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Benutzername: 
MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 210 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2023
Birobidschan
Dotan-Dreyfus, Tomer

Birobidschan


ausgezeichnet

Eine eigene Welt, fern ab, und dennoch nah. Erzähl- und Fabulierkunst vom Feinsten!

Birobidschan, ein jüdisch-sozialistisches Schtetl in Sibirien an der Grenze zu China. Die Stadt in der Jüdisch Autonomen Oblast wurde vor ca. 100 Jahren gegründet, von Stalin zu Stadt erhoben, ein Versuch, wie es damals hieß.
Scheinbar von der Zeit vergessen birgt sie einen ganz eigenen Kosmos aus ersten Einwohnern, Zugezogenen oder Vertriebenen. Die geschichtlichen Hintergründe und historischen Begebenheit lässt der Autor gekonnt außen vor. Es dreht sich vielmehr um die kleine Welt, um ein paar Menschen, die dieses kleine Universum auf ihre eigene Art und Weise mit Leben füllen. Und so setzt der Autor gekonnt das Experiment in seiner Art fort, gestaltet aus der Vergangenheit die Zukunft (die Realität war alles andere als schön, wer Interesse hat, das Netz bietet genug Infos hierfür).
Es fühlt sich an, als wäre die Stadt (heute ca. 75000 Einwohner) aus der Zeit gefallen, und befindet sich in einer märchenhaften Blase. Aber die Geister ruhen nicht, treiben um, zeigen sich in zwei realen, mit Geheimnissen umgebenden Männern, die plötzlich erscheinen. Sie geben nur an, sich für Kragenbären zu interessieren, welche es wohl nur in China gibt. Oder ein kleines Mädchen, stumm, welches auftaucht wie ein Geist, und Menschen Dinge tun lässt, aus Verantwortung geboren, entgegen jeder Räson.
Rachel und Alex kennen sich seit Kindheitstagen. Sind zusammen, irgendwie, doch die Blick über den Tellerrand gibt es noch, wenn Rachel mit Joel, Alex' Bruder, …
Was bedeuted Liebe? Was bedeuted Zeit? Wenn doch eh alles vergänglich ist.
Wölfe tauchen auf an Dmitrijs Horizont, weshalb er auch ein Gewehr besitzt, obwohl es weit und breit keine Wölfe gibt. Aber sie heulen. Metapherreich.
Der liebenswerte Boris, ein Urgestein in der Stadt, wird tot aufgefunden. Von Bären zerfetzt oder durch einen Schuss getötet?
Erinnerung fliegen durch die Zeit der Erzählung, mal im hier, mal im damals. Die Sehnsucht nach Flucht, vor der Stadt, vor sich selbst. Vor den eigenen Depressionen wie sie Greogory hat, und sich mit Sascha auf einen Road-Trip begibt.
Die Ereignisse verschwimmen rund um die Protagonist:Innen, aber ihre Leben und Handlungen bleiben etwas Greifbares in dieser sibirischen Oblast, man möchte noch mehr von ihnen erfahren, Teil ihrer Welt werden, in welcher sich Realität und Mystik die Hand geben.
Es mag alles ein wenig verwirrend klingen, aber die große erzählerische Leistung des Autors besteht darin, stets den Überblick zu haben und seine Leser:Innen gekonnt an der Hand durch den Roman zu führen. Er erzählt uns von einer anderen, unbekannten Welt, welche voll ist mit Menschlichkeit in all ihren Facetten. Die historischen Hintergründe benötigt es dazu nicht. Esprit und eine Portion Humor runden diesen herrlichen Roman ab, meines Erachtens völlig zurecht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2023.
Ganz große Leseempfehlung für diesen wahren literarischen Genuss.

Bewertung vom 04.10.2023
Südfall
Knöppler, Florian

Südfall


sehr gut

Ein ruhiger, gefühlvoller Roman über schicksalhafte Begegnungen im Jahr 1944

1944 stürzt der britische Soldat Dave über dem Nordfriesischen Wattenmeer ab. Als einziger Überlebender findet er sich von Schlick und Wasser, mitten im Dunkeln, wieder. Das Rauschen scheint näher zu kommen, die Lage von Minute zu Minute aussichtsloser. Er macht sich auf das Schlimmste gefasst, als sich der Nebel lichtet, die Sicht besser wird, und plötzlich eine Frauenstimme ertönt.
Im richtigen Leben ist er Tierarzt, und spricht deutsch. Rettung, so seine Hoffnung. Er hat Glück, trifft auf gute Menschen, und so kann er sich von der Hallig Südfall aus nach Norden durchschlagen, um von Dänemark aus zurück in seine Heimat zu kommen. Ob es gelingt?
Dies ist soweit der grobe Rahmen dieses einfühlsamen Romans. In Wahrheit geht es aber um die Begegnungen, welche Dave auf seiner kleinen Odyssee macht. Die Erzählungen rund um seine Retter:Innen ist der eigentliche Kern dieses Buches.
Sehr detailreich, in einer ruhigen und besonnenen Art versteht es Knöppler, seine handelnden Personen zu zeichnen und uns näher zu bringen.
Anna, die ihm hilft sich zu verstecken, sehnt sich schmerzlich nach ihrem Mann, der an der Front kämpfen muss. Und dennoch erreichen sie Gedanken an eine mögliche Zukunft, was sie ohne ihren Mann später tun würde. Oder der junge Paul, der seinen Weg noch sucht, im Zwiespalt zwischen HJ und seinen eigenen Bedürfnissen. Auf der einen Seite erweckt die Propaganda in ihm eine gewisses Pflichtbewusstsein, auf der anderen Seite erwacht seine empfindsame Seite gegen die Gräuel des Krieges.
Die fünfzehnjährige Cecilie, mitten im Erwachen zu einer Frau, schüchtern mag man meinen, und dennoch aufgeschlossen genug, um ihren Wunsch, zu studieren, auf ihren Lippen trägt.
Letztendlich ist es auch der alte Simon, vom Krebs gezeichnet, den nur noch ein kleines Wunder von seinem letzten Gang, mit dem er sich schon abgefunden hat, retten kann, der sich nahtlos in den Reigen der guten Menschen einfügt..
Diese und andere Personen begegnet Dave, bekommt Hilfe in einer wirklich schlimmen Zeit.
Wie schon erwähnt, die Charaktere sind sehr fein stilisiert. Der ruhige Schreibstil bildet einen Gegenpol zu jener wirren Zeit, selbst die Hektik einer Flucht scheint zwischen den Zeilen ihre Bedeutung zu verlieren.
Manchmal allerdings kommt mir der Roman schon zu „soft“ daher. Die Menschen im kriegsgebeutelten Land scheinen mir manchmal zu unbekümmert, auch dürfte es ihnen an nicht Vielem fehlen. Insofern ist dieser genannte Gegenpol zum Krieg für mein (erstes) Befinden möglicherweise zu sanft gestaltet. Wie ein glatter See, der noch nie von einem Sturm gebeutelt wurde. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, spielt dieser Roman mit der Hoffnung, dass es das Gute in den Menschen gibt (oder geben kann).
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen berührenden Roman.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.09.2023
Der große Wunsch
Fatah, Sherko

Der große Wunsch


sehr gut

Die Suche eines Mannes nach seiner verschollenen Tochter im Islamischen Staat

Murad ist im im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien. Er streift umher, oft ohne Ziel, schlägt Nächte und Tage tot, nur um auf weitere Informationen zu warten.
Er begab sich von Deutschland aus in das Land seiner Väter. Ein Land, mit dem er abgeschlossen hatte und sich in Deutschland angekommen fühlte. Sein Leben war dennoch nicht erfüllt. Die Ehe zerbrochen, seine Tochter Naima von ihm entfernt. Die Distanz war groß, geographisch wie emotional. Naima hatte sich einem „Bruder“, einem Glaubenskrieger, angeschlossen, wahrscheinlich aus Liebe, und ging nach Syrien. Der Kontakt nach Hause riss komplett ab, und so machte sich Murad auf die Suche nach ihr. Mit Hilfe von Schleusern, die ihn nur spärlich mit Informationen (gegen viel Geld) versorgten, lässt er sich im kurdischen Grenzgebiet nieder. Das Warten wurde zur Qual, die aufgezwungene Untätigkeit zur Nervenprobe. Auf sich allein gestellt reflektierte Murad viel über sich selbst nach. Als die ersten Voice-Mails mit der Stimme einer Frau, welche anscheinend seine Tochter ist, ihn erreichten, begannen Zweifel und Hoffnung einen Kampf in ihm, welcher sprachlich sehr gekonnt den Leser:Innen dargeboten wird.
In diesen Audiofiles erfuhr Murad viel über das Leben dieser Frau in der Syrischen Stadt Rakka, über ihren Alltag, die Kämpfe, Grausamkeiten, den Krieg und den drohenden Angriff auf die Stadt. Weiterhin wurde Murad nur spärlich mit Informationen gefüttert, seine Ungeduld nahezu greifbar, und die Vergangenheit aus der neuen Heimat Deutschland holte ihn ein … besonders als sich sein Freund Aziz meldete …
Es ist ein sehr vielschichtiger Roman, trotz der oftmals sehr überzeichneten Tristesse, den Ausflügen durch das trockene Land, stecken viele Botschaften und Wahrheiten im Text, welche sich manchmal wirklich mühsam erlesen werden müssen. Fatah scheint mit der Ungeduld von Murad zu spielen, verwebt diese derart im Text, dass dieses Gefühlt aus den Zeilen heraus lebendig zu werden scheint.
Es war für mich keine leichte Lektüre, gegen Mitte des Buches war ich dem aufgeben nahe, und nun froh, durchgehalten zu haben. Der Roman hallt nach – und erst Tage nach Beendigung scheint sich vieles zu setzen und der ganze Nebel des Erzählten sich zu lichten und Klarheit zu schaffen. Insofern ist dies eine ganz große Erzählkunst – mensch muss sich nur darüber trauen. Und so bin ich der Meinung, dass dieses Buch sehr wohl seine Berechtigung auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis hat.
Gerne gebe ich (trotz allem) eine Leseempfehlung ab, vor allem für jene, die sich aus der Komfortzone des Lesens herauswagen und mutig und neugierig sind.

Bewertung vom 20.09.2023
Männer töten
Reisinger, Eva

Männer töten


ausgezeichnet

Ein doppeldeutiger Titel für diesen wichtigen, wunderbar feministischen Roman

Der Titel – Ziel bereits vieler Diskussionen – kann sehr wohl, nein, er muss sogar zweideutig verstanden werden. Zum einen ist die Zahl der Femizide und Gewalt an Frauen in Österreich in der EU auf dem tragischen ersten Platz. Zum anderen setzen sich die Frauen in diesem herrlichen Roman zur Wehr … das ist zumindest ein praktisches Mittel zum Zweck. Kann aber dann auch mal etwas kompliziert, wenn nicht sogar problematisch werden. Dennoch: „In Engelhartskirchen (harte Engel? Anm.) gibt es keine Fälle von häuslicher Gewalt, keine Sexualdelikte, keine Frauenmorde [...]“ - und überraschender Weise scheinen Männer immer wieder mal zu verschwinden, und vieles ist in Frauenhand, so z. B. auch die Pfarrei.
Anna Maria, Wienerin, lebt in Berlin, befindet sich in einer toxischen Beziehung mit Friedrich. Der Zufall spült sie ins oberösterreichische Engelhartskirchen zu Hannes. Der betreibt den Hof seiner Eltern, ist Vollblutlandwirt, und die Beziehung der beiden läuft angenehm und harmonisch. So allmählich wird Anna Maria in die weibliche Dorfgemeinschaft eingeführt, manches „Geheimnis“ ihr anvertraut. Und auch gewisse „Praktiken“ bleiben nicht unerwähnt.
Aber die Vergangenheit lässt nicht locker. Ihre besten Freundinnen aus Berlin tauchen auf. Während sich die eine sehr bald auf das Dorfleben einlassen kann, zögert die andere. Als dann Friedrich auch noch auftaucht: „Ja habe die Ehre ...“ Mehr möchte ich nicht verraten.
Das klingt jetzt vielleicht alles nach Dorfidylle, einem feinen ländlichen Leben (und Stoff für eine Bollywoodschmonzette). Doch der Friede ist hart erkämpft – und es gibt immer wieder gewisse Männer, die daran zu rütteln versuchen.
Die Autorin beschreibt die Tatsachen beinhart in ihrem Roman. Gleich zu Beginn gibt es eine Triggerwarnung – denn es würden Männer sterben.

S. 130: „Die Polizei rät Frauen selbstbewusster zu sein, dann würden sie nicht vergewaltigt. Was nach Satire klingt, ist in Österreich viel zu oft Realität.“

Auf diesem Hintergrund baut Reisinger ihren Roman auf. Teils sarkastisch, makaber, doppelzüngig, und mit der gewissen Prise Humor, wie es meines Erachtens nur österreichische Autorinnen beherrschen, huschen wir von Seite zu Seite, fiebern und leiden mit den Protagonistinnen mit. Natürlich ist manches überspitzt dargestellt, aber in Anbetracht der traurigen alltäglichen Realität ist so ein Inhalt mehr als Gebot der Stunde. Die Gesellschaft ist nach wie vor im Würgegriff von alten weißen, sexistischen Männern und deren Patriarchat. Der Roman zeigt dies auf seine besondere Weise auf, so wie auch die Lösung zwar ein Ansatz sein mag, aber vielleicht doch nicht unbedingt nachahmenswert.
Ich bin vom Buch schlichtweg begeistert, inhaltlich wie sprachlich eine wahres Lesehighlight. Da kann mensch nur hoffen, dass es von Eva Reisinger in Zukunft noch vieles zum Lesen gibt.
Absolute und allerhöchste Leseempfehlung und zu recht auf der Shortlist–Debüt des Österreichischen Buchpreises 2023.

Bewertung vom 17.09.2023
Sinkende Sterne
Hettche, Thomas

Sinkende Sterne


sehr gut

Biographie und Phantastik vermengen sich zu einem tiefgründenden Roman über die Kunst des Erzählens

In seinem neuesten Roman entführt uns der Autor in eine Mischwelt aus Autobiographie, Phantastik und gelebte Mythen im Wallis/Schweiz.
Die Eltern des Autors sind verstorben, und er erhält vom Kanton Wallis eine Vorladung. Er reist in den Schweizer Kanton, um die Angelegenheit zu richten, und das Chalet zu verkaufen. Allein die Anreise verwischt sich zu einem kleinen Strudel aus Biographie und Fiktion. Das Wallis ist nur mehr über die Pässe zu erreichen, denn ein mächtiger Felssturz hat die Rhone aufgestaut, den Tunnel und einige Ortschaften geflutet. Er wird von Soldaten mit Maschinengewehren in Empfang genommen, und so nach und nach kristallisiert sich heraus, dass der Karton mit seinen Dörfern zu einer Eigenständigkeit mit einem mächtigen Kastlan (und Bannherr der Sieben Zenden) an der Spitze zurückgekehrt ist. Alte Familienstämme haben wieder das Sagen, und nichts geht ohne die Bischöfin. Viele Orte sind verlassen, oder nur mehr mit einer Fähre zu erreichen.
Im Haus angekommen, überwältigen Hettche seine Kindheitserinnerungen. Und auch die Begegnung mit seiner Freundin Marietta aus Kindestagen nimmt unerwartete Wendungen. So wird aus einem geplanten Verkauf der Wunsch, in diese Welt und Natur, welche in gewissen Maße zu einer Ursprünglichkeit zurück gezwungen wurde, zu bleiben. Er hilft Marietta auf der Alm so gut er kann, aber die Zeit, sein Ultimatum, läuft ab.
Im Prinzip ist das nur ein grober Rahmen, denn der Autor beschäftigt sich sehr viel mit der Literatur. Was kann, soll, und darf der Schreibbetrieb wirklich? Wo liegt auch hier die Essenz, das Wesentliche. Es wird Rilke zitiert, welcher im Wallis seine letzte Ruhestätte fand. Und es folgen viele Streifzüge durch Homers Odyssee, versucht Parallelen zu Sindbads Abenteuer in den Geschichten aus Tausend und einer Nacht zu finden. Es wird ein Strudel aus Hettches Gedankenwelt, und auch die Walliser Sagenwelt mit dem „Zug der Toten Seelen“ finden Einklang in seinen Überlegungen.

S.91: „Die Alpe fällt nur für wenige Monate im Jahr in das Recht der Menschen. Wenn wir im Herbst wieder hinabgehen ins Tal, beziehen Geister die verlassenen Hütten. Im Winter sollte man nicht hier sein. Wer trotzdem hochkommt, kann ihnen begegnen.“

Der Roman überzeugt sprachlich voll, denn das Schreiben beherrscht der Autor. Auf den Inhalt muss man sich tatsächlich sehr einlassen können. Besonders die vielen gedanklichen Einflüsse und Zitate setzen einen wachen Geist während der Lektüre voraus. Aber nichts desto trotz birgt der Roman ein sehr interessantes Lesevergnügen über das Leben im Allgemeinen, die Literatur im Besonderen. Insofern verschwimmen auch hier die Grenzen. In diesem Fall zwischen Roman und Lang-Essay.
Der Satz im Klappentext: „Ein schwebend abgründiger Roman über den Zauber der Literatur“ bringt es auf den Punkt.

Bewertung vom 14.09.2023
Gittersee
Gneuß, Charlotte

Gittersee


ausgezeichnet

ComingofAge in der ehem. DDR – einfühlsam, meisterhaft erzählt

Gittersee, ein Vorort von Dresden, 1976. Die 16-jährige Karin plaudert von sich und ihrer Familie. Das sind Mutter, Vater, die strenge Oma, und das Nesthäckchen – ein Nachzügler, um den sich Karin, so hat es den Anschein, mehr kümmern muss als die Mutter. Die Szenen typisch DDR, die Eltern gehen arbeiten, Karin zur Schule. Es wird geträumt und in der Schule stramm gestanden. Das System rollt.
Karin hat auch ein Privatleben, mit ihrer besten Freundin Marie, die genau weiß, was sie einmal werden will, und auch mit Paul, in den sie verliebt ist. Eines Tages fragt er sie, ob sie „Lust auf ein Abenteuer“ hätte, er wolle rüber zu den Tschechen, Kletterzeugs kaufen. Karin traut sich nicht, und ist sich schließlich auch sicher, dass es ihr Vater nicht erlauben würde.
Und dann ist Paul weg, hat es in den Westen geschafft, hinterlässt Freunde und Karin. Sie sind enttäuscht, von Paul, und ein wenig auch auf sich.
Sehr bald tritt die Stasi auf den Plan. Freundlich, aber mit den nötigen Druck, gibt es Befragungen. Schließlich redet Karin ein wenig mehr, als ihr lieb ist … mehr verrate ich nicht.
Zwischen diesem Grundgerüst spielt sich aber das wahre Leben der Bewohner der DDR ab. Mit viel Feingefühl zeichnet die Autorin ihre Protagonistinnen. Sie erzählt uns über das zwischenmenschliche in jener Zeit. Über den Spagat zwischen Unschuld und schlechtem Gewissen. Über den ewig lauernde Staat im Rücken, der für alles sorgt und das eigenständige Denken der Bevölkerung ausblenden will. Über die immer währende Drohung der Denunziationen, die über den Köpfen lauert wie dunkle Gewitterwolken, ständig bereit, sich zu entladen.
Über den ganzen Roman scheint eine gewisse Dunkelheit zu schweben, eine graue Tristesse, nicht greifbar. Vielmehr wird man mit Ahnungen zum Lesen weiter getrieben – denn da muss doch noch was kommen. Absolut klug geschrieben – und das tolle: die Autorin schreibt zwar so, als hätte sie in der ehemaligen DDR gelebt, ist aber erst nach dem Mauerfall geboren. Das ist ganz große Erzählkunst, und zurecht ist Gneuß mit ihrem Debütroman auf der Longlist zum deutschen Buchpreis. Ganz klare Leseempfehlung!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.09.2023
A Haunting in Venice
Christie, Agatha

A Haunting in Venice


ausgezeichnet

Dieser Roman, ursprünglich „Die Halloween-Party“, ist die Vorlage für den Kinofilm „A haunting in Venice“. Es ist die neueste Christie-Verfilmung mit Kenneth Branagh (Poirot und Regie).

Hercule Poirot wird von seiner Bekannten Mrs. Oliver, eine erfolgreiche Krimiautorin, in das kleine Dorf Woodleigh Common gerufen, denn Polizei und alle Beteiligten stehen am Ende ihrer Weisheit. Während einer von Mrs. Drake perfekt organisierten Kinderparty zu Halloween wird die junge Joyce ermordet. Kein Täter war gesehen worden, es scheint alles sehr mysteriös.
Während des Festes behauptete Joyce, schon einmal, unbewusst, Zeugin eines Mordes gewesen zu sein. Aber es glaubte ihr niemand, wurde nur belächelt. Mit Grund, denn das Mädchen war nicht besonders beliebt und bekannt dafür, sich mit erfundenen Geschichten ins Rampenlicht zu stellen.
Hercule Poirot, in seiner charmanten wie leicht narzistischen Art wie eh und je, führt Befragungen durch, schließt sich mit einem ehemaligen Polizisten kurz, sammelt Daten und Fakten. Aber selbst er kommt nicht richtig im Fall weiter – bis dann zum richtigen Zeitpunkt das richtige Wort gesprochen wird. Und die Lösung scheint nun für ihn sehr greifbar. Der Fall haltet die Leser:Innen bis zum Schluss in Atem, denn der Mordfall würde nicht aus der Feder von Christie stammen, würden wir die Lösung schon vorher erahnen.
Der Schreibstil ist für Agatha Christie Fans wie gewohnt – straight, ohne viele Schnörkel, die Atmospähre oftmals very british.
Ich fühlte mich im Roman sehr gut aufgehoben, war spannend bis zum Schluss und ein wahrer #Pageturner. Nun bin ich richtig auf den Film gespannt, welcher wohl ziemlich anders sein wird, als das Buch, und am 14.9. seine Premiere hat. Ganz klare #Leseempfehlung für alle Krimifans und Freunde von #Spannungsliteratur.

Bewertung vom 08.09.2023
Königreich der Knochen / Sigma Force Bd.16
Rollins, James

Königreich der Knochen / Sigma Force Bd.16


ausgezeichnet

Spannung pur (und alles über Viren) mitten im Kongo. Es droht der Ausbruch einer neuen Pandemie.

Das war ein Wissenschaftskrimi voll nach meinem Geschmack.
Bereits vor Covid begann der Autor, an diesem Buch zu schreiben – es geht um eine ausbrechende Pandemie, mutierende Viren, die alle Lebewesen in kürzester Zeit befallen. Harmlose Tiere werden zu Bestien, und die Menschen werden im Gegenzug schwach und apathisch. Es sieht so aus, als würde sich die Natur rächen wollen gegen das Übermaß an Homo sapiens. Ort des Geschehens: mitten im kongolesischen Dschungel. Der Klimawandel mit lang anhaltenden Regenfällen verstärkt dazu noch alles und macht es dem Einsatzteam mehr als schwer, vor Ort den spärlichen Hinweisen auf ein Gegenmittel nach zu gehen.
Denn ein Schamane, der wohl über ein wirksames Pulver verfügt, kommt bei einem Überfall ums Leben. Zurück bleiben sein Lehrling und ein paar kryptische Angaben.
Das Team um SigmaForce (mittlerweile Band 16) mit alten Bekannten aus vorangegangenen Thrillern wie Gray, Tucker, Kobalski, hat es merklich schwer, an mehreren Fronten gleichzeitig zu sein. Zum einen die korrupte Politik in der Demokratischen Republik Kongo, Milizen, die Umwelt. Und schließlich ein milliardenschwerer Unternehmer, der alles daran setzt, nicht nur das Land auszubeuten (ohne Rücksicht auf Natur und Menschenleben), sondern den Wettlauf um das Heilmittel zu gewinnen.
Der Autor bringt sehr viel Detailwissen um die Viren und deren ausführliche Biologie ein, sowie etwas wenig afrikanische Mystik. Alle Fakten beruhen auf gesicherten Tatsachen. Bei all dem Wissen über Viren könnte einem schon etwas bang werden, was da noch so alles auf uns zukommen könnte – und es wird, davon ist sich der Autor im Anhang auch sicher (immerhin Doktor der Veterinärmedizin).
Alles zusammen hat Rollins in einen äußerst spannenden, fingernägelabkauenden Thriller gepackt. Die Schnitzeljagd zum Ziel – ins Königreich der Knochen – ist ein richtiger Pageturner und somit klare Leseempfehlung für alle Freunde von wissenschaftsbasierter Spannungsliteratur. Die Botschaft im Buch kann unmissverständlicher nicht sein.

Bewertung vom 03.09.2023
feuchtes holz
Schnack, Sophia Lunra

feuchtes holz


ausgezeichnet

Ein Roman, lyrisch poetisch, frei von Konventionen. Eine Familiengeschichte über vier Generationen.

Wenn die Zeilen verfließen, aus angedeuteter Prosa in ungewohntem Sprachstil plötzlich eine Lyrik entsteht, die einen durch den Text zieht und mitreißt, dann befindet man sich in diesem eindrucksvollen Debüt der Autorin. Oft weiß man nicht, wann und wo man sich aufhaltet, verliert sich in einer Blase ohne Dimensionen – ob Gegenwärtiges oder Vergangenes gerade im Fokus stehen. Und dennoch, so widersprüchlich es klingen mag, entdeckt man sich während des Lesens nur in diesem geschaffenen Raum, wunderbar erzählt, frei ab von klaren und engen Strukturen.
Und genauso pendeln wir im Roman zwischen Erinnerung, Erzähltem und der Gegenwart hin und her, wie die Sprache scheinbar willkürlich zwischen Lyrik und Prosa wechselt.
Worum geht es (ohne zu viel zu verraten): die Erzählerin begibt sich zurück an den Ort ihrer Kindheit. Erinnerungen werden wach, verknüpfen sich zu Assoziationen mit Gerüchen (wie der von feuchtem Holz), Gefühlen und allen anderen Eindrücken, welche sich uns an bestimmten Orten unweigerlich ins Gedächtnis brennen, und sich auch dort wieder offenbaren. Aus dem Erinnern heraus schält sich eine Familiengeschichte, beginnend vor langer Zeit, als der Urgroßvater noch jung war. Von den Kriegen, den Großvater-Zwillingen, von der Großmutter. Der Gefangenschaft, den Denunziationen und der lange Weg zurück in ein bürgerliches Leben. Sie bilden einen Reigen, verschwimmen, schlagen Kreise wie in einem See, welche in poetischen Wellen auf uns einschlagen, schaukeln, einen sanften Sog bilden und uns durch die Geschichte treiben lassen.
Es ist das Leben ihrer Vorfahren, sowie dessen intensives Erleben, welches ebenfalls einen Kreis um die erlebte Kindheit schließt, im Gewässer der Erinnerung dümpelt, und sich manifestiert durch das Tagebuch. Es sind oft kleine Dinge, wie ein Fleck, oder ein Kleidungsstück, welche versteckte Emotionen hervorbrechen lassen.
Malerische Naturszenen um das Dachsteingebiet runden den Roman ab, wecken selbst Erinnerungen an längst vergangene Tage und werfen (zumindest für mich) viele Fragen auf, wie es damals, zu jenen leidvollen Tagen, wirklich war. Sophia Lunra Schnack nimmt uns hier mit auf eine wunderbare Reise, aufgewühlt von nie aufgearbeiteten Traumata einer Familie, die von den Kriegen und der Zeit danach geprägt war (und ganz gewiss stellvertretend für ganz viele Schicksale stehen mag).
S. 110:
„seine ruhe nach der flucht
für hergenommene nerven
im haus das am waldrand
das schwebt
über dem see

darin wieder aufgenommenes atmen
wieder ansetzende knospen
bis bald ein neues
erwachen“

Ich könnte noch weiterschwärmen – für mich eindeutig ein literarisches Jahreshighlight und ganz klar eine riesengroße Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2023
Sonne über Gudhjem / Lennart Ipsen Bd.1
Kobr, Michael

Sonne über Gudhjem / Lennart Ipsen Bd.1


ausgezeichnet

Ein grausamer Mord auf der Sonneninsel und ein neuer, sympathischer Ermittler

Ich bin versucht zu sagen, dass dies ein sehr hyggeliger Roman ist – ein feines Sommer- oder Spätsommerbuch, fast mit etwas Wohlfühlcharakter, wenn es denn nicht um einen grausamen Mord gehen würde. Auf alle Fälle versteht es der Autor (der zum ersten Mal solo schreibt) perfekt, eine gute, angenehme Stimmung zu erzeugen. Und er macht wirklich Lust, diese Insel näher kennen zu lernen. Aber der Reihe nach:
Lennart Ipsen lässt sich auf Bornholm versetzen. Er möchte es ruhiger angehen und nützt die Chance, neuer Leiter der örtlichen Kripo zu werden. Ein Häuschen ist auch gefunden – zumindest für ein Jahr mit der Auflage, sich gut darum zu kümmern. Er stolpert in ein nettes Team, das selbständiges Arbeiten gewönnt ist. Manchmal auch etwas zu selbständig.
Die Idylle wärt nicht lange. Eine Leiche wird entdeckt – ein Landwirt eingeschlossen in seiner eigenen Räucherkammer. Irgendwie makaber – und die Lust von Lennart auf Räucherschinker verpufft. Die Recherchen beginnen, und schnell stellt sich heraus, dass der Tote nicht gerade die beliebteste Person auf der dänischen Insel war. Es tauchen einige Menschen auf, die nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Aber sind das alles Gründe für einen Mord? Die Ermittlungen gehen etwas träge dahin, und die titelgebenden Wörter „Sonne über Gudhjem“ bergen ihr Geheimnis, das es zu lüften gibt und die Spur zum Täter oder Täterin führt.
Der Autor zeichnet angenehme Figuren, authentisch – als hätte er sie nur beschrieben, und nicht erfunden. Es sind keine Superhelden, sondern einfach nur Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen. Der Roman liest sich leicht, wechselt zum richtigen Zeitpunkt das Setting – die Spannung bleibt somit aufrecht erhalten. Lange tappt man als Leser:In im Dunkeln – es bilden sich nicht mal richtige Verdachtsannahmen heraus, sondern wird von einem zum anderen potenziellen Mörder:In weitergereicht. Dazwischen gibt es etwas Land und Leute … und von mir eine ganz klare Leseempfehlung
Der Roman macht Lust auf mehr (und Meer), und würde mich freuen, wenn es zu einer Fortsetzung der Geschichten um Ipsen kommt.
Was ich auch noch erwähnen möchte und bei mir sehr positiv ankam: auch wenn die beschriebenen Kulinaritäten doch mehrteilig fleischlastig sind, wie in so vielen anderen, vergleichbaren Krimis (warum muss in den Romanen immer noch der Planet zu Tode gefressen werden?), so werden zumindest die Vegetarier oder Veganer nicht niedergemacht oder verunglimpft, wie ich es z.B. von Bannalec oder Walker kenne, sondern haben einen mit (zumindest etwas) Respekt bedachten Auftritt. Und noch eins: es kommt eindeutig zur Sprache, dass Frauen oftmals unterschätzt werden, bzw. ihnen nicht das zugetraut wird zu leisten, was man bei einem Mann erst gar nicht in Frage stellen würde. Auch hier die Daumen nach oben. Es sind gute Ansätze.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.