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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 188 Bewertungen
Bewertung vom 30.07.2023
Abenteuer & Wissen: Michelangelo
Pfitzner, Sandra

Abenteuer & Wissen: Michelangelo


ausgezeichnet

Die Reihe „Abenteuer Wissen“ widmet sich hier einem Giganten der Kunstgeschichte: Michelangelo. Mit einer kleinen Hörspielszene zur kräftezehrenden Ausmalung der Sixitnischen Kapelle startet das Feature und bringt damit Michelangelo über die Jahrhunderte hinweg nahe an den Hörer heran.

Das Leben Michelangelos wird in den wesentlichen Etappen vorgestellt, und bei den Informationen zu den Kunstwerken beschränkt sich die Autorin auf drei klug ausgewählte Werke: den David, die Pieta und das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle. Die Kunstwerke werden aber nicht isoliert vorgestellt, sondern werden mit der Biografie Michelangelos und mit der Zeitgeschichte verzahnt. Die komplizierte Zeitgeschichte wird nur gestreift und weiter nicht erläutert , und vielleicht wundert sich ein Hörer, wieso ein Papst auf Kriegszug ging und Bologna eroberte. Auf alle Fälle wird deutlich, wie sehr Michelangelo in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit verwickelt war, dass er den Untergang der Republik bedauerte und die Machtfülle der Medici ablehnte, obwohl er von ihrem Mäzenatentum profitierte.

Auch Michelangelos Persönlichkeit wird deutlich: Michelangelo war ein störrischer und eigenbrötlerischer Mensch, der hochverehrt wurde, aber stets einsam blieb, was wohl auch mit seiner homosexuellen Veranlagung zusammenhing.

Die CD ist tontechnisch sehr gut aufbereitet. Trotz ständiger Hintergrundgeräusche sind die Sprecher problemlos zu verstehen, und die Verteilung der Sprechrollen sorgt für ein kurzweiliges Hörvergnügen.

Empfehlenswert!

Bewertung vom 28.07.2023
Giftig!
Reyes, Ico Romero

Giftig!


ausgezeichnet

Ein spannendes Thema!

Die Autorin geht das Thema aber ausgesprochen gründlich und überlegt an, trotz des etwas reißerischen Untertitels. Der Leser erfährt zunächst einiges über Gifte: was Toxine sind, wo sie vorkommen und wie sie wirken. Er lernt die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv giftigen Tieren. Schließlich wird er in die Taxonomie der Lebewesen eingeführt (leider nicht an einem Beispiel aus dem Buch), weil damit die Gliederung des Buches vorgegeben ist. Und dann wird er endlich entlassen in das Reich der giftigen Tiere.

Ein bunter Reigen tut sich auf: Kraken, Wespen, Affen, Fische, Skorpione, Vampire, Vögel, Schnabeltiere, Quallen, See-Anemomen und und und. Man liest Erstaunliches. Wer kennt die Gila-Krustenechse und weiß, dass sie bis zu 2 Jahren ohne Nahrung überleben kann? Wer weiß, dass der Seewespe, einer hochgiftigen Qualle mit bis zu 3 m langen Tentakeln, mehr Menschen zum Opfer fallen als dem legendären Weißen Hai? Und dass die gefürchtete große Vogelspinne keine Chance hat gegen eine Wespe, die sich Tarantula-Falke nennt? Und wer kennt einen Plumplori?

Das Buch wird abgeschlossen mit einem kleinen Quiz; eine schöne Idee!

Ebenfalls positiv hervorzuheben sind die lateinischen Gattungsbezeichnungen und die Verwendung von Fachbegriffen wie z. B. Aposematismus, die kindgemäß erläutert werden. Ab und an wären genauere Angaben angebracht werden. So heißt es z. B., die Trichternetzspinne sei „groß“. Was heißt „groß“?

Die Illustrationen sind bestechend schön. Sie sind großformatig und zeigen die detaillierte Sachkenntnis der Künstlerin, gerade weil sie das dargestellte Tier auf seine wesentlichen Merkmale reduzieren. Zudem zeigen sie jedes Tier in seinem natürlichen Umfeld.

Fazit: ein schönes Geschenk zu einem spannenden Thema!

Bewertung vom 28.07.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Seethalers Vorliebe gehört offensichtlich den einfachen, kleinen Leuten, deren Leben er erzählt. Hier ist es die Geschichte des Gelegenheitsarbeiters Robert Simon, der Ende der 60er Jahre ein Cafè am Karmelitermarkt übernimmt, einem noch vom Krieg gezeichneten ärmlichen Viertel Wiens. Sein Leben ist unspektakulär und von täglicher harter Arbeit geprägt. Er wohnt bescheiden in einem möblierten Zimmer bei einer Kriegerwitwe, mit der ihn im Lauf der Jahre das Gefühl einer gegenseitigen Verantwortung füreinander verbindet.

Der wirtschaftliche Aufschwung, von dem er in der Zeitung liest, geht an ihm vorbei, und er zeigt auch kein Interesse daran. Der Einsturz der Reichsbrücke (1976) wird zwar von ihm und seinen Gästen als Signal für eine Zeitenwende gedeutet, aber worin diese Zeitenwende besteht, bleibt offen und zeigt sich auch nicht in dem kleinbürgerlichen Mikrokosmos des Cafès.

Seine Gäste stammen aus seinem Umkreis und seiner Schicht. Es sind Schicht-Arbeiter, junge Frauen aus der Garnfabrik, kleine Beamte, Gelegenheitsarbeiter, Taugenichtse, Marktleute, verkrachte Existenzen und andere skurrile Gestalten, die sich hier treffen. Simon hat Verständnis für alle: „Die Welt dreht sich immer schneller, und da kann es schon passieren, dass es einige von denen, deren Leben nicht schwer genug wiegt, aus der Bahn wirft.“ Simons Cafè ist für diese Leute eine zweite Heimat, wo sie Ansprache und Zuhörer finden. Einige dieser Schicksale greift Seethaler heraus und betrachtet sie kurz wie mit einem Vergrößerungsglas, z. B. das Leben des benachbarten Metzgermeisters, der seine ständig wachsende Familie ernähren muss und dessen Geschäft unter den neuen Supermärkten leidet, oder das Leben des ständig alkoholisierten Schau-Ringers, der ausgerechnet „Wurm“ heißt. Alle diese Figuren stehen dem Leben und den sich ändernden Zeiten hilflos und ratlos gegenüber. Alle sind kleinbürgerliche Existenzen, die versuchen mit dem Leben klarzukommen und die ihr bescheidenes Auskommen finden müssen.

Wie seine Gäste erleidet auch Robert Simon Schicksalsschläge, die er jedoch ergeben hinnimmt und mit deren Folgen er weiterlebt. Und das ist eines der wiederkehrenden starken Themen in Seethalers Romanen: die Ergebenheit dem Leben gegenüber, die Einsamkeit des Einzelnen, sein Scheitern und zugleich die Beobachtung, dass jeder seinem Mitmenschen das Leben etwas erleichtern kann.

So unspektakulär wie Seethalers Figuren ist auch seine Sprache. Wenn man einen Seethaler-Roman aufschlägt, weiß man, was einen erwartet: eine reduzierte Sprache, passend zur Wortkargheit seiner Figuren sowie leise und undramatische Töne.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Matthias Brandt: perfekt, ein Hörgenuss, besser geht es nicht.

Mein Lieblingssatz:
"Am besten man sucht sich ein schattiges Platzerl im Leben und hält still",

Bewertung vom 27.07.2023
Vom Zauber des Untergangs
Zuchtriegel, Gabriel

Vom Zauber des Untergangs


ausgezeichnet

„Vom Zauber des Untergangs“. Dieser Titel befremdet zunächst. Welchen Zauber hat der Untergang einer ganzen Stadt?
Pompeji ist eine der berühmtesten Ausgrabungsorte der Welt, und seine Faszination dauert ungebrochen bis heute an. Jeder Besucher steht staunend vor luxuriösen Villen mit beeindruckenden lebensfrohen Wandmalereien, und das Staunen mischt sich mit Grauen und Erschütterung beim Anblick der Abgüsse von Opfern des Untergangs. Der Untergang selber ist gut dokumentiert, v. a. durch die Aufzeichnungen von Plinius d. J., der wiederum auf die Beobachtungen seines Onkels Plinius d. Ä. zurückgreift. Ein heftiges Erdbeben hatte schon Jahre vorher (62 n. Chr.) den Ausbruch angekündigt. Teile der Stadt wurden zerstört, die Reichen zogen sich in ihre Landhäuser zurück und warteten dort die Instandsetzung ihrer Stadtpaläste ab. Im Oktober 79 n. Chr. kam es dann zu der Katastrophe, die nicht nur Pompeji, sondern auch die umliegenden Städte Stabiae, Herculaneum und Oplontis zerstörte. Pompeji wurde unter einer meterhohen Schicht kleinerer und größerer Gesteinsbrocken begraben, bevor ein pyroklastischer Strom alles Leben in Sekundenschnelle vernichtete.

Zuchtriegel bezeichnet sich selber als Archäologe „mit Schlagseite“, und tatsächlich geht er mit anderen Vorstellungen an die Archäologie heran als seine Vorgänger. Ein Ansatzpunkt ist folgender Gedanke: „Wenn wir als Gesellschaft in Denkmalschutz und Forschung investieren, was können Denkmalschutz und Forschung der Gesellschaft zurückgeben?“ Er sieht also die Archäologie in der Pflicht gegenüber der Gesellschaft. Diese Auffassung setzt er um, indem er z. B. einen Theaterworkshop mit Jugendlichen aus problematischen Verhältnissen durchführen ließ, der mit der Aufführung von „Die Vögel“ von Aristophanes im Ruinentheater endete. Damit holt er nicht nur die Archäologie aus ihrem Elfenbeinturm heraus, sondern schafft zugleich eine Anbindung der Anwohner an „ihre“ Ausgrabungsstätte.
Damit zusammen hängt auch Zuchtriegels Überzeugung, die Fundstücke nicht im Museum zu präsentieren, sondern sie in ihrem Kontext zu belassen. Hier erweist sich Zuchtriegel als Anhänger der sog. Diskursanalyse von Michel Foucault, der darauf hinwies, dass jede Erkenntnis immer geprägt ist vom Forschenden selber, seinem Hintergrund, seiner Persönlichkeit, seinen Vorlieben etc. Dagegen ist es oft der Kontext eines Fundstückes, der genauere Erkenntnisse zulässt. Gleichzeitig befreit er aber damit die Ausgrabungsstätte von ihrer rein musealen Funktion und verleiht ihr Leben.
Und so wandert Gabriel Zuchtriegel in seinem Buch von einem Thema zum nächsten, und jedem Kapitel merkt man seine Begeisterung für seinen Beruf an. Er erzählt von neuen Ausgrabungen, und der Leser erfährt so von den weniger schönen Seiten der Stadt und der weniger privilegierten Bevölkerung: beengte Wohnverhältnisse, erdrückende Armut, „man aß Brot, und das war’s“, Lebensmittelknappheit. Zuchtriegel errechnet eine Zahl von 45.000 Einwohnern: eine übervölkerte Stadt, „ständig am Rand einer sozialen Katastrophe“. Diese Ausgrabung war für Zuchtriegel deshalb so außerordentlich, weil sie den „Seltenheitswert des Alltäglichen“ zeigte.
Andere Kapitel wenden sich der Verbindung von Kunst und Religion zu und der neuen monotheistischen Sekte des Christentums, andere der für unsere Begriffe wesentlich freizügigeren Sexualität, den Darstellungen von Hermaphroditen, der Bedeutung der griechischen Kunst für die Römer, dem Aufstieg des Gottes Dionysos, den Mysterienkulten, der Lage der Sklaven und der freigelassenen Sklaven, den Zusammenhang von Bild und Ritus, man liest Deutungsversuche von Fresken, quellenkritische Überlegungen und so fort – und immer belegt an Ausgrabungsfunden und mit Bildern illustriert (die man leider im Anhang nachschlagen muss).
Und damit beantwortet Zuchtriegel auch die Frage, die der Titel aufwirft: Worin liegt der Zauber eines Untergangs?
Die Ausgrabungen begannen 1748, und seitdem hält dieser Zauber an: eine erstarrte Stadt und eine vergangene Lebensweise wird wieder lebendig und wir tauchen ein in die Alltagswelt unserer Vorfahren. Erst der Untergang und das Vergessen ermöglichen „den Zauber des Wiederfindens und Bewahrens“. Es geht Zuchtriegel nicht darum, einen musealen Katalog zu erstellen, um damit eine Sehenswürdigkeit nach der anderen abzuhaken. Dieses Vorgehen nennt er das „Sammlersyndrom“. Was Zuchtriegel will, ist etwas anderes. Ein antikes Kunstwerk ist für ihn nicht nur ein museales Objekt, sondern – frei nach Foucaults Diskurstheorie – es tritt mit uns in einen Dialog ein und sollte nicht nur rational, sondern auch emotional und in seiner Funktion erfasst werden. Zuchtriegel will, dass die Fundstücke und der Ort als Ganzes für den Betrachter lebendig werden und sein Innerstes ansprechen, ihn als Mitmenschen berühren. „Das Land der Griechen mit der Seele suchen“, nannte es Goethe.
Das Buch richtet sich daher dezidiert an Laien und spricht eine Sprache, die jeder versteht. Nichts steht der Verzauberung im Wege!

Bewertung vom 26.07.2023
Bergleuchten
Seemayer, Karin

Bergleuchten


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Der Bau des Gotthardtunnels war im ausgehenden 19. Jahrhundert eine aufsehenerregende Meisterleistung der Ingenieurskunst. Der Tunnel war konzipiert als doppelgleisiger Eisenbahntunnel, damals der längste Eisenbahntunnel der Welt, und nach wie vor verbindet er Göschenen in der Schweiz mit dem norditalienischen Airolo.

Karin Seemayer widmet sich diesem eigentlich eher spröden Thema und reichert es mit verschiedenen anderen Themenkomplexen an, sodass eine lebendige Geschichte entsteht. In erster Linie ist das eine Liebesgeschichte, die nach allerhand dramatischen Hindernissen und Ereignissen das erwartete Happy-End findet.

Daneben erfährt der Leser Interessantes über die Sozialstruktur des Dorfes Göschenen und dessen Veränderung durch die gewaltige Baumaßnahme und den damit verbundenen Zuzug von Arbeitern, die wegen ihrer Fremdheit misstrauisch beäugt wurden. Der Tunnelbau sorgt für innerdörfliche Verwerfungen v. a. bei der Gruppe der Fuhrwerker, die um ihr Überleben fürchten. Nicht jeder wagt den Sprung in die neue Zeit des Industrie-Zeitalters, und nicht jeder kann die veränderte Situation als Chance begreifen. Hier gelingen der Autorin sehr anschauliche Bilder, wenn sie z. B. die gefährliche Fahrt über den Gotthard-Pass mit seinen Haarnadelkehren und halsbrecherischen Brücken beschreibt und damit die Notwendigkeit eines Tunnelbaus verdeutlicht. Auch die Beschreibungen von Natur und Wetter sind eindringlich und lassen im Kopf des Lesers deutliche Bilder entstehen. Sie zeigen auch, dass die Autorin weiß, wovon sie spricht und diese Gegend ganz offensichtlich bereist hat.

Insgesamt besticht der Roman durch eine akribisch-genaue Recherche, sei es zur Einrichtung der Baustelle, den teils unmenschlichen Arbeitsbedingungen, zum Einsatz des neuen Sprengstoffs Dynamit und so fort. Die Autorin hat aber nicht den Ehrgeiz, ihr gesammeltes Wissen auszubreiten, sondern sie wählt aus. Damit hält sie den Roman in einer guten Balance und vermeidet eine Überfrachtung mit Sach-Informationen.

Überhaupt zeigt die Art und Weise, wie Sachinformationen vermittelt werden, großes erzählerisches Geschick. Hier gibt es keine Belehrungen des Lesers seitens einer Figur, keine hölzernen und damit unrealistischen Dialoge oder ähnliches. Stattdessen wird historisches und technisches Wissen immer über die Handlung transportiert und geschmeidig mit der Handlung verwoben.

Ich habe den Roman als Hörbuch gehört, eingelesen von Sandra Huller. Sandra Hullers Vorlesen macht das Zuhören zu einem Vergnügen. Bei diesem Roman kommt ihr zugute, dass sie Schweizerin ist. Daher liest sie die Dialoge mit dem besonderen Schweizer Zungenschlag, und so wirken die Dialoge sehr lebendig und authentisch, und die Figuren gewinnen zusätzliche Plastizität. Sehr gelungen!

Bewertung vom 18.07.2023
Helga Schubert über Anton Tschechow / Bücher meines Lebens Bd.4
Schubert, Helga

Helga Schubert über Anton Tschechow / Bücher meines Lebens Bd.4


ausgezeichnet

„Bücher meines Lebens“ – so lautet der Titel einer Buchreihe, die Volker Weidermann im Verlag Kiepenheuer & Witsch herausgibt. Der Reihentitel macht die Sache spannend. Gibt es Bücher, die das Leben der Autoren maßgeblich beeinflusst haben, es verändert haben? Die ihn langfristig begeistern, aus welchem Grund auch immer? Haben die Verfasser eine besondere Affinität zu einem Autor, und wenn ja, warum? Lassen sie sich künstlerisch in ihrem eigenen Schaffen von seinem Werk beeindrucken? Der Titel lässt das alles offen, aber auf alle Fälle erwartet den Leser eine sehr persönliche Auseinandersetzung.

Helga Schubert musste nicht überlegen: sie wollte über Tschechow schreiben. Das Werk Tschechows begleitet sie von Kindheit an, und eine seiner Erzählungen hat ihr Leben entscheidend beeinflusst. Diese Erzählung heißt „Gram“, eine kurze Geschichte über einen einfachen russischen Lohnkutscher, der seine Frau und nun seinen einzigen Sohn hat begraben müssen. „Wem klage ich meinen Schmerz...?“ In seiner Not sucht er einen Menschen, dem er sein tiefes Leid klagen kann, aber er wird wiederholt abgewiesen, sodass er schließlich nur bei seinem alten Pferd sein Herz erleichtern kann. Eine schöne Geschichte, kunstvoll mit ihren Wiederholungen, im Märchenton geschrieben, sehr berührend – und diese Geschichte sei es, erzählt sie, die sie von dem Schritt „in den Abgrund“ abgehalten habe. Sie liest diese Geschichte, als sie das Scheitern ihrer Ehe erkennt. Ob man den Tod eines Kindes vergleichen kann mit der Erkenntnis, dass der Ehemann fremdgeht?

Aber wie man das auch sieht: Frau Schubert hat sich mit dieser Geschichte an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen. Sie hat gelernt, nicht in Selbstmitleid zu versinken und niemals eine Situation als aussichtslos zu bewerten. Und darum geht es.

Helga Schubert nähert sich Tschechow aber nicht als Trostsuchende an, sondern eher auf der handwerklichen und spirituellen Ebene, von Autor zu Autor. Sie will wissen, wie er seine Konzentration sicherte, wie er sein Privatleben organisierte, wie er erzählte und auch, welche menschlich wesentlichen Botschaften er in seinem Werk transportierte.

Und so gelingt ihr ein sehr persönliches Bild dieses Altmeisters. Sie ist inzwischen doppelt so alt geworden wie Tschechow, der mit nur 44 Jahren starb. Sie bereist seine Wohnorte, trifft seine Nichte, besucht sein Grab, liest seine Notizbücher, besucht die Museen etc. und setzt die Lebensphasen Tschechows immer in Bezug zu ihrer eigenen Lebensphase. Und so entsteht ein sehr persönliches Bild dieses Mannes, der mit seinem Schreiben seine Familie ernährte, der als Arzt die medizinische Versorgung während der Cholera-Epidemie betrieb, Schulen für Arme baute, einen aufrüttelnden Bericht über die Gefängnisinsel Sachalin schrieb und bei dieser Selbstaufopferung ständig Mühe hatte, sich Freiräume für das Schreiben zu schaffen.

Und immer steht die Frage dahinter: was kann sie von ihm lernen? Wie den Spagat finden zwischen Barmherzigkeit und Mitleid einerseits und einer kühlen Betrachtung andererseits? Und so nennt sie das kleine Buch auch sehr treffend „Eine Brücke zu Anton Pawlowitsch Tschechow“.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.07.2023
Der letzte Sessellift
Irving, John

Der letzte Sessellift


ausgezeichnet

„Es gibt mehr als nur eine Art zu lieben!“

Irvings Roman umfasst die Spanne von 60 Jahren, in denen wir das Leben des Adam Brewster verfolgen. Adam wächst vaterlos auf, und so wird die Suche nach seinem Vater zu einem der Motoren des Romans. Seine Mutter ist begeisterte Skilehrerin, und Adam weiß nur eines: er wurde gezeugt im Hotel Jerome im Ski-Ort Aspen. Dieses Hotel wird daher zu einem Bezugspunkt des Romans.

Als Irving-Fan war für mich dieser Roman so etwas wie das Hotel Jerome. Ich fühlte mich sofort zuhause, weil ich fast alle bekannten Motive und Erzählweisen dort wiedergetroffen habe. Da waren sie wieder !: die gesellschaftlichen Außenseiter, die skurrilen Gestalten, die Kleinen, bizarre Episoden wie die Hochzeit der Mutter, Wien und Wiener Schmäh mitsamt der Zither-Musik gehören auch dazu, ebenso der Ringer-Sport, Sex in unterschiedlichen Orientierungen, die alleinerziehende Mutter und natürlich auch der Bär, der sich allerdings listig versteckte. Mir kam dieser Reigen wie die Schlussszene in einem Zirkus vor, in der alle Artisten noch einmal gebündelt auftreten und sich verabschieden. Sollte es tatsächlich Irvings Abschied vom Erzählen sein?

Irvings Themen sind ebenfalls nicht neu. Er stellt ein Familienmodell vor, das sich nicht um gesellschaftliche Erwartungen kümmert, sondern dessen Mitglieder ihre Bedürfnisse und ihre Andersartigkeit konsequent ausleben können. Diese Familie wird nicht nur durch verwandtschaftliche Verhältnisse zusammengehalten, sondern es ist ein starkes emotionales Band, das sehr verschiedene Menschen zusammenbindet und füreinander einstehen lässt.
Hier gelingen ihm wunderschöne und anrührende Bilder. Ich denke da besonders an die Gedenkfeier für den in Vietnam gefallenen Freund, als dessen Vater, immerhin ein hochdekorierter Offizier, die Schützlinge seines Sohnes zur Gedenkfeier einlädt : ein Trupp von verlausten, verlotterten und ausgehungerten Menschen, die aus den gesellschaftlichen Rastern herausgefallen sind.

Im Zusammenhang mit dem Familienthema steht ein zweites Thema: das der ungehinderten sexuellen Orientierung, für die Irving schon immer mit aller Vehemenz eingetreten ist.

Ein neues Thema klingt jedoch an: das des Verschwindens und des Todes. Ein zunehmend elegisch werdender Ton zieht sich durch das Buch, verstärkt durch das Auftreten von Gespenstern und dem Einfügen von Drehbüchern; immerhin halten Filme auch die Verstorbenen lebendig. Die Schlusskapitel zeigen in beeindruckender Verdichtung das immer schneller werdende Vergehen der Zeit, das mit immer häufiger werdenden Altersangaben gezeigt wird, dazu kommen ruhelos wirkende stringente Sätze – ein schöner erzählerischer Kunstgriff!

Die Biographie des Adam Brewster erinnert in weiten Teilen an Irvings eigene Biografie, so dass man Adam getrost als Irvings Alter Ego auffassen kann. Die Themen, die Adam umtreiben, sind daher auch die Themen, mit denen sich Irving in den USA unbeliebt gemacht hatte, z. B. seine kritische Stellungnahme zum Vietnamkrieg und zum Abtreibungsverbot. Und so vermengt sich die autofiktionale Biografie mit der Zeitgeschichte, ein großes Panorama der amerikanischen Gesellschaft tut sich auf, und in den Passagen über die Macht der Katholischen Kirche oder die Ignoranz Reagans gegenüber AIDS spürt man die Empörung des Autors.

Das Lesen des fast 1100 Seiten starken Romans wird erschwert durch zu viele Wiederholungen, und auch die standardisierten Umschreibungen der Personen wurden mir mit der Zeit lästig. Auch die genauen Informationen über diverse globale Skiweltmeisterschaften etc. verstärkten vielleicht das Lokalkolorit, aber waren in dieser Ausführlichkeit nicht notwendig. Der Roman wurde damit gelegentlich schwammig und verlor seine Prägnanz.

Umso mehr ist Irvings souveräne Erzählkunst hervorzuheben, die den Leser wieder einfängt und in die Geschichte zurückzieht.

Bewertung vom 13.07.2023
Die Postkarte
Berest, Anne

Die Postkarte


ausgezeichnet

Ein Requiem der besonderen Art!

Anne Berest geht dem Schicksal ihrer Familie nach. Auslöser ist eine Postkarte, die lediglich vier Namen enthält und damit an die vier Mitglieder der Familie erinnert, die interniert, deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Schon die Mutter der Autorin hatte Nachforschungen zur Familiengeschichte angestellt, die sie im 1. Buch in einem großen Dialog der Tochter Anne erzählt.

Hier entfaltet sich nun die erschütternde Geschichte einer großbürgerlichen und gebildeten jüdischen Familie, die mit der Flucht der russischen Urgroßeltern nach der Oktoberrevolution beginnt. Sie fliehen nach Riga und schließlich nach Palästina, wo sie sich mehr recht als schlecht als Landwirte durchbringen, bis der Sohn sich zur Ausreise nach Frankreich entschließt, in das Land der Menschenrechte, das Land von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Er ist als selbständiger Ingenieur mit Patenten und eigener Firma erfolgreich und seine Töchter besuchen renommierte Schulen, aber Frankreich verwehrt ihm mehrmals die Einbürgerung. Trotz aller Bemühungen bleibt er so der Unbehauste, und damit und mit dem Schicksal der Familie erinnert er das Bild des Juden Ahasver, der ruhelos umherirrt und keine Heimat findet.

Voller Vertrauen in seine neue Heimat will er den wachsenden Antisemitismus nicht wahrnehmen und meint, der zunehmenden Entrechtung der Juden dadurch zu entgehen, dass er den Hauptwohnsitz der Familie in sein Landhaus in der Normandie verlegt. Eine Flucht kommt für ihn nicht in Frage, und so zieht sich die Schlinge zu: die beiden jüngeren Kinder werden abgeholt, von den Verwandten aus Polen treffen keine Nachrichten mehr ein, schließlich werden sie selber interniert und deportiert. Einzig Myriam, die ältere Tochter, kann der Vernichtung entkommen.

Das 2. Buch spielt in der Gegenwart. An die Erzählung der Mutter schließt sich eine Art Krimi an, nämlich die Suche nach dem Absender der Postkarte, die alles ins Rollen gebracht hatte. Mutter und Tochter spüren in unterschiedlichsten Quellen dem Lebenslauf Myriams, der Großmutter nach. Auf Erzählungen der Großmutter können sie nicht zurückgreifen, weil die Großmutter schwieg, um die schrecklichen Erlebnisse nicht erneut zu beleben. Und weil sie, wie so viele andere Überlebende auch, ein schlechtes Gewissen gegenüber den Opfern hatte.

Wie ein großes Puzzle setzt sich so Stück für Stück das Schicksal der Familie zusammen.

Dabei muss sich der Leser mit zusätzlichen beklemmenden Tatsachen auseinandersetzen. So erfahren wir, sehr verhalten erzählt, wie Franzosen ihre Mitbürger durch Denunziation in die Folterkeller der Gestapo und wie sich die Nachbarn am Eigentum der Familie nach deren Deportation bereichert haben. Der Leser erfährt auch von dem blinden Fleck im französischen Auge, der die Kollaboration vieler Franzosen, z. B. auch der Polizei und Verwaltungsbehörden, mit den Deutschen lange Zeit verschwieg. Und dass erst 1996 die Todesursache „gestorben in der Deportation“ und die Verfolgung aus rassistischen Gründen anerkannt wurde.

Sehr beklemmend sind auch die Passagen, in denen die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen die Tragödie ihrer Familie und ihr (laisiertes) Jüdisch-Sein auf iuhr eigenes Leben hat. Sie erzählt von ihren Ängsten und verleiht dem Phänomen deutliche Konturen, das man inzwischen als transgenerationale Traumaweitergabe bezeichnet.

Und zusätzliche Aktualität bekommt durch den nicht nur in Frankreich wieder zunehmenden Antisemitismus.

Wie Anne Berest diese Geschichte erzählt, ist ungemein packend. Das Erzählen der Familiengeschichte wird immer wieder von Fragen unterbrochen und damit immer in die Gegenwart hineingezogen; dazu trägt auch bei, dass die Mutter im Präsens erzählt. Damit gelingt es, die Personen nahe an den Leser heranzurücken, und diese Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart macht den Roman so lebendig.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Simone Kabst, die mit ihrer warmen und lebendigen Stimme den Erzählton des Romans perfekt trifft.

Bewertung vom 04.07.2023
Wilde Geschichten
Tieck, Ludwig

Wilde Geschichten


ausgezeichnet

Kaum zu glauben: eine Werksammlung von Ludwig Tieck, dieses begnadeten Romanschreibers, Novellendichters, Lyrikers, Dramaturgen etc. und Übersetzers, steht immer noch aus. Umso schöner, dass Jörg Bong und Roland Borgards sich entschlossen haben, dem Meister ein besonderes Geschenk zu seinem 250. Geburtstag zu machen: die Herausgabe von 11 seiner frühen Geschichten.

Tieck war ca. 20 Jahre alt, als er diese Geschichten schrieb und hatte sich nach Studienabbrüchen dazu entschlossen, das Schreiben zu seinem Beruf zu machen und davon zu leben. Liest man diese frühen Geschichten, mag man weder das junge Alter des Schreibers glauben noch das Alter der Geschichten: diese Erzählungen sind wunderbar erfunden und sie lesen sich schwungvoll und frisch.

Die Herausgeber haben unterschiedliche Geschichten hier versammelt, die ich mit größtem Vergnügen gelesen habe. Schon diese frühen Erzählungen spiegeln die ganze Bandbreite von Tiecks Erzählkunst wieder. So lässt er einige seiner Geschichten alltäglich beginnen, z. B. ein Mann macht eine Reise und kommt in einer Stadt an, und in dieses Alltäglich-Bürgerliche schleicht sich nun das Fantastische. Eine kleine Beobachtung von etwas Merkwürdigem und Ungewöhnlichen kann das Einfallstor für Unheimliches und Schauerliches sein. Andere Geschichten wiederum vermengen die Realität mit Elementen einer Anderwelt, in der sich Raum und Zeit aufheben und neue Gegebenheiten schaffen. Sehr originell, fast schon modern, ist auch Tiecks Technik des mehrperspektivischen Erzählens, das er an einer Geschichte vorführt. Hier spricht einerseits ein verliebter, aber etwas linkischer Beamter, und auf der anderen Seite spricht eine lebenlustige junge Frau, der er den Hof macht und sie mit seiner Unterhaltung zu Tränen langweilt, die er aber wiederum für Tränen der Rührung hält.
Mit dieser unterschiedlichen Sicht auf ein- und dasselbe Vorkommnis irritiert Tieck den Leser, der sich vor Widersprüche gestellt sieht und plötzlich die Relativität der Wahrheit erkennt.

Besonders beeindruckend sind Tiecks Naturbeschreibungen, die sich nicht in der reinen Beschreibung erschöpfen, sondern immer ein Spiegelbild der seelischen Befindlichkeiten sind und Stimmungen wie Freude, aber auch Angst und Wahnsinn spiegeln. Tiecks Natur ist eine symbolische Seelenlandschaft. Die Wiedergabe von Gefühlen und Stimmungen zieht sich durch die ganzen Geschichten hindurch, und hier zieht Tieck alle Register: von Freude und Übermut angefangen bis hin zu Angst, Zweifel an der Realität, Schwindel, Wahnsinn, Grausen und Selbstverlust.

Der Band ist originell gegliedert, indem auf jede Geschichte ein Kapitel der Herausgeber folgt, überschrieben mit „Tieck lesen“. In diesen kurzen Zwischenkapiteln weisen die Herausgeber auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge hin (z. B. Tiecks Loslösung vom erbaulichen Erzählen der Aufklärung), sie erläutern Schreibtechniken Tiecks, sie bieten Interpretationsansätze an und verbinden die Geschichten miteinander.

Ein großes Lesevergnügen!

Bewertung vom 04.07.2023
Der Club. Dabeisein ist tödlich
Lloyd, Ellery

Der Club. Dabeisein ist tödlich


weniger gut

Das Setting erinnert an einen Agatha-Christie-Roman: eine Insel als „locked room“, auf der sich auf eine Einladung hin einige Menschen versammeln, ein Mord geschieht, und Abgründe tun sich auf.
Dieses Muster übernimmt das Autorenduo in den wesentlichen Zügen, aber baut es zu einem Roman von immerhin über 11 Stunden Vorlesezeit aus.

Auf einer Insel soll ein Resort eingeweiht werden: ein Resort, das die ganze Insel umfasst und das mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet ist. Zur Einweihung gibt der Eigentümer ein opulentes Fest für geladene Gäste. Diese Gäste sind die Reichen und Schönen dieser Welt und stammen überwiegend aus dem Show-Business. Mit großer Liebe zum Detail erfährt der Leser Einzelheiten zu ihrer Kleidung, ihrer Frisur, ihrem Make-up, zu den Inhalten ihres Kleiderschranks und ihres Kühlschranks, er wird informiert über ihre Vorlieben und ihre Marotten.

Auch ihr privates Leben wird thematisiert, und auch ihre Probleme: ob sie noch 40% Rabatt bei Hermès bekommen? Wo denn ihre Einladung zur Met-Gala bleibt? Und wieso antwortet Karl Lagerfeld nicht auf ihren tweet? Ihr ganzes Denken scheint um ihre Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu kreisen. Offensichtlich wird beim Leser ein großes Interesse an der Welt der Promis und Celebrities – diesen "wichtigen" Unterschied erläutert der Roman auch - vorausgesetzt.

Für die Gäste sorgt ein riesiger Trupp an dienstbaren Geistern, und aus diesem Trupp rekrutieren sich die Erzähler der Geschichte, deren Erzählungen ergänzt werden mit Artikeln aus Vanity Fair. Alle vier Erzähler sind in leitenden Positionen tätig und haben teils erstaunliche Karrieren hinter sich. Wer schafft es schon, vom schlecht bezahlten Garderobenmädchen ohne jede Ausbildung mit einem Satz zur persönlichen Assistentin des Chefs eines Imperiums aufzusteigen? In diesem Roman geht das.

Die Handlung entfaltet sich sehr gemächlich und nimmt erst langsam Fahrt auf, und auch dann wird sie immer ausgebremst durch unnötige Wiederholungen. Eine multiperspektivische Erzählung kann durchaus ihren Reiz haben, sie bietet z. B. immer die Möglichkeit, das Innenleben einer Figur genau auszuleuchten. Diese Möglichkeit nutzt das Autorenduo jedoch so extensiv aus, dass es immer wieder zu Überdehnungen und unnötigen Redundanzen kommt und der Roman zu lange auf der Stelle tritt.

Ansatzweise entsteht Spannung, wenn den Reichen und Schönen ihre Masken weggezogen werden und sich ihre Abgründe in Form von Drogen, Alkohol, Ehebruch und dergleichen auftun, aber diese Spannung verflacht sehr schnell durch die unnötigen Wiederholungen. Über die Bezeichnung „Thriller“ kann man sich daher streiten.

Der Roman ist vielleicht interessant für Leser, die sich für die glamouröse Welt der Schönen und Reichen interessieren, wie sie die Regenbogenpresse anbietet.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Christiane Marx. Ihrer angenehmen Stimme habe ich gerne zugehört.