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Insgesamt 160 Bewertungen
Bewertung vom 16.11.2019
Der kleine Fuchs liest vor. Zauberhafte Prinzessinnen-Geschichten
Orso, Kathrin Lena

Der kleine Fuchs liest vor. Zauberhafte Prinzessinnen-Geschichten


ausgezeichnet

Niemand muss den üblichen Normen entsprechen. Auch Prinzessinnen nicht!

Prinzessinnen in einem rosa Erdbeerhaus und mit hellblauem Hintergrund? Ja, das könnte auch ganz furchtbar werden, aber von „Zauberhafte Prinzessinnen-Geschichten“ lasst Euch bitte, bitte nicht abschrecken. Denn was auch ein rosa-hellblauer Albtraum sein könnte, macht Kathrin Lena Orso in der Reihe „Der kleine Fuchs liest vor“ zu einem amüsanten (Vor-)Leseerlebnis mit Held*innen, die eben nicht üblichen Normen entsprechen. Damit hat sie das Zeug zum diversen Klassiker für Vor-Schüler*innen.

Eigentlich ist kein Klischee mädchenhafter als Prinzessinnen und ich habe als Kind auch Geschichten über solche Figuren geliebt, vielleicht, weil sie da wenigsten in die Nähe der Selbstbestimmung gekommen sind. Orso nimmt dieses Klischee nun und gibt ihm in jeder Geschichte einen neuen Dreh, so wird z.B. auch die „Jungfrau in Nöten“ umgedreht. Alle acht Geschichten spielen mit Rollenbildern und Klischees und zeigen Alternativen zu klassischen Mädchen-Zuschreibungen auf. Sollten Prinzessinnen nicht brav und ordentlich sein und still beim Tee sitzen? Nein, nicht, wenn man der Königin glaubt. Im Vordergrund stehen tolle Mädchenfiguren, aber in einer Geschichte darf auch ein Junge die Hauptfigur sein, der ein Kleid anziehen möchte. Genial, dass die Mutter das einfach total unkompliziert besorgt, und seine Freunde werden für ihr Auslachen schnell eines besseren belehrt. Hier schwingt auch das Transthema mit und Autorin Orso und Illustratorin Stéffie Becker achten bei den Bildern auf die Repräsentation von dunkelhäutigen Prinzessinnen. In dieser Form kann mein demokratisches Herz sogar mit der Monarchie mitgehen.

Als Zielgruppe ist ab 5 angegeben, daher setzen die Geschichten jetzt nicht auf atemberaubende Spannund, trotzdem haben sie meinen 7,5jährigen Sohn und mich richtig gut unterhalten. Geübte Erstleser*innen können die Geschichten schon selbst lesen, erst recht, da sie recht kurz sind. Zudem punktet die Autorin mit ganz viel Sprachwitz, z.B. heißt die Hundeprinzessin „Hundegunde“, Reim und sprechenden Name packt die Autorin in eine scheinbar antiquierte Vornamenform. So etwas begeistert mich.

Wir haben die Geschichten wirklich sehr genossen. Divers und intersektionell, ein tolles Kinderbuch zum Vorlesen und für geübtere Erstleser*innen.

Bewertung vom 15.11.2019
Unser Mond
Wagner, Jennifer

Unser Mond


ausgezeichnet

Für Mondsüchtige und Wissenschaftsbegeisterte

Mein Sohn (knapp 8) ist Weltraum begeistert, was durch den 50. Jahrestag der Mondlandung nochmal verstärkt wurde, so dass er sogar auf die maßstabsgetreue LEGO-Apollo 5 gespart hat. Das bedeutet auch, wir haben schon einiges an (Kinder-)Sachbüchern gelesen und Dokus zu diesem Thema gesehen haben. Trotzdem gefällt uns „Unser Mond - Eine kosmische Wissensreise“ ganz besonders gut. Bei jeder Zeile spürten wir die wissenschaftliche Genauigkeit einerseits und die Begeisterung für das Thema andererseits. Die Erklärungen sind so prägnant wie exakt, so kindgerecht wie spannend. Ich gebe zu, das hört sich vielleicht irgendwie trocken an. Aber das Buch hat wirklich etwas ganz zauberhaft Wissenschaftliches. Ich habe lange darüber gegrübelt, wie ich es besser beschreiben könnte, aber vielleicht spürt man einfach den Geist, dass das Buch in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) entstanden ist.
Selbst bei so etwas „Banalem“ wie der Erdrotation fügt die Autorin Jennifer Wagner noch ein Detail hinzu, das ich bislang in Kinderbüchern noch nicht gefunden habe: Das Kippen der Mondsichel, wenn man nach Süden reist.

Aktuell, international und mit Frauen
„Unser Mond“ ist, wie im Klappentext angegeben, auf ganz aktuellem Stand und bezieht Forschungsergebnisse aus 2019 mit ein. Man könnte vielleicht meinen, dass dies bei einem Kinderbuch zu vernachlässigen sei. Aber dies zeigt auch dies die Liebe zum Detail und gibt eine Ahnung davon, warum Aktualität in der Wissenschaft wichtig ist. So wird auch ein Ausblick auf aktuelle Forschungen gegeben, wie die Entwicklung eines „Moon Village“, in dem Wissenschaftler auf dem Mond leben können, oder der Anbau von Nahrungsmitteln in der Schwerelosigkeit. Es erkennt auch die Leistungen anderer Forschungsnationen jenseits der USA und Russland an, und zeigt, dass gerade China und Indien in den letzten Jahren wichtige Entdeckungen bei der Erforschung des Weltalls erzielt haben. Dass bislang nur Männer auf dem Mond waren, ist leider ein historischer Fakt, aber „Unser Mond“ bezieht trotzdem ein paar Frauen im Buch mit ein.

Selber forschen!
Das Highlight für meinen Sohn war die vordere Innenseite, auf der jene 12 Menschen mit einem Steckbrief geehrt wurden, die den Mond bislang betreten haben. Ein 13ter Steckbrief bleibt für die*den Leser*in dieses Buches frei. Die Fragen beim Mondrätsel waren toll formuliert und haben Spaß gemacht, auch, wenn sie „mein“ Mondfan nach der Lektüre problemlos beantworten konnte. Zwei, drei Details hätte ich aber vorher auch nicht aktiv beantworten können. Die vier Experimente ganz zum Schluss des Buches müssen wir noch nachholen, wir sind aber schon ganz gespannt darauf. Besonders gerne will mein Sohn endlich mal die Mondkrater mit Mehl und Kakao und unterschiedlichen kollidierenden Objekten nachstellen. Aber das machen wir vielleicht lieber mal im Garten.

Fazit
Tolles Sachbuch für Kinder, dass Lust auf Wissenschaft macht. Wir sind begeistert und vergeben 5 Raketen auf dem Weg zum Mond.

Bewertung vom 12.11.2019
Eisbären
Raiß, Jochen

Eisbären


ausgezeichnet

Wie absurd ist der Mensch? Flohmarktfunde: Menschen in Eisbärkostümen, gesichtet angesichts der Klimakrise.

Der Eisbär und die drohende Klimakatastrophe

Die Verknüpfung von Eisbär mit der Klimakrise ist bei mir so stark, dass ich dieses Buch unbedingt lesen wollte. In den Flohmarktfunden von Jochen Raiß steckt so viel Absurdität: Schwarzweißfotografien, auf denen Menschen im Eisbärkostüm zu sehen sind. Diese Eisbären sind ein Accessoire bei Urlaubsfotos am Meer und in den Bergen oder auf Familienfeiern.

Dass der Eisbär zum Sinnbild für die Klimakrise geworden ist, ist leider nicht unproblematisch. Sein Lebensraum scheint viel zu weit von uns weg, als dass wir sehen könnten, wie stark die Klimakrise uns selbst betrifft. Dabei ist das doch genau der Hauptfehler in der Kommunikation über die Klimakrise, dass die lokale Klimawandelfolgen bislang nicht genug deutlich werden. (Erst recht, wenn man dazu noch gegen gezielte Missinformation von Seiten der Industrie wie im Fall von ExxonMobil vorgehen muss.) Für dieses Kommunikationsdefizit, das dazu beiträgt, dass wir den Kampf gegen die drohende Katastrophe verlieren könnten, ist der Eisbär aber ein nicht minder treffliches Symbol. Norbert Thoma, der Jochen Raiß’ Buch mit einem prägnanten Text einführt, schreibt in seinem ersten Satz: „Es heißt, der Eisbär sei in Zeiten des Klimawandels das beliebteste Tier der Erde.“ Auch hier wieder die Absurdität. Muss etwas erst bedroht sein, bevor wir es zu schätzen wissen? Wie absurd, dass Raiß überhaupt so viele Eisbären-Fotografien finden konnte.

Auf den Bilder in Raiß’ Buch ist der Eisbär immer außerhalb seines natürlichen Habitats. Fast, als wäre dieses schon komplett zerstört. Schon längst treibt der Hunger Eisbären in die Städte der Menschen, Hunger aufgrund des menschengemachten Klimawandels. So niedlich wie die Kostüme auf den Fotografien ist der Eisbär dort nicht. Warum gehe ich eigentlich von einem männlichen Eisbären aus? Und ich schreibe die ganze Zeit von „der Eisbär“, aber natürlich ist es nie der Eisbär. Es sind immer Menschen, die sich in ein Kostüm gesteckt haben. Wie absurd ist der Mensch, wie absurd, wenn wir durch die Menschheit aussterben.

Mein Lieblingsbild in diesem feinen Bildband ist ein Blick von oben auf zwei Parkbänke. Der Eisbär steht etwas verloren davor. Die Frau auf der Bank interessiert sich nicht für ihn. Der Eisbär steht dort, wie bestellt und nicht abgeholt. Ein weiteres Bild: Keck läuft der Eisbär neben einem Mann her, der voller Selbstbewusstsein mit einem (Whiskey?)-Glas in der Hand ebenfalls läuft. Ein Mann von Welt. Stolz steht die Familie neben dem neuen Automobil: Wenn das Bild extra gestellt worden wäre neben dieser CO2-Schleuder, wäre es schon zu überprägnant. Es geht ums Posen, um die Selbstdarstellung, jedenfalls bei uns Menschen. Der Eisbär auf Skiern, Kuscheln mit dem Eisbären. Der Eisbär imitiert die Körperhaltung seiner Kundin, stützt die Hand ebenso auf wie sie. Die Unterschiede in den Kostümen sind auffällig und auf jedem Bild zeigt sich, wie viel Aufwand Menschen für solch ein Kostüm treiben. Wie liebevoll wir uns um etwas so Banales kümmern. Vielleicht besteht Hoffnung, wenn wir uns so liebevoll für unsere Mitmenschen gegen so etwas Lebensbedrohliches wie die Klimakrise kümmern.

Fazit
Ein interessantes Buch mit Fotografien vom Flohmarkt, das zu tiefen Betrachtungen einlädt. Mir hat es sehr gut gefallen und ich vergebe 5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 04.11.2019
Das flüssige Land
Edelbauer, Raphaela

Das flüssige Land


ausgezeichnet

Absurdität und Lethargie angesichts der drohenden Katastrophe. Zeit und Physik lösen sich in Edelbauers faszinierendem Roman auf.

Unschärfe als Prinzip

„Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer hat mich mit jeder Zeile fasziniert. Einerseits passiert nichts, andererseits aber so viel: Menschen sterben, alten Verbrechen werden vertuscht, die Heimat bricht auseinander.
Das Buch präsentiert uns als Leser*in nicht offensichtlich, wozu wir hiermit gebeten sind. Meist nervt mich das in Büchern tierisch, hier bekam das Mäandernde eine eigene Qualität, weil ich mich so mit der Protagonistin ganz auf das Verwirrspiel Groß-Einland einlassen konnte.
Ich möchte nicht zu viel vom Plot verraten, nur so viel: Die Ich-Erzählerin Ruth verliert beide Eltern bei einem Autounfall und macht sich auf die Suche nach Groß-Einland, weil die beiden dort begraben werden wollten. Und dieser Ort folgt seinen ganz eigenen Gesetzen, aber zu allererst kämpft er gegen sein Verschwinden angesichts eines monströsen Loches.

Lethargie, Absurdität und Grauen
Die Lethargie und die Absurditäten angesichts der drohenden Katastrophe ist das, was die Autorin so meisterlich schildert. Anfangs klingt dies alles nur an, aber dann werden die Bezüge zur drohenden Klimakrise, der Vernichtung der Umwelt, unaufgearbeiteter Vergangenheit, Antisemitismus, Rassismus, Verschwörungstheorien und der Sehnsucht nach einfachen politischen Lösungen immer deutlicher. Und dann das Grauen.
„Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.“
„Das flüssige Land“ folgt einer kafkaesken Tradition, in der die Absurdität die Norm ist. Gleichzeitig bedient sich Edelbauch beim Fantasy-Genre, oder vielleicht doch bei Science Fiction, weil sie für ihre Welt Erklärungen in der Physiktheorie findet. Das macht sie so geschickt, dass ich mich zwischendrin schon fragte, ob das Doppelspaltexeriment nun nur ihre Erfindung sei oder doch eine physikalische Realität. (Es ist eine, falls Ihr Euch das auch fragen solltet.) Selbst die Blockuniversumstheorie, über die Protagonistin Ruth ihre Habilitation verfasst, ist eine reale physikalische Theorie.
„‚Es handelt sich dabei um eine alternative Theorie über die Zeit. Stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn die Zeit irreal ist, wie wir heute wissen, dann sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden. Ähnlich einem dreidimensionalen Block lassen sich die vermeintlich aufeinanderfolgenden Momente lesen als nahe aneinanderliegend. Das heißt, die Zeit wird eher zu einer Raumrichtung als zu etwas, das die Dinge je verändern würde. Es ist kompliziert.’“
Die Zeit löst sich auf, eben war es noch 2009, plötzlich 2012. Spielt es eine Rolle? Wir sind hier ebenso verloren wie dort.

Das „Drum herum“
Ich kann verstehen, dass manche Leser*innen dieses Buch vielleicht abgrundtief hassen könnten. Edelbauer gibt uns wenig zum Festhalten. Eigentlich halten wir uns an einem Nichts fest, dem Loch, dass sich unter Groß-Einland hindurch frisst. Ich musste an eine Kindergeschichte der beiden philosophischen Schweine Piggeldy und Frederick denken, die u.a. in „Die Sendung mit der Maus“ zu sehen sind. Da heißt es:
„‚Es wird nie ein Loch geben ohne was drum herum‘, sagte Frederick.
‚Aha‘, freute sich Piggeldy, ‚ein Loch ist nur deshalb ein Loch, weil immer was drum herum ist.‘“
Ich habe Edelbauers Roman dafür geliebt, dass sie dieses „Drum herum“ so genial in ihrem klugen und sprachlich toll geschriebenen Roman packt. Und dazu diese treffenden pointierten Beobachtungen wie zu Beginn von Ruths Abenteuer:
„Pensionistengruppen, die ausgerüstet sind, als wollten sie den K2 besteigen, pendeln den ganzen Tag vom einen Eiscafé ins nächste.“

Fazit
Lesen!!!! Wenn man als Leser*in gerne mal ausgetretene Pfade verlässt. 5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 30.10.2019
Der Report der Magd
Atwood, Margaret

Der Report der Magd


ausgezeichnet

Atwoods Buch von 1985 ist zurecht ein Klassiker – und leider aktueller den je!

„Es gibt darin nichts, was es nicht schon gibt.“ Dieses Zitat von Margaret Atwood habe ich irgendwann über ihren Roman „Der Report der Magd“ gelesen. Alle Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen hätten also eine reale, historische Entsprechung. Dieses reale Grauen hat mich jahrelang, ja sogar fast zwei Jahrzehnte lang, davon abgehalten, dieses Buch zu lesen. Leider, denn Atwood ist wirklich genial, und sie gilt zurecht als Klassiker unter den Dystopien UND als Klassiker feministischer Literatur. Das beides oftmals vermischt wird, ist ein Problem, dem Autorinnen immer noch ausgesetzt werden.

Nicht fraternisieren, „sororisieren“

Durch meine lange Weigerung wurde ein sehr merkwürdiger Effekt zusätzlich verstärkt: Nachdem ich so lange das große Drohgebärde erwartet habe, dachte ich mir beim Lesen immer wieder mal: Sooo schlimm ist es auch nicht. Aber das ist das Perfide an so einem System. Solange die Menschen nicht permanent Folter und Gewalt ausgesetzt sind, ist es ja nie ganz schlimm. Darin fügt man sich ein, auch als Leser*in anscheinend, und erst recht als Protagonistin Desfred. Mir lief es kalt über den Rücken, wenn sie den Vollzug der Zeremonie schildert, mit der „ihr“ Kommandant ein Kind mit ihr zeugen soll. Und Desfred betont, dass sie ja zugestimmt habe. Ein Consent, der kein Content ist.
Atwoods geniale Struktur erzeugt permanent einen weiteren Effekt: Das könnte ich sein. Also denke ich mir gemeinsam mit der Protagonistin: Bis hierhin lief es noch ganz gut, vielleicht könnte ich meine Tochter ja wiedersehen, und so füge ich mich ein in die Unterdrückung. Attwood orchestriert diese Unterdrückung, zu der Männer, wie Frauen beitragen. Unterdrückung, die letztendlich auch die Männer trifft. Denn wie jeder guter feministischer Ansatz will auch Atwood die Männer ebenfalls vom Patriarchat befreien.
Was Atwood zudem meisterhaft gestaltet, ist die Spannung. Ich fiebere mit Desfred mit, ich will nicht, dass sie untergeht.
„Fraternisieren heißt, sich wie ein Bruder verhalten. Das hat Luke mir gesagt. Er sagte, es gäbe kein entsprechendes Wort, das sich wie eine Schwester verhalten bedeutet. Sororisieren müsste es heißen, sagte er.“

Geniales Worldbuilding

Genial natürlich auch das Worldbuilding, das den totalitären Staat Gilead ganz plastisch vor Augen auferstehen lässt. Das gilt zum einen für die Strukturen und die Besonderheiten, die Atwood zusammenbaut. Das gilt zum anderen aber auch für die Räume und die konkrete Umgebung, in der sich Desfred bewegt, am eindringlichsten natürlich die Mäntel und Hauben der Mägde. Insgesamt schildert Atwood dies alles so plastisch, dass ich kaum einen Bruch zu meiner Vorstellung wahrnehmen konnte, als ich nun die ersten Folge der Serienadaption gesehen habe.

Aktualität

Obwohl der „Der Report der Magd“ bereits 34 Jahre alt ist, bleibt er aktueller denn je, denn Fundamentalisten aller Art und Religionen sind leider weltweit auf dem Vormarsch. Und um die Aktualität zu erkennen, muss man leider nicht einmal in andere Länder gehen. Dazu muss man mal nur blau-braune Politiker von „unseren Frauen“ reden hören oder den Diskurs um die angebliche Abtreibungs-„Werbung“ im Rahmen von § 219a. Oder die Femizide in Deutschland: Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex)-Partnerin umzubringen. Die Presse benutzt dafür immer noch häufig absolut unpassende und verharmlosende Begriffe wie „Liebes- oder Familiendrama“.

Fazit

Dieses Buch muss man, und frau erst recht, gelesen haben, besonders, weil reale Vorbilder hat. 5 Sterne! Atwoods Buch ist zurecht ein Klassiker!

Bewertung vom 30.10.2019
Hundert
Faller, Heike

Hundert


ausgezeichnet

Das ganze Leben in einem Buch!

Als wir dieses Buch in die Hand genommen haben, hat es uns gleich mit einem Zauber belegt. Kinder und Erwachsene können gleichermaßen etwas übers Leben und das Älterwerden lernen. Dabei ist es wunderschön und die Bilder mit klaren Formen machen eine eigene Welt auf, in der es viel zu entdecken gibt. „Hundert“ war 2019 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und das völlig zu recht, wie wir finden.

Mein 7,5jähriger Sohn meint

Am besten gefällt mir die Form, wie das Buch erzählt wird. Die Texte passen super zu den Bildern. Und wenn man den Text liest, versteht man, was die Bilder meinen. Ich finde die Illustrationen sehr schön und es gibt viel zu entdecken.
Ich lerne, was man im Leben noch so machen wird. Manches davon habe ich jetzt schon gelernt, das ist ja bei jedem*r ein Bisschen anders, aber die Grundform des Buches stimmt. Mir hat auch sehr gut gefallen, dass wir so toll über das Buch reden konnten. Solche Bücher hat man nicht so oft, die sooo schön erzählt sind.

Einladung zum Reden

Dieses Buch lädt dazu ein, dass man gemeinsam diskutiert und redet. Was soll das bedeuten? Was erkennst du noch darin? Und so bekommen Kinder und Erwachsene gleichsam ein Gefühl für das Älterwerden. Manches hat man quasi schon „abgehakt“, anderes kommt noch auf uns zu. Und dann tun sich neue Fragen auf, z.B. ob man so sein muss wie die anderen, und mein Sohn hat im Brustton der Überzeugung geantwortet: Nicht immer! Das Buch erzählt, dass es einen Ort namens Auschwitz gibt. Traurig und fröhlich, bitter und lebensbejahend wechseln sich ab. Die Aussagen finden sich oft in einem genialen Zwiegespräch zwischen dem Text von Heike Faller und den Bildern von Valerio Vidali. Und manchmal bleiben einfach auch nur die Fragen stehen.
Das Buch zeigt einiges, wofür man Jahrzehnte benötigt, um es zu begreifen. Manches werden wir wohl tatsächlich erst erfahren, wenn wir in das entsprechende Alter kommen werden.

Gender-Fluid

Dazu hat mir besonders gut gefallen, dass das literarische „Du“ in einem Fluid zwischen den Gendern wechselt. Das Leben und das Älterwerden sollte ja auch vom Geschlecht unabhängig sein. Und so werden alle angesprochen, erst recht, weil gelegentlich auch die Hautfarbe wechselt.

Fazit

Als wir am Ende des Buchs angekommen sind, wussten wir beide, dass wir noch ganz viel mehr darin entdecken können. Daher vergeben wir eine ganz klare Lese- und Kaufempfehlung. Das Buch eignet sich auch als tolles Geschenk für Erwachsene (z.B. zum 18ten Geburtstag). Und natürlich vergeben wir daher 5 begeisterte Sterne.

Bewertung vom 24.10.2019
Die Einsamkeit der Seevögel
Gabrielsen, Gøhril

Die Einsamkeit der Seevögel


ausgezeichnet

Sie ist bis ans Ende der Welt geflohen – selbst in dieser Einöde verfolgt sie toxische Männlichkeit.

Atemberaubend, verstörend, intensiv.

Wer bei „Die Einsamkeit der Seevögel“ eine pittoreske Naturmediation erwartet, ein Loblied auf die Symbiose von Mensch und Natur, ist hier falsch. Auch, wenn die Naturbeschreibungen der Autorin Gøhril Gabrielen absolut eindrucksvoll sind, ihre Sprache poetisch ist und sich wunderschön liest. Das Buch ist für mich atemberaubender als mancher Thriller, manchmal hat es mir schier die Luft abgeschnürt. Und gerade das Überraschende des Buches hat es für mich so eindrucksvoll gemacht.
Die tiefe Bedeutung der Geschichte ist leider ein Spoiler und auch der Grund, warum ich dringend eine Content Note voranstellen muss. Erst recht, weil sich dieses Thema zunächst fast unmerklich einschleicht, bis man als Leser*in nach und nach erst das ganze Ausmaß begreift.
Wer solch einer Content Note nicht bedarf und nicht gespoilert werden möchte, sollte nun nicht weiterlesen.


CN / Content Note / Triggerwarnung: missbräuchliche, gewalttätige Beziehung, sexuelle Gewalt, PTBS

Eine Wissenschaftlerin begibt sich in die Einsamkeit an den äußersten Zipfel von Norwegen, um das Verhalten der Seevögel zu untersuchen, denn diese werden durch die Klimakrise immer weniger. Schon durch diesen Fakt wird klar, dass selbst dieser abgeschiedene Winkel nicht unabhängig ist von dem Treiben der Menschen. Die Ich-Erzählerin ist es erst recht nicht.
Sie ist bis ans Ende der Welt geflohen – und selbst in dieser Einöde verfolgt sie toxische Männlichkeit. Es überrascht mich zwar nicht, schockiert mich aber dennoch immer wieder, wenn wie hier deutlich wird, wie normal diese Erfahrung für viele Frauen ist. Die Autorin Gøhril Gabrielen nutzt diese Erfahrungen nicht einfach, um den Plot spannender zu machen oder der Protagonistin eine simple „Backstory-Wound“ zu verpassen, was leider in Literatur und Film noch viel zu oft passiert. Die Autorin beschreibt eine Erfahrung, die das Leben von Frauen und als Frauen gesehenen leider immer noch viel zu häufig ausmacht. Die Protagonistin, stellvertretend für diese gesamte Grupe, wird zu einer gefährdeten Art wie Dreizehenmöwe, Eissturmvogel oder Sturmmöwe. Und so liest sich das dann im Buch:
„Darin steht nur ein Satz. Ein kurzer. Mir wird bewusst, dass ich ihn schon viele Male zuvor gelesen und gehört habe, wenn auch in anderen Variationen: Glaub nicht, dass du mir je entkommst.“
Wie die Klimakrise verseucht auch toxische Männlichkeit selbst jenen entrückten Ort. Wenn man sich den Hass gegen Greta Thunberg anhört, merkt man, wie sehr beide immer zusammenhängen. Der Kampf, der der Ich-Erzählerin aufgezwungen wurde, ist nicht der „Men versus Nature“.
Die Ich-Erzählerin gibt sich ab und an sexuellen Tagträumen hin, die für mich absolut stimmig in die Erzählung passen. Aber ich kann mir vorstellen, dass diese für einige Leser*innen verstörend wirken können. Ebenso wie der Umgang der Protagonistin mit Mutterschaft, was sich viel aus ihrem Trauma erklärt. Die Autorin umkreist damit ebenso die Frage, warum wir in unserer Gesellschaft anderer Erwartungen haben als an Väter. Das Ende kann man als unbefriedigend empfinden, aber manches Trauma klärt sich vermutlich nie.

Fazit
„Die Einsamkeit der Seevögel“ finde ich ein sehr wichtiges Buch, poetisch und intensiv, aber auch atemberaubend und verstörend. Darum auf alle Fälle die Content Note beachten. Das Buch ist sicherlich nicht für jede*n etwas, aber ich möchte es wirklich empfehlen. 5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 24.10.2019
Vorsicht wild!
Grusnick, Sebastian;Möller, Thomas

Vorsicht wild!


sehr gut

In jedem von uns steckt ein Mini-Löwe. Freche Abenteuergeschichte im Kinderalltag angesiedelt.

Oh, warum hat sich in meiner Kindheit nie ein sprechender Minilöwe in mein Zimmer verirrt? „Vorsicht wild! Löwenmut tut gut“ ist eine spannende Abenteuergeschichte, die mir und meinem 7,5-jährigen Sohn viel Spaß gemacht hat.
Das Autorenduo Sebastian Grusnick und Thomas Möller verknüpfet bei „Vorsicht wild!“ Kinderalltag mit Abenteuer. Diese Kombi gefällt mir immer recht gut, weil die jungen Leser*innen so viel Identifikationspotential bekommen. Wegen des Jobs seines Vaters ist Max gerade frisch umgezogen, der Start in der neuen Schule geht daneben und erstes Mobbing findet statt. Und dann bekommt Max zum 10. Geburtstag statt des gewünschten Vierbeiners auch noch einen Roboterhund. Aber dann steht in seinem Kinderzimmer plötzlich eine Kiste und aus der befreit er den sprechenden Minilöwen Leo.
Und Leo ist echt der Knaller. Was haben wir gelacht, als er fragt, ob er Gazelle mit Schlagsahne haben könnte. Und sein unbändiger Hunger bringen ihn und Max in noch in einige missliche Lagen. Die Kapitel haben eine super Länge zum abendlichen Vorlesen und auch für die jungen Leser*innen (geübtere ab der 2. Klasse etwa). Richtig beeindruckt haben uns die witzigen, farbigen Illustrationen von Nikolai Renger, mit denen Max scheinbar seine Erlebnisse selbst aufs Papier bringt. Und dass Max in Greta eine taffe Freundin mit dunkler Haut findet, die nicht nur Staffage ist, gibt einen extra Diversitypunkt.
Wir hatten wirklich Spaß und das Autorenduo hat uns ein paar schöne Vorlesestunden beschwert. Mein Sohn und ich haben lange überlegt, warum wir keine 5 Sterne geben, sondern nur 4. Mein Sohn meinte, dass er das Buch sicherlich nochmal selber lesen wird, aber halt nicht noch „tausend Mal“. Ich fand die Geschichte zwar witzig, aber halt nicht ganz rund. Wenn Leo am Anfang in der Schule die Süßigkeiten auffuttert, die Max zum Verteilen mitgebracht hat, verdächtigen seine Mitschüler*innen alle Max und erwarten Nachschub. Und später wird das im Buch dann gar nicht mehr aufgegriffen. Und warum werden gleich mehrfach Gretas Haare thematisiert? Dass das Buch versöhnlich endet, gefällt mir für die Zielgruppe zwar ganz gut. Ob sich Yannick tatsächlich geändert hat, bleibt mir zu offen, und das könnte für Mobbingopfer eine schmerzhaften Beigeschmack haben. Und dann finde ich zwar gut, dass Max’ Vater seine Haltung in Bezug auf die Familie überdenkt. Generell wird hier aber das klassische Familienbild, das für viele immer noch Realität ist, als „normal“ hingestellt. Die Mutter, die offensichtlich halbtags arbeitet, darf diese Rollenaufteilung gar nicht reflektieren oder kommentieren. Das hätte ich mir moderner gewünscht. Erst recht, weil die Autoren bei den Kindern schon einige Rollenzuschreibungen aufbrechen und da eben NICHT in die Gender-Falle treten.

Fazit
Trotz unseres Gemeckers: Eine spannende Abenteuergeschichte, für die wir 4 Sterne vergeben. (Ich war bei 3 bis 3,5 und das Kind bei guten 4 und wollte bei den 3en so gar nicht mitgehen. Also einigen wir uns in der Mitte.)

Bewertung vom 11.10.2019
Die Sprache des Donald Trump
Viennot, Bérengère

Die Sprache des Donald Trump


ausgezeichnet

Die Fratze der Kommunikation

2016, vor der US-Wahl, haben mir einige Menschen erzählt, dass ein Präsident Donald Trump „schon nicht so schlimm werden wird“. Drei Jahre später ist nun klar, wie schlimm es tatsächlich geworden ist. Und neben den realen Auswirkungen seiner Politik – Klimakatastrophe, internationale Destabilisierung, usw. – steht die Welt auch vor dem Problem, wie sehr die Gepflogen in politischen Kommunikation durch ihn erodiert sind.
Bérengère Viennot ist eine Expertin der Kommunikation, denn sie übersetzt seit mehr als 20 Jahren politische Reden und Texte ins Französische. Ihr Buch „Die Sprache des Donald Trump“ sollten nicht nur Journalist*innen und Politiker*innen lesen, sondern alle Bürger*innen, damit wir uns gegen diese Form der Manipulation wappnen können, die Rassismus, Misogynie, Homophobie, ja Menschenhass im Allgemeinen, im großen Stil aufs politische Parket gebracht hat. „I know the best words“, hat Trump einmal getwittert. Auch nach vier Jahren Trump-Lektüre (wenn man die Vorwahlen mitrechnet) ist Viennots Analyse erhellend und treffend. Und obwohl ich viele von Viennots Beispiele in der Presse und auf Twitter quasi fast in Echtzeit miterlebt habe, schockiert mich die pure Anzahl seiner verbalen Gewalt noch einmal stärker, wenn sie so klug wie von Viennot zusammengetragen wird.

Schock und Überforderung

Zu Anfang ihres Buches schildert Viennot jenes Schockgefühl nach Trumps Wahl zum Präsidenten, bei dem sich viele Leser*innen gleich gut abgeholt und verbunden fühlen werden. Von jeher fand ich es völlig unverständlich, warum ihm auch drei Jahre danach noch so viele Kommentatoren auf dem Leim gehen, und beispielsweise bloße Behauptungen von ihm so in Überschriften verpacken, dass sie als Fakten durchgehen könnten. „Die Sprache des Donald Trump“ erklärt das damit, dass auch Übersetzende und Journalist*innen mit Trumps Sprache überfordert waren – und leider wohl noch immer sind.
Viennots Beispiel zum Einstieg: Wenn Trump die Ehefrau des französischen Staatspräsidenten mit den Worten „You’re in such a good shape“ lässt sich das eben nicht nur als simples Kompliment übersetzen. Der schlichte Satz ist vielmehr ein Affront, der sich über die Beziehung Macron mit seiner älteren Ehefrau Brigitte lustig macht und der vor Frauenhass und Sexismus trieft.

Die Fratze

Viennot ist akribisch und bildet aus der Vielzahl von Trumps sprachlichen Äußerungen in ihrem Buch ein Amalgam, das die Fratze Trump enthüllt. Ich möchte dies nicht im einzelnen auflisten, sondern lege wirklich jede*r die Lektüre ans Herz. Mit dem Cover ist dem Verlag zusätzlich ein grandioses Bild für das Phänomen Trump gelungen. In nur fünf Formen ist Donald Trump erkennbar und der Kreis für den Mund erinnert an die Öffnung auf der Gegenseite, das, was man pietätvoll gerne als verlängerten Rücken bezeichnet. Dort heraus, kommt Trumps Sprache, oder auch die verbale Diarrhö, der Hass, der einem schon auf dem Cover entgegen schreit. Mit dieser Fratze ist die humanistischen Welt konfrontiert, die gegen Ungerechtigkeit, Klimakrise und Rassismus kämpft. Und für diesen Kampf, muss man die Sprache der Gegenseite kennen.
Vor kurzem hat Trump geschrieben: „in meiner großartigen und unvergleichlichen Weisheit“, solche Formulierungen kennt man von Diktatoren. Die Kurden hätten die Hilfe der USA nicht unbedingt verdient, denn wo seien sie in der Normandie gewesen?, hat er nur kurz darauf geschrieben. Die Rufe nach einem Impeachment Trumps werden lauter, der Ausgang ist allerdings ungewiss und auch im Erfolgsfall sollte man Viennots Buch trotzdem lesen. Denn wie schreibt sie selbst zum Ende ihres Buches:
„Wir sollten Donald Trump genau zuhören, auch wenn wir stark versucht sind, einem moralischen und intellektuellen Überlegenheitsgefühl nachzugeben, das uns daran hindern will, ihn erst zu nehmen. (…) nicht zuletzt sollten wir Donald Trump zuhören, weil er ansteckend wirkt“.