofenschlupfer und die süßen Flädle. Aber wir finden auch raffinierte Kreationen, so die gepökelten Schweinebäckle in Alblinsensoße, ein Hendl-Curry oder das Nudelrisotto mit confierten Tomaten und Bergkäseschaum. Alle nach dem speziellen „Alb.style“ von Andreas Widmann zubereitet, im Detail erklärt und leicht nachzukochen, setzen aber teilweise auch ein gewisses Maß an Vorkenntnis und Küchenerfahrung voraus.

Ein wunderschönes Koch- und Lesebuch und eine Liebeserklärung an die Schwäbische Alb und ihre Menschen.

Bewertung vom 29.07.2022
23 Uhr 12 - Menschen in einer Nacht
Dieudonné, Adeline

23 Uhr 12 - Menschen in einer Nacht


ausgezeichnet

„23 Uhr 12. Eine Autobahntankstelle in einer Sommernacht. Wenn man das Pferd mitrechnet, die Leiche aber nicht, sind zu diesem Zeitpunkt dreizehn Personen vor Ort (…)Wenn man die Leichen noch immer ausnimmt, das Pferd aber mitzählt, sind zu genau diesem Zeitpunkt nur noch zehn Personen vor Ort. Es ist 23 Uhr 14 (…) Hier ist man nur auf der Durchreise.“

So Anfang und Ende in Adeline Dieudonnés neuem Roman in zwölf Geschichten „23 Uhr 12“, in dem wir in einer kurzen Momentaufnahme das Leben von Menschen streifen, die sich in der Nacht auf einem Rastplatz in den Ardennen begegnen. Die Szenerie wirkt wie aus der Zeit gefallen. Schatten, die das Neonlicht wirft, der Geruch nach Benzin und Auspuffgasen, die Geräusche der vorbeifahrenden Autos, alles bloß Kulisse für die kurze Unterbrechung, den Stopp in einer Welt zwischen Vorher und Nachher, in der jede/r seine eigene Geschichte im Gepäck hat. Zwei Minuten, die zur Ewigkeit werden.

Wie bereits in „Das wirkliche Leben“ brilliert Dieudonné einmal mehr mit ihrer Kompromisslosigkeit. Mit harter, direkter Sprache und einem gnadenlos entlarvenden Blick, mit groben Strichen beschreibt sie die Personen und deren Beziehungen, Eigenheiten, Obsessionen, Triebe und Ängste und schaut in die Abgründe der menschlichen Seele. Das wirkt stellenweise skurril und absurd, wirkt aber auch schockierend und verstörend. Dennoch gelingt es ihr trotz der Kürze tief in die einzelnen Schicksale einzutauchen und kompromisslos die Einsamkeit der Menschen und die kaum auszuhaltende Leere in deren Leben aufzuzeigen.

Ein kleiner großer Roman, trostlos, aber auch melancholisch, bei dem ich während des Lesens ständig „Nighthawks“, das bekannteste Gemälde Edward Hoppers, vor Augen hatte. Lesen!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.07.2022
Palace Papers
Brown, Tina

Palace Papers


ausgezeichnet

Für „Palace Papers“, diesen umfangreichen Insiderbericht über die britische Monarchie, hat Tina Brown, ehemalige Chefredakteurin bei Vanity Fair, Tatler und The New Yorker unzählige Personen aus dem Umfeld der Queen befragt, mit Journalistenkollegen gesprochen und Druckwerke gewälzt, was sie auf über 40 Seiten eindrucksvoll belegt.

Herausgekommen ist dabei ein nicht nur ein „Greatest Hits“ der Skandale und Skandälchen der Windsors, sondern auch ein interessanter Einblick in eine aus der Zeit gefallene Institution, die de facto keine politischen Machtbefugnisse sondern lediglich repräsentative Aufgaben hat und deren Familienmitglieder angehalten sind, sich an die „Never complain, never explain“ Vorgabe der Queen zu halten. Dass dieser Kodex zunehmend an Gültigkeit verliert, zeigt sich inbesondere bei manchen angeheirateten Zugängen der Royals, die nicht das dicke Fell der Queen haben, mit nicht erfüllten Erwartungen kämpfen (Lady Di) oder eigene Pläne für ihren neuen Status haben (Meghan Markle).

Dabei sind die Sympathien der Autorin klar verteilt. Anne, unaufgeregt und klaglos ihren Job machend, Camilla, pragmatische Frau an der Seite des zukünftigen Königs und Kate, die sich pefekt mit ihrer Rolle als royale Unterstützerin arrangiert hat. Und natürlich die Queen herself, die seit siebzig Jahren den Briten ein Gefühl von Beständigkeit vermittelt und damit die Monarchie am Laufen hält, auch wenn in der jüngeren Vergangenheit immer wieder kritische Stimmen deren Abschaffung fordern. Doch solange die Insel in einen kollektiven Freudentaumel gerät - zuletzt gesehen bei den Feierlichkeiten anlässlich des 70jährigen Thronjubiläum – müssen die Windsors nicht auf gepackten Koffern sitzen.

„Palace Papers“ ist Klatsch und Tratsch auf hohem Niveau, gewährt interessante Einblicke in das Leben und die Marotten der Royal Family, ist äußerst vergnüglich zu lesen und verkürzt unterhaltsam die Zeit, während wir auf die Fortsetzung von „The Crown“ warten.

Bewertung vom 24.07.2022
Miss Elizas englische Küche
Abbs, Annabel

Miss Elizas englische Küche


gut

Elizabeth „Eliza“ Acton (1799 – 1859) ist eine Frau mit vielen Facetten. Sie selbst sieht sich als Lyrikerin, findet aber wie so viele Dichterinnen dieser Zeit niemanden, der ihre Gedichte drucken will. Als sie der Bankrott ihrer vermeintlich vermögenden Familie dazu zwingt, sich nach einem Broterwerb umzuschauen, scheint ihr das Angebot eines Verlegers ein gangbarer Ausweg. Er empfiehlt ihr, anstatt Gedichte ein Kochbuch zu schreiben. Aber wie kann sie diesen Vorschlag realisieren, hat sie doch noch nie einen Fuß in die Küche gesetzt? Kochbücher sind in diesen Zeiten kaum verfügbar, wenn doch, dann können sie kaum Hilfestellung bieten. Sie holt sich Unterstützung ins Haus, die junge Ann Kirby (Tochter einer dementen Mutter und eines beinamputierten Veteranen) soll sie als Küchenmädchen unterstützen. Eine höchst produktive Verbindung, aus der 1845 das Standardwerk „Modern Cookery for Private Families“ entsteht, der Vorläufer der Kochbücher, wie wir sie heute kennen, aber auch eine Freundschaft, die sich über alle Standesgrenzen hinweg setzt.

Die Autorin Annabel Abs hat bisher zwei Romanbiografien veröffentlicht, eine über James Joyce‘ Tochter Lucia, die andere über Frieda von Richthofen, die als Vorbild für Lady Chatterley diente, wobei sie für „The Joyce Girl“ wegen ihrer freien Interpretation der biografischen Daten heftig kritisiert wurde.

Der Blick in „Miss Elizas englische Küche“ scheint sich allerdings in der Tat überwiegend an den bekannten Eckdaten zu orientieren und gewährt einen interessanten Blick auf die Entstehungsgeschichte des ersten englischen Kochbuchs, das so ganz anders als seine Vorgänger daherkommt und noch heute vielen Kochbuchautorinnen als Vorbild dient: Die Beschreibung der Rezepte muss akribisch sein, mit einer kompletten Zutatenliste und korrekten Mengenangaben plus exakten Koch- und Backzeiten starten. Ganz so, wie wir es bis zum heutigen Tag aus unseren Kochbüchern gewohnt sind.

Alles in allem ein unterhaltsamer historischer Roman, der aber leider auch seine Schwächen hat. Zur Erinnerung, wir sind im viktorianischen England. Das erbärmliche Leben der Landbevölkerung wird bei Elizas Suche nach ihrer Gehilfin kurz angerissen, bleibt aber letztlich ohne persönliche Konsequenzen. Das Streben der beiden Frauen nach Unabhängigkeit wird im Wesentlichen durch die finanzielle Sicherheit verkörpert. Und dann soll mir noch einmal jemand erklären, wie Eliza, die keine Ahnung vom Kochen hat, sich in so kurzer Zeit mit sämtlichen Küchentechniken vertraut machen und die ausgefallensten Gerichte kreieren konnte. Das scheint mir dann doch reichlich unglaubwürdig, oder?