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Benutzername: 
dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 152 Bewertungen
Bewertung vom 14.01.2023
Ein simpler Eingriff
Inokai, Yael

Ein simpler Eingriff


sehr gut

Wann spielt die Geschichte? Und wo? Der Leser bleibt im Unklaren und erkennt, dass es hier nicht um konkrete Verortungen in Raum und Zeit geht

Die Protagonistin Meret, eine junge Krankenschwester, bewegt sich in zwei Mikrokosmen: ihrer Familie und dem Krankenhaus. Ihre Familie wird geprägt durch eine fast unerträgliche Beschränktheit des Wohnraums und vor allem durch den Vater, der uneingeschränkt die Familie beherrscht und seine Aggressionen entlädt in gewalttätigen Übergriffen auf seine Kinder. Der andere Mikrokosmos ist das Krankenhaus, Merets Arbeitsplatz. Zusammen mit vielen namenlosen Krankenschwestern funktioniert sie wie ein Rädchen im Getriebe.

Beiden Mikrokosmen gemeinsam ist ihre streng patriarchalische Struktur und das System von Unterordnung und Gehorsam.

Meret ist als Pflegerin beteiligt an der operativen Behandlung von psychischen Erkrankungen. Die Details der Operation bleiben unscharf, aber der ausführende Arzt verspricht ein besseres Leben nach dem Eingriff. Der Mensch – meist sind es Frauen – würde befreit von unangenehmen Verhaltensweisen. Immer wieder werden Wut und Aufmüpfigkeit als unerwünschtes Verhalten erwähnt, d. h. die Operation hat nicht das Ziel einer Heilung, sondern sie hat das Ziel, Frauen an die gesellschaftlich erwünschten Normen anzupassen, und diese Normen sind von Männern gesetzt. Unerwünschtes Verhalten von Frauen wird operativ eliminiert, und die versprochene Besserung sieht so aus, dass Frauen zu einem klaglos funktionierenden Teil dieser restriktiven Gesellschaftsordnung werden. Für Männer gilt dies offensichtlich nicht, wenn man an Merets Vater denkt.

Meret fügt sich in dieses autoritäre System ein und verteidigt die Notwendigkeit der Anpassung. Bis sie unter dem Einfluss ihrer Geliebten Zweifel entwickelt und einen Ausbruch wagt.

Der Roman wirkt merkwürdig schwebend. Nicht nur wegen der fehlenden zeitlichen und räumlichen Verortung, sondern auch inhaltlich. Der Leser bewegt sich zwischen den beiden Mikrokosmen hin und her. Wir lesen kurze Rückblicke in die Familiengeschichte und Erinnerungen an die geliebte Schwester, Andeutungen über das Schicksal des Bruders – und auch der konkrete Klinikalltag, das Miteinander mit den Kolleginnen, der Kontakt zum Bruder einer Patientin, all das wird nicht klar konturiert, sondern bleibt angedeutet stehen.

Der Sprecherin Lisa Hrdina gelingt es hervorragend, die Ich-Erzählerin lebendig werden zu lassen. Sie trifft den leicht naiven Ton der jungen Protagonistin, und ihre junge Stimme wirkt authentisch.

Bewertung vom 09.01.2023
Das Rätsel der Schamanin
Michel, Kai;Meller, Harald

Das Rätsel der Schamanin


ausgezeichnet

Eigentlich sind die Landesgartenschau in Bad Dürrenberg, geplant für 2024, und die Umgestaltung des Kurparks schuld. Im Bereich dieses Kurparks liegt nämlich ein 9000 Jahre altes, steinzeitliches Grab, das bereits 1934 ausgegraben wurde und schon damals wegen seiner überreichen Grabbeigaben für Aufsehen sorgte. Wegen der geplanten Neugestaltung des Kurparks fand nun eine Nachgrabung statt, und deren Ergebnisse legt das Autorenduo Meller und Michel vor. Dazu nutzen sie die Elemente des Kriminalromans: sie sprechen von einem „cold case“ gehen investigativ vor, stellen Hypothesen auf und verwerfen sie wieder, und der Leser verfolgt gespannt den Gang der Entdeckungen.

Es ist tatsächlich eine außerordentliche Geschichte, die der Leser erfährt. Die Archäologen von 1934 hielten aufgrund der damals üblichen patriarchalischen Sichtweise ein reich ausgestattetes Grab stets für das eines Mannes. Und dieser Fund wurde nun eingepasst in das völkische Geschichtskonstrukt: dieser Mann war ihrer Meinung nach weiß und blond und diente daher als Beweis für eine Art Ur-Arier, der nicht durch Migration nach Mitteldeutschland fand, sondern der sich hier bodenständig entwickelt habe. Ein Beweis für die völkische Ideologie der Nationalsozialisten. Sehr umfassend wird der Leser informiert, wie diese ideologisch verblendeten (und zudem unwissenschaftlich arbeitenden) Prähistoriker ihre üble Rolle als „Vordenker der Vernichtung“, wie Götz Aly sie nennt, spielen.

Was hätten diese Archäologen zu der Tatsache gesagt, dass ihr „Mann“ nicht nur eine Frau war, sondern zudem dunkelhäutig? Eine Person of Colour? So wie auch der noch ältere Fund, der sog. Neuessinger Mann aus dem Altmühltal?

Die Ergebnisse der Nachgrabung und ihre umfangreichen Auswertungen werden dem Leser umfassend und auch für archäologische Laien immer verständlich vorgestellt. Die beiden Autoren nehmen ihren Leser mit an die Schnittstelle zwischen Mesolithikum und Neolithikum. Nachdem unsere Ahnen jahrtausendelang als Jäger und Sammler gelebt hatten- immerhin die längste Zeit der Menschheitsgeschichte! - wandelt sich allmählich ihre Lebensweise: sie werden sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter. Und sie spezialisieren sich, und dafür sprechen die reichen Grabfunde: hier wurde eine Heilerin bestattet, eine spirituelle Expertin, eine charismatische, reiche und äußerst angesehene Frau, deren Grab noch Jahrhunderte nach ihrem Tod Besucher an sich zog, quasi ein „Lourdes der Steinzeit“.

Da drängt sich der Begriff „Schamane“ auf. Auch hier holen die Autoren weit und differenziert aus. Sie informieren nicht nur über die Geschichte des Schamanentums, das vom Christentum verteufelt wurde und Opfer ideologischer Anschauungen wurde, sondern stellen auch die angewendeten bewusstseinserweiternde Praktiken vor. Ebenso umfassend und reflektiert sind die Darstellungen der animistischen, d. h. allbeseelten Sichtweise der Welt.

Sehr spannend fand ich die Darstellung der sozialen Konsequenzen, die die veränderte Lebensweise nach sich zog. Die Sesshaftwerdung führte zu kleinräumigeren sozialen Netzen und es entstehen neue soziale Hierarchien. Aber immer noch betrachtet sich der einzelne Mensch als Knotenpunkt eines Netzes unterschiedlicher Lebewesen – und der Verlust dieser Netzwerke quält den modernen Menschen.

Aber: Muss ich eine Grabbeigabe „fancy“ nennen und eine Persönlichkeit „sparkling“? Ab und zu eine Streichung einiger Redundanzen hätte dem Buch auch gutgetan.

Das Hörbuch wird eingelesen von Helge Heynold: eine angenehme Stimme, sauber artikuliert, sinngerecht betont, perfekt!

Fazit: Ein kluges, faktenreiches, informationsreiches, immer reflektierendes Buch, das die ferne Steinzeit heranrückt und zudem Auskunft gibt über die vielen wissenschaftliche Methoden des Erkenntnisgewinns.
Absolute Lese- und Hörempfehlung.

Bewertung vom 06.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Klappentext

„Das glückliche Geheimnis“ wird gleich auf der ersten Seite, in den ersten beiden Sätzen gelüftet: der Autor wühlt sich seit 25 Jahren durch die Wiener Altpapiertonnen, bei Wind und Wetter, zu Fuß und mit dem Fahrrad. Dabei findet er all das, was Menschen entsorgen: Bücher, Plakate, persönliche Briefe, unbenutztes Firmenbriefpapier, Glückwunschkarten, Briefmarkensammlungen etc. Das setzt in ihm Überlegungen frei: welche Gründe haben Menschen, sich von Schriftlichem zu trennen? Ordnung? Nachlass-Sichtung? Desinteresse? Zu wenig Platz?
Müll ist, so meint er, nicht nur eine gewaltige Rohstoff-Ressource, sondern ebenfalls eine kulturelle Ressource, ein Teil des kulturellen Gedächtnisses.
Trotzdem schämt er sich für seine Müll-Touren, bis er den Film „Die Sammler und die Sammlerin“ von Agnes Varda sieht. Der Film bringt ihn zur Auffassung, dass das Sammeln ein menschliches Grundbedürfnis sei, und auch das Sammeln von Müll sei eine Kulturtechnik, bei der sich „auch im Wertlosen ein Reichtum“ (S. 36) finde.
So erlebt es der Autor die ersten Jahre auch, und zwar wortwörtlich: er verkauft seine Funde auf dem Flohmarkt und finanziert damit seinen Lebensunterhalt. Der Fund und die Lektüre von Briefkonvoluten setzt allmählich aber einen schöpferischen Impuls bei ihm frei. So erzählt er z. B., wie ein gefundenes Konvolut von Briefen aus dem I. Weltkrieg in ihm die Grundidee für sein Buch „Unter der Drachenwand“ habe entstehen lassen.

Das Müllsammeln strukturiert den Alltag des Schriftstellers, und es strukturiert auch verblüffend leichtfüßig das Buch. Der Leser erfährt in dieser besonderen Biografie, wie Geigers erste Romane zustande kamen und wieviel Frust und Ablehnung er seitens seines Verlages auszuhalten hatte und wie er trotzdem an seinem Lebensziel, Schriftsteller zu sein, festhielt. Geiger nimmt kein Blatt vor den Mund. Wir erfahren viel von seinem Privatleben, z. B. seiner sexuellen Libertinage, gelegentlich mehr, als es mich persönlich interessiert hätte. Ebenso offen geht er mit den Erkrankungen seiner Eltern um: des „alten Königs in seinem Exil“ und seiner intelligenten Mutter, die nach einem schweren Schlaganfall ihr Leben neu lernen musste.
Genauso offen und ungeschönt erzählt er von seinem „depressiven Intermezzo, wie er es nennt: eine längere Schaffenskrise, aus der ihn ein streng strukturierter Alltag schließlich befreit, und zu dieser Struktur gehört auch das „Lumpensammeln“, wie er es nennt. Das er übrigens auch nicht aufgibt, als er mit Preisen überhäuft wird und zur öffentlichen Person geworden ist; niemand vermutet in dem Lumpensammler den preisgekrönten Autor.

Auch hier ist also wie im ganzen Buch immer das Durchforsten der Altpapiercontainer der zentrale Punkt, und daher sollte der Leser keine chronologische Biografie erwarten, sondern sich der Führung des Autors überlassen.

Geiger beobachtete in den Altpapierbriefen eine unverkrampfte, menschliche Offenheit, die ihm gefiel und die er zum Maßstab seines Erzählens machte. Das ist ihm gelungen. Geiger ist nicht frei von Selbstlob und Stolz auf unkonventionelles Verhalten, und einige Passagen hätten durchaus gestrafft werden können. Dennoch bleibt nach der Lektüre der Eindruck zurück, dass hier ein liebenswerter Mensch spricht, dem wenig Menschliches fremd ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2023
Raue Wasser
Pert, Rebecca

Raue Wasser


gut

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen und setzt zwei Erzählstimmen ein. Auf der ersten Zeitebene erzählt eine junge Frau, Sylvia, in ihrem Tagebuch von ihrem Leben auf der kargen Shetland-Insel Unst und vor allem von ihrer psychischen Erkrankung, die zu schrecklichen Ergebnissen führt. Die zweite Zeitebene befindet sich in der Jetztzeit. Sylvias Tochter Jane findet die Tagebücher ihrer Mutter und durchlebt damit ihre Kindheit noch einmal. Und so gelingt es ihr, sich ihrer Traumatisierung zu stellen und sie in ihr Leben zu integrieren.

Der Roman ist spannend und durch die beiden Erzählstimmen auch sehr kurzweilig zu lesen. Die unwirtliche, karge Kulisse der Shetland-Insel, vor der die Handlungen sich abspielen, ist sehr schön gewählt, da die innere Verfassung der beiden Protagonistinnen sich hier widerspiegeln. Dazu passt auch der Titel „Raue Wasser“, der sich nicht nur auf die Affinität der Hauptfiguren zur See bezieht, sondern ebenso metaphorisch zu verstehen ist: Sowohl Sylvia als auch ihre Tochter haben raue Zeiten zu durchleben.

Die Themen sind ausgesprochen dramatisch: Einsamkeit, Depression, Halluzinationen, innere Stimmen, Suizide, Eifersucht und Trennung, blutige Unfälle, Traumatisierung, schwierige Geburt, Mord und einiges andere. Man merkt es vielleicht schon: mir war es zu viel Drama. Wäre etwas weniger nicht mehr gewesen? Vor allem gegen Ende des Buches geht es recht melodramatisch zu. Die Autorin nimmt dafür Längen in Kauf, die für die Handlung nicht wesentlich sind wie z. B. die langatmige Schilderung einer Geburtsszene. Gelegentlich fehlt auch der innere Zusammenhang der einzelnen dramatischen Blöcke – leider kann ich keine Beispiele geben, ohne zu spoilern. Nur ein eher nebensächliches Beispiel: es wirkt nicht überzeugend, wenn sich die Mutter einer verlassenen Verlobten aufopferungsvoll um deren Nachfolgerin kümmert.

Trotz dieser dramaturgischen Schwächen habe ich den Roman gerne gelesen! Ein Roman zum Schmökern.

Bewertung vom 21.12.2022
Der Mondmann - Blutiges Eis
Haskin, Fynn

Der Mondmann - Blutiges Eis


ausgezeichnet

Gleich vorneweg: Cover und Klappentext lassen einen eher blutrünstigen Roman erwarten; wer also die Schilderung von Grausamkeiten etc. erwartet, wird hier enttäuscht werden.

Die Ermittlerfigur ist kein Sympathieträger, und er tritt zu Beginn den Inuit auf Grönland in der herablassenden, unduldsamen und besserwisserischen Art gegenüber, die an die Einstellung der europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert erinnert. Der Autor beschreibt sehr schön, wie sich das Verhalten des Ermittlers Schritt für Schritt ändert. Er erkennt, wie sehr die harten Bedingungen der Natur das Leben und Denken der Inuit bestimmen, und er lernt nicht nur Respekt vor ihren Mythen zu haben, sondern auch ihre Verbindungen zu einer geistigen Welt zu schätzen. Seine beginnende Freundschaft mit dem Schamanen ist das äußere Zeichen dieses respektvollen Umgangs miteinander.

Der Erzähler romantisiert jedoch nicht, sondern er thematisiert auch die Auswirkungen der dänischen Gesetzgebung auf die Inuit. Ihnen wurde mit dem Verbot des Robbenfangs die wichtigste Nahrungsquelle und damit ihre traditionelle Lebensweise genommen. Die Folgen sind übel: Alkoholismus, Gewaltbereitschaft und eine außergewöhnlich hohe Suizidrate.

Als Leser merkt man deutlich, dass der Autor mit Herzblut das Leben der Inuit vorstellt. Er wird jedoch niemals belehrend, sondern seine Informationen begleiten die Handlung wie selbstverständlich. Seine Liebe zu Grönland ist unübersehbar, und er beschreibt äußerst anschaulich z. B. eine Fahrt mit dem Kajak (jetzt weiß ich, dass das Wort ein Inuit-Wort ist) durch das Packeis oder die verschiedenen Färbungen des Wassers auf dem Weg zur Eis-Abbruchkante.

Der Schluss dagegen ist enttäuschend. Ein Ende wie in einem amerikanischen Bandenkriegsfilm, noch dazu mit erklärenden Dialogen, und abschließend eine große Jubelfeier - dieser plakative Showdown lässt die innere Logik vermissen und passt nicht zu dem ansonsten eher ruhigen Erzählen.

Trotzdem: mir hat das Eintauchen in die heutige Kultur der Inuit so gut gefallen, dass ich dem Autor diesen Schluss nicht nachtrage.

Bewertung vom 18.12.2022
Der Sturm (eBook, ePUB)
Harper, Jane

Der Sturm (eBook, ePUB)


weniger gut

Cover, Titel und Klappentext haben mich sehr angesprochen, weil sie einen spannenden Krimi in Verbindung mit Meer suggeriert haben. Das Meer spielt tatsächlich eine Hauptrolle in dem Roman, und der Autorin gelingt auch eine atmosphärisch dichte Beschreibung von Unwettern und Gefahren. Ebenso gut fängt sie die leicht miefige Atmosphäre einer Kleinstadt ein, in der jeder jeden kennt und neue Gesichter erst einmal skeptisch betrachtet werden. Auch die Konstruktion der Handlung hat mir gut gefallen: dass nämlich ein Mord verknüpft mit länger zurückliegenden Ereignissen, in die mehrere Personen schuldhaft verwickelt sind.
Die Handlung fließt aber allzu ruhig dahin, ein Spannungsbogen setzt erst gegen Schluss ein. Die Fülle der Personen und vor allem ihre verwandtschaftlichen und biografischen Bezüge zueinander verwirren am Anfang. Dazu kommt, dass zu viele Details vorgeführt und langatmig beschrieben werden, auch wenn sie keinerlei Einfluss auf die Handlung haben. Manches ist unglaubwürdig, z. B. „obwohl er nie hier gewesen war, wusste Kieran, das alles ein wenig verstellt war. Die Kissen auf dem Sofa schienen nicht in ihrer üblichen Reihenfolge zu stehen „ (S. 172). Wie kann ich das feststellen, wenn ich noch nie in dem Zimmer war? Manche Handlungselemente erweisen sich als blindes Motiv, z. B. die Tatsache, dass der Bruder des Protagonisten für die Schwangerschaft eines Mädchens verantwortlich war. Das Ende, die Entdeckung des Mörders, kommt wie ein plötzlicher Show down und recht unmotiviert, auch wenn es, zugegeben, natürlich sehr praktisch ist, wenn sich der Mörder am Ende selber offenbart und seine Taten erläutert. Ohne dass ein Bezug zu den laufenden polizeilichen Ermittlungen zu erkennen gewesen ist.
Sprachliche Ungenauigkeiten wirken störend. Das Kreischen von Möwen wird kommentiert mit „So etwas habe ich noch nie gesehen“ (S. 246), oder auch Holprigkeiten wie „Er ging ... langsam..., doch seine Muskeln übernahmen sofort das Kommando“ (S. 142). Manche Wendungen sind einfach deplatziert; vielleicht Übersetzungsfehler?
Ein spannender Plot, dessen Möglichkeiten kaum genutzt werden.

Bewertung vom 12.12.2022
Geheimnis am Weihnachtsabend
Mitchell, Gladys

Geheimnis am Weihnachtsabend


sehr gut

Die Hobbydetektivin Adela Bradley, ihres Zeichens Psychoanalytikerin und Nervenärztin in Oxford, reist über die Weihnachtstage zu ihrem Neffen auf das Land. Der Neffe bewirtschaftet ein Gut und lebt von der Schweinezucht. Ein geheimnisvoller Brief mit einer noch geheimnisvolleren Wette, ein nächtlicher Todesfall – und Adela Bradley ist in ihrem Element: sie ermittelt.

Auf dem Lande leben recht eigenwillige, um nicht zu sagen schrullige Leute, und es geschehen merkwürdige Dinge wie z. B. nächtliche Spaziergänge mit einem Schwein. Die Suche nach dem Mörder entfaltet sich überwiegend in Dialogen, sodass der Leser den vielfältigen Verdächtigungen folgen kann und in die Mördersuche weitgehend eingebunden wird.

Mrs Adela Bradley ist ohne Zweifel eine intelligente und scharfsinnige Person, aber an ihr Äußeres muss man sich gewöhnen: sie hat magere, klauenartige Hände mit langen gelben Fingern, ihre Mimik wird verglichen mit dem Aussehen eines Alligators oder einer Schlange, dazu kommt ein „teuflisches Grinsen“ – und die Tatsache, dass ständig ihr „meckerndes Lachen“ erwähnt wird, macht sie auch nicht liebenswerter. Und jedes Gegenüber spricht sie mit „Mein Kind“ an, egal ob Freund oder Feind und auch egal, ob es sich um den würdigen Polizeipräsidenten oder ihren kleinen Großneffen handelt.

Trotzdem: wer einen originellen Krimi in der Art Agatha Christies sucht, wer keine Leichenberge braucht und auch mit Schweineblut zufrieden ist, der ist mit diesem Krimi gut beraten! Hier gibt es keine aktionsreichen Verfolgungen, keine Schießereien und dergleichen, sondern hier wird der Bösewicht mit Verstand und Logik gefunden.
Mir hat der Krimi Spaß gemacht.

Bewertung vom 10.12.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Ian McEwan breitet das ganze Leben des Roland Baines vor seinem Leser aus: eines sehr mittelmäßigen Mannes, der ein nach außen hin unbedeutendes Leben führt. Man liest von seinen hochfliegenden Plänen, die jedoch alle scheitern, man leidet bei seinen Niederlagen und verpassten Chancen mit und freut sich im umgekehrten Fall über seine kleinen Siege, die selten genug sind. Roland Baines‘ Leben wird durch den Schmerz des Verlassenwerdens geprägt und das Zusammenleben mit seinem Sohn. Gegen Ende des Romans sehen wir ihn eingebettet in eine große Patchwork-Familie mit den Familien seines Sohnes und seiner Stiefkinder. Was ist nun besser? Ist die große Kunst all den Schmerz wert? Die Entscheidung wird dem Leser überlassen.

Roland Baines Leben verknüpft sich dabei ständig mit der Zeitgeschichte und den gesellschaftlichen Umbrüchen, denen sein Leben ausgesetzt ist und von denen sein Leben auch mitbestimmt wird, ob das der Fall der Mauer ist, die Politik Margaret Thatchers, die Suezkrise etc. bis zur aktuellen Pandemie. Besonders die Kuba-Krise bleibt dem Leser in Erinnerung: wegen der apokalyptischen Stimmung dieser Zeit beschließt der 14jährige, vor dem Weltuntergang wenigstens einmal Sex gehabt zu haben – mit seiner Klavierlehrerin. Er kann sich dieser obsessiven Beziehung nur entziehen, indem er die Schule fluchtartig ohne Abschluss verlässt. Seine „formlose Existenz“, wie er sein Leben selber nennt, führt er auf diese einschneidenden Missbrauchs-Erlebnisse zurück.

Der Roman heißt „Lektionen“, und Roland Baines erhält seine Lektionen und der Leser auch. Es geht um komplexe moralische Fragen,, die jeder für sich selber beantworten muss. Roland Baines lernt, dass Vergrabenes ans Licht kommt, dass Vergangenes die Gegenwart belastet, und er lernt, dass auch ein unbedeutendes Leben mit vielen verpassten Chancen wie das seine ein erfülltes Leben sein kann.

Nicht alle Lektionen werden gelernt: „Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alle strömen würden. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen. Längst wurden von Jerusalem bis Mexiko wieder Mauern hochgezogen. So viele vergessene Lektionen.“

Die Art und Weise, wie der Autor diese Geschichte erzählt, hat mich begeistert. McEwan wendet alle denkbaren erzählerischen Kniffe an. Besonders gut gefallen hat mir das „Mosaik der Erinnerungen“, wie es der Protagonist selber nennt. McEwan verzichtet auf breit angelegte Retrospektiven. Stattdessen unterbricht er die chronologische Abfolge durch Erinnerungsfetzen, die nur kurz aufleuchten, was ich als sehr authentisch empfand.

Fazit: Ein souverän erzählter, sprachlich brillanter Roman um moralische Entscheidungen.
„Dinge verändern sich, und in der Veränderung muss das Richtige gefunden werden."

Bewertung vom 28.11.2022
Die geheimste Erinnerung der Menschen
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen


ausgezeichnet

„Für Yambo Ouloguem“- so die Widmung zu Beginn. Der Fall Yambo Ouloguem: ein junger Literat aus Mali gewann 1968 einen Literaturpreis in Frankreich, wurde bejubelt und dann wegen Plagiats fallen gelassen. Ouloguem kehrte nach Mali zurück und starb 2017.

Hier findet Sarr seine literarische Vorlage: seinen Helden Diégane und v. a. Elimane geht es genau so wie Ouluguem. Diégane erkennt in seinem verschollenen Landsmann Elimane einen Schicksalsgefährten und beginnt daher ca. 50 Jahre nach dem Skandal und dem Verschwinden seinen Spuren zu folgen. Und so entsteht der Roman.

Ein Kernthema des Romans ist das Selbstverständnis bzw. Fremdverständnis der Schriftsteller aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs. In einer bitterbösen Satire reiht Sarr fiktive Kritiken an Elimanes Roman aneinander und klagt die rassistische Diskriminierung an. Einige Beispiele: Ein so kunstvolles Werk könne nicht von einem Schwarzen stammen, denn Afrika sei das Land der Barbarei und der Gewalt. Oder: Das Werk habe zu wenig „tropisches Kolorit“. Oder: Der Autor sei gebildet, aber wo sei die „afrikanische Seele“? Überhaupt: ein Jude als Schriftsteller ginge ja noch, „aber der Neger nie“.
Und so geht es Fragen der kulturellen Aneignung, um den nach wie vor wirkmächtigen Kolonialismus und um den Spagat zwischen einem traditionsverhafteten Leben und dem Eintritt in die weiße Welt der ehemaligen Kolonialherren.

Das hört sich trocken an, aber Sarr entfaltet eine derart unbändige Freude am Erzählen, dass der Leser davon gepackt wird. Er arbeitet mit Tagebüchern, Briefen, Zeitungsartikel, Interviews, Erzählerberichten und jeder Menge Berichte von Zeitzeugen aus 3. und 4. Hand, die Handlungsorte wechseln, und immer wieder wechselt er mitten im Text die Erzählerperspektive. Manchmal allerdings war mir persönlich das Pathos der Sätze zu plakativ. Zugegeben: es war nicht immer leicht, den verschlungenen Pfaden des Buches zu folgen, und auf manche prätentiöse Fremdwörter wie „phaläkische Verse“ hätte ich auch verzichten können.

Das Fazit des Romans ist hart: „Wer war eigentlich Elimane? Das gelungenste und zugleich tragischste Produkt der Kolonisation. … Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung.“

Bewertung vom 27.11.2022
Feldpost
Borrmann, Mechtild

Feldpost


sehr gut

Hier erzählt ein Routinier!
In zwei Zeitebenen entfaltet sich die Handlung. Die 1. Zeitebene spielt im Deutschland der Vorkriegs-, der Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre, die 2. Zeitebene in der Jetzt-Zeit. Diese 2. Zeitebene wird getragen durch die Recherchen einer jungen Anwältin zu den Ereignissen der 1. Zeitebene. Zwischen diesen beiden Zeitebenen springt die Handlung hin und her, und Kapitel für Kapitel entwickelt sich die Geschichte einer Familie, eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Treue, aber auch von Verfolgung, Verrat, Betrug und Schlimmerem.
Die Autorin macht es ihren Lesern leicht. Jedes Kapitel ist übertitelt mit Datum, Ort und den handelnden Personen. Dadurch kommt es zwar zu inhaltlichen Redundanzen, aber die Orientierung des Lesers ist stets gesichert.
Auch sprachlich kommt die Autorin ihren Lesern entgegen. Einige merkwürdig gewollte Metaphern bilden eher eine Ausnahme; ansonsten wird die Handlung in einer ausgesprochen flüssigen und eingängigen Sprache erzählt. Die Dialoge werden oft unterbrochen mit Übersprungshandlungen wie dem Blick auf Regentropfen am Fenster, dem Anwerfen eines Rasenmähers im Nachbargarten, dem Flug der Vögel u. ä. Damit verleiht die Autorin der Rede ihrer Figuren sehr routiniert die Authentizität, die sie glaubhaft macht.
Der Inhalt des Romans lehnt sich, heißt es, an wahre Begebenheiten an. Dann wird man als Leser wohl einige Dinge hinnehmen müssen, die sonst unverständlich wären wie z. B. die Begründung für den Abbruch der Schulausbildung der Tochter in einem bildungsaffinen großbürgerlichen Haus. Insgesamt hätte mir persönlich etwas Dramatik besser gefallen. Vor allem das Ende des Romans (Epilog) wirkt gewaltsam gewollt.
Beeindruckend ist die präzise Recherche-Arbeit der Autorin, nicht nur zu Familiengeschichten, sondern vor allem zur Zeitgeschichte. Beeindruckend ist ebenso die Art und Weise, wie mühelos sie die Zeitgeschichte der 1. Erzählebene in ihren Roman einbettet. Die Ereignisse sprechen für sich und dienen als immer verständliche Hintergrundfolie für die Geschehen.
Der Roman wird eingelesen von Vera Teltz, deren professioneller und klarer Stimme man mit Vergnügen zuhört. Die Art und Weise ihres Vorlesens trägt wesentlich zum positiven Gesamteindruck bei.