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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Gleitflug
Goemans, Anne-Gine

Gleitflug


ausgezeichnet

Gieles hat zwei Idole - Sully, Flugkapitän Chesley B. Sullenberger, der seine Maschine elegant auf dem Hudson landete, nachdem ihm Gänse ins Triebwerk geflogen waren, und den französischen Ornithologen Christian Moullec, der Zugvögel so auf sich prägte, dass sie seinem Ultraleichtflugzeug folgten. Der Brief an den Franzosen, an dem Gieles gerade feilt, zieht sich in einzelnen Absätzen hin; denn Gieles Französisch holpert noch etwas. Gieles eigene Leidenschaft für Gänse ist nicht ungefährlich. Gieles Vater hat als Flughafenförster dafür zu sorgen, dass Vögel vom Flughafengelände fernbleiben. Ein Sohn, der Gänse mit Spekulatius abrichtet, passt da gar nicht. Ein Pubertierender, dessen jüngste Gans nur direkt neben seinem Kopfkissen einschlafen kann, und ein stimmungsvolles Buchcover könnten einen leichten, gefühlvollen Roman vermuten lassen. Doch Gieles Leben, das er mit seinem wortkargen Vater und dessen körperbehinderten Bruder Fred teilt, ist alles andere als leicht. Es sind fast schon zu viele Probleme, mit denen der Junge konfrontiert wird. Nachbarin Dolly, deren Haus einer Erweiterung des Flughafens zum Opfer fallen soll, kann es sich nicht leisten, fortzuziehen. Ihre drei Söhne sehen in Gieles, der auf sie aufpasst während Dolly zu ihrem Zweitjob hetzt, einen Vaterersatz. Sie hängen so stark an ihrem Kindersitter, dass man sich gut vorstellen kann, wie sehr sie ihren verstorbenen Vater vermissen. Der grotesk übergewichtige "Super" Waling hat eine Erzählung über seine Vorfahren geschrieben, die beim Trockenlegen des Polders, auf dem heute das Flughafengelände liegt, wie Ochsen ausgebeutet wurden. In Einzelkapiteln bekommt Gieles die Geschichte nach und nach von "Super". Außer Gieles hat offenbar noch niemand überlegt, wie aus dem charismatischen Lehrer Waling dieser Mitleid erregende Mann werden konnte, der sich nur noch wie ein Behinderter per Elektrokarren bewegen kann. Meike, Gieles Internet-Bekanntschaft und erste große Liebe, bringt einen ganzen Packen Probleme mit und findet unerwartet eine Unterstützerin in Dolly. Warum seine Mutter seit Jahren als Entwicklungshelferin in Afrika Solarkocher verteilt, anstatt bei ihrer Familie in den Niederlanden zu sein - diese wichtigste Frage überhaupt - verdrängte Gieles bisher erfolgreich. Doch mit den Hormonen, die die Leitung über seinen Körper übernommen haben, und neben Gieles ehrgeizigem Projekt, seiner jüngsten Gans das Tischtennisspielen beizubringen, steuern die Ereignisse auf ein rasantes Ende zu.

Anne-Gine Goemans hat ein Händchen für skurrile Charaktere, die alle wie aus dem Nest gefallene Vögel wirken. Gieles war mein unangefochtener Favorit, obwohl man Goemans Figuren in ihrer Schrulligkeit alle mögen muss. Die Art, in der in "Gleitflug" jede Nebenfigur liebevoll ausgearbeitet und mit der Last eines speziellen Geheimnisses beladen war, hat mich ebenso gefesselt wie Goemans Erzählkunst, mit der sie Gegenwart, Vergangenheit und Gieles Träume (die er seinem Brief anvertraut) miteinander verknüpft. Schließlich punktet die deutsche Übersetzung des Texts mit einer treffenden Sprache, die zu Gieles passt wie der Punkt auf das i.

Bewertung vom 04.01.2017
Kinder beschützen!
Kerger-Ladleif, Carmen

Kinder beschützen!


ausgezeichnet

Wer an der Prävention von sexuellem Missbrauch interessiert ist, muss sich zunächst von der Vorstellung des fremden Straftäters verabschieden, vor dem Kinder bewahrt und gewarnt werden sollen. In 80 bis 90% der Missbrauchsfälle waren bisher die Täter keine Fremden, sondern Familienangehörige, Bekannte der Eltern oder Betreuer der Kinder. Um für den Kindergarten oder Hort der eigenen Kinder ein Präventionskonzept zu erarbeiten, müssen Eltern sich dieser Tatsache bewusst sein, auch wenn sie dem verstörenden Thema lieber ausweichen würden. Wie Eltern und Erzieher zum Schutz der Kinder konstruktiv zusammenarbeiten können, zeigt Carmen Kerger-Lateif in ihrem Elternhandbuch.

Lernen kann man aus dem übersichtlich aufgebauten Buch ...
+ Wie man Kindern, ohne sie zu ängstigen, in klaren Worten erklärt was sexueller Missbrauch ist, welche Strategien Täter einsetzen, um ihr "schlechtes" Geheimnis zu verbergen, und dass ein Kind keine Schuld an dem Geschehen trägt.
+ Kinder darin zu bestärken, Nein zu sagen und Hilfe zu holen.
+ Verschlüsselte Signale und sexualisiertes Verhalten zu erkennen, die sexuellen Missbrauch vermuten lassen.
+ Im Fall des Verdachts eines sexuellen Übergriffs auf das eigene Kind überlegt zu reagieren und professionelle Hilfe zu suchen.
+ Was zu tun ist, wenn das eigene Kind sexuelle Übergriffe an Spielkameraden begeht.
+ Wie sexueller Missbrauch sich auf Eltern und Geschwister des Kindes auswirkt.
+ Warum häufig den Müttern von Opfern durch Außenstehende Schuld zugewiesen wird.
+ Warum behinderte Kinder in besonderer Weise durch sexuelle Übergriffe gefährdet sein können.
+ Wie eigene Missbrauchserfahrungen, die durch ein aktuelles Geschehen wieder aufbrechen, mit Hilfe von Therapeuten verarbeitet werden können.
+ Wie Eltern am besten auf Gefahren reagieren, die Kindern durch Bekanntschaften in Sozialen Netzwerken drohen können.

Dem Buch sind viele Leser zu wünschen, da es ein für uns alle beängstigendes Thema kompetent und in klaren Worten behandelt. Jeder kann privat oder im Beruf mit Anzeichen von sexuellem Missbrauch konfrontiert werden.

Bewertung vom 04.01.2017
Land jenseits der Stimmen
Utz, Joachim; Wiebe, Rudy

Land jenseits der Stimmen


ausgezeichnet

Keskarrah, dem Ältesten der Yellowknife-Indianer (ihr Stamm gehört zu den Dené) war von Anfang klar, dass die Expedition der "Englischen" zum Scheitern verurteilt sein würde. Das Gesetz der Gastfreundschaft schrieb ihm zwar vor, die Fremden mit Vorräten, Kanus und Trägern auszustatten. Um als erfahrener Mann vom Stamm der T'atsaot'ine in der Region des Großen Sklavensees die Fremden von ihrem Vorsatz abzubringen, in den Norden zu ziehen, fehlten Keskarrah offenbar die richtigen Worte. Frau und Töchter des Schamanen wundern sich über die Fremden, die zu viel essen, zu viel Ausrüstung mit sich herumschleppen und selbst keine Frauen als Arbeitskräfte mitgebracht haben. Wenn Frauen als Arbeitskräfte fehlen, die warme Kleidung anfertigen und das Fleisch und die Häute der Jagdbeute verarbeiten, ist ein Stamm zum Untergang verurteilt. Sollten die Fremden in ihrer Unkenntnis auf die Unterstützung ihrer Pläne durch den Stamm der T'atsaot'ine beharren, werden die Teilnehmer der Expedition und im schlimmsten Fall auch der Indianerstamm den nächsten Winter nicht überleben. Aus der Perspektive des Unteroffiziers Robert Hood, des Schiffsarztes John Richard und Greenstockings, der Tochter des Schamanen, liefert Rudy Wiebe eine ungewohnte Sicht auf die Franklin-Expedition (1845 bis 1848). Besonders bewegend sind die Erlebnisse Greenstockings, die beim Zusammentreffen mit den Fremden erst 14 Jahre alt ist, und ihrer jüngeren Schwester. Frauen der T'atsaot'ine kennen es nicht anders, als dass sie von den Männern des eigenen Stamms mit Gewalt genommen oder von fremden Stämmen geraubt werden. Franklins Männer, die unter Alkohol eine für die Ureinwohner bisher unbekannte Gewalttätigkeit zeigen, werden von der Wehrhaftigkeit der Frauen überrascht, die sich mit ihren scharfen Ausbeinmessern entschlossen zur Wehr setzen können. Wiebes Sprache lässt Zeiten anklingen, in denen Menschen und Tiere sich noch miteinander verständigen konnten. Sein Blick zeigt voller Ironie die Unfähigkeit der Weißen, die Kenntnisse der Ureinwohner zu achten und für das eigene Überleben in klirrender Kälte zu nutzen.

Textauszug
"Plötzlich ist Greenstockings froh, dass sie sich auf eine so sinnlose Reise aufmachen und verschwinden und viele Tage, gar einen Monat, womöglich einen halben Winter lang durch den Schnee stapfen werden. Während der gesamten dunklen Zeit wird keiner von ihnen überraschend im Eingang ihres Zeltes auftauchen - wenn überhaupt noch einmal. Vielleicht nimmt sie ja unterwegs ein Felsspalte zärtlich auf oder eine Stromschnelle, die sich so schnell öffnet wie Fischkiemen unter Wasser, oder das allgegenwärtige, kalte, kristallreine Lächeln der Luft, die verschwundene Sonne oder das große Nordlicht lassen sie in einen Traum versinken und untergehen. Natürlich sollte sie so etwas nicht denken und sie kommt sich ziemlich gemein dabei vor; also lächelt sie gleich Little Marten an, die von ihrem Gepäck noch tiefer als ein Toboggan in den Schnee gedrückt wird. Nur Weiße machen sich auf solche endlosen, mörderischen Märsche in die lange Dunkelheit hinein. Nur Weißerde-Männer." (S. 184)

Bewertung vom 04.01.2017
Todesgott
Thórarinsson, Árni

Todesgott


sehr gut

Die isländische "Afternoon News" hat sich auf ihre Leser und Anzeigenkunden außerhalb der Hauptstadt besonnen und eine Lokalredaktion in der Kleinstadt Akureyri eingerichtet. Einar, die Hauptfigur in Thórarinssons Islandkrimi, soll die Arbeit machen, Ásbjörn mimt den Chef und Jóa unterstützt das neue Büro als Fotografin. In den ersten drei Bänden der Reihe ermittelte Einar noch in der isländischen Hauptstadt. Die Versetzung der beiden Männer in die Provinz als Folge eines Herausgeberwechsels ihrer Zeitung ist als berufliche Degradierung gemeint und wird von beiden auch so empfunden. Einar muss früher gern tief ins Glas geschaut haben und versteht es, der Arbeit möglichst aus dem Weg zu gehen. So gerät er gleich zu Beginn der Geschichte mit seinem Chefredakteur aneinander, der nicht akzeptieren will, dass im Zeitalter elektronischer Kommunikation der Informationsfluss aus der kleinen Außenstelle angeblich langsamer fließen soll als noch zur Zeit des Bleisatzes. Einar soll nun einerseits das Blatt täglich mit Informationen aus dem Norden versorgen, andererseits erfährt er halboffizielle Dinge, die seine Informanten ausdrücklich nicht für die Presse freigeben. - In der Woche vor Ostern werden zwei Todesfälle gemeldet. Zunächst ist die Frau eines Süßigkeitenfabrikanten an den Folgen eines Rafting-Unfalls verstorben. Kurz darauf wird auf der städtischen Müllkippe die stark angesengte Leiche eines Oberstufenschülers gefunden, der mit seiner Theatergruppe "Loftur, der Magier" probte, eine isländische Version des Dr. Faust. Obwohl in einer Kleinstadt von nur 20 000 Einwohnern die Informationen zu beiden Toten geschmeidig fließen müssten und die Theatergruppe des toten Skarphédinn als Informanten zur Verfügung steht, laufen Einars Ermittlungen nur zögernd an. Ohne mit Sozialkritik zu penetrant zu nerven, charakterisiert Thórarinsson, der selbst Journalist ist, den sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund Islands. Der Strukturwandel von Schwerindustrie und Fischfang zu Energieerzeugung und Tourismus ist zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht in Gang gekommen. Junge Isländer auf Jobsuche müssen aus der Provinz abwandern. Angesichts der Zuwanderer aus fremden Kulturen, die für schlechtbezahlte Jobs angeworben werden, macht sich unter Jugendlichen rechtsradikales Gedankengut breit. Einar würde gern für seine Zeitung über die Profiteure der wirtschaftlichen Neuordnung schreiben. Dass er bisher nicht viel mehr lieferte als die Meldung über einen vermissten Hund, hat auch mit der Wagenburgmentalität lokaler Seilschaften zu tun. -
Ári Thórarinsson lässt seinen schnoddrigen und dabei phlegmatischen Ermittler in dem beruflichen Umfeld handeln, das ihm selbst als Journalist vertraut ist. Wer in einem Krimi weder einen steilen Spannungsbogen noch unappetitliche Details erwartet und Geduld für die sozialkritischen Töne aufbringt, wird sich mit Thórarinssons widerspenstigem Laien-Ermittler gut unterhalten. Jóa in ihrer Nebenrolle hat sich in Akureyri aktuell in eine Frau verliebt, so dass in weiteren Folgen der Reihe das Privatleben der drei Zeitungsmitarbeiter noch Entwicklungsmöglichkeiten hat. "Season of the witch" wurde in Deutschland bereits unter dem wenig treffenden Titel Todesgott veröffentlicht. Der Autor ist hier mit seiner Krimireihe unglücklich gestartet; denn der erste Band ist nicht mehr erhältlich und Band 2 und 3 wurden noch nicht übersetzt. Nach Ein Herz so kalt (Band 5) warten bereits Band 6 und 7 auf die Übersetzung aus dem Isländischen.

1. (1998) Die verschwundenen Augen, Nóttin hefur þúsund augu, Verlagshaus No. 8, nicht lieferbar
2. (2000) Hvíta kanínan
3. (2001) Blátt tungl
4. (2005) Todesgott, Seasons of the witch, Tími nornarinnar
5. (2007) Ein Herz so kalt, Dauði trúðsins
6. (2008) Sjöundi sonurinn
7. (2010) Morgunengill

Bewertung vom 04.01.2017
Fotografie. Die ganze Geschichte

Fotografie. Die ganze Geschichte


sehr gut

Das 576 Seiten dicke Buch der Herausgeberin Juliet Hacking ist angetreten, die ganze Geschichte der Fotografie seit Mitte des 19. Jahrhunderts wiederzugeben. Gebunden ist das Buch in einen edel wirkenden, aber gegen Fingerabdrücke empfindlichen goldfarbenen Hardcover-Einband.

Wiedergegeben wird die Geschichte der Fotografie von 1826, also von der Erfindung an, bis in die Gegenwart. Dabei hat Juliet Hacking mit ihren 30 Koautoren einen interessanten Ansatz gewählt: Jeder der fünf Zeitabschnitte wird eingeleitet durch eine Übersichtsseite, die die wichtigsten Erfindungen bzw. fotografischen Richtungen in Balkenform auflistet. Innerhalb dieser Zeitabschnitte werden auf einem Zeitstrahl wichtige Ereignisse dargestellt und im Text Informationen zu den einzelnen Abschnitten geliefert. Es schließen sich Beispielbilder an, die von den Autoren in namentlich gekennzeichneten Artikeln in das Zeitgeschehen eingeordnet und anhand einzelner Bildausschnitte interpretiert werden. So kann man sehr schön die Entstehung der Fotografie und ihre weitere Entwicklung nachvollziehen, sich aber auch in die Sicht- und Denkweise einzelner wegweisender Fotografen einfühlen.

Diese Vorgehensweise klappt bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts recht gut, da bis dahin die Fotografie noch auf einen recht begrenzten Kreis von Fotografen und Stilrichtungen beschränkt war. In der Neuzeit, insbesondere seit Entwicklung der Digitalfotografie, hat sich die Fotografie jedoch sehr stark diversifiziert. Von der Landschafts- über die Portrait-, Architektur- bis hin zur experimentellen Fotografie gibt es nun eine Vielzahl fotografischer Stilrichtungen. Hinzu kommen noch die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung, die dem Genre weitere Spezialgebiete hinzufügt. Diese Vielfältigkeit der Fotografie der Neuzeit gibt das Buch leider nicht wieder; was in meinen Augen auch in einem Buch nicht geleistet werden kann.

Darüber hinaus vermisse ich auch in der Historie einige wichtige, wegweisende Fotografen, wie z. B. Ansel Adams, der für seine präzisen Fotos und deren spezielle Technik zu Recht berühmt und Vorbild für ganze Generationen von Landschaftsfotografen war. Ebenso fehlen weitgehend Fotografen aus dem asiatischen Raum, beispielhaft sei hier der Japaner Shinzo Maeda genannt. Fotoagenturen, wie Magnum, die herausragende Fotografen des Zeitgeschehens hervorgebracht haben, tauchen praktisch nicht auf. Aktfotografie wird, wenn überhaupt, nur angedeutet.

Die Auswahl der Bilder ist für mich ebenfalls nicht immer nachvollziehbar. Die Zusammenstellung wirkt, als wären Bilder aufgenommen worden, deren Rechte bereits gekauft waren.

Damit wird das Buch seinem Anspruch - Die ganze Geschichte - nicht wirklich gerecht. Man hätte das Buch besser auf die Anfänge der Fotografie bis zum 2. Weltkrieg beschränken sollen. Für diesen Zeitraum ist es mit seinem Inhalt und Namens-Index ein sehr gutes Nachschlagewerk, sowie eine sehr gute Informationsquelle zu Fotografen und Techniken aus den Anfängen der Fotografie, das viele - teilweise auch überraschende - Details zu den einzelnen Zeitabschnitten und Fotografen liefert.

Bewertung vom 04.01.2017
Ein Spiel der Natur
Gordimer, Nadine

Ein Spiel der Natur


sehr gut

Hillela wurde als kleines Mädchen einfach zurückgelassen. Ihre Mutter verließ Südafrika auf der Suche nach einem neuen Leben; ihr Vater, von Beruf Vertreter, interessierte sich nicht für seine Tochter. Tante Olga, die sich zu ihren drei Söhnen immer eine Tochter gewünscht hatte, finanziert Hillelas Internatsbesuch in Rhodesien. Liberale Familien in Südafrika schicken ihre Kinder gern in den Nachbarstaaten in Schulen ohne Rassentrennung. Hillela, nach ihrem jüdischen Urgroßvater genannt, hat schon immer gern Grenzen ausgetestet. Als sie eine zu enge Freundschaft zu einem farbigen Mitschüler knüpft, muss sie die Schule verlassen. Pauline, Hillelas zweite Tante, springt für die überforderte Ziehmutter Olga ein und zieht das Mädchen wie ein eigenes Kind auf. Hillela wird in der Familie weitergereicht wie ein abgelegtes Kleidungsstück. Nur Weiße werden sich darüber ereifern, in schwarzen Familien ist es gang und gäbe, Kinder von Verwandten aufziehen zu lassen. - Joe, der Onkel, vertritt als Anwalt Schwarze kostenlos vor Gericht. In einer mit dem damals verbotenen ANC sympathisierenden Familie gehören für alle drei Kinder Regimegegner zum Alltag, die unter absoluter Geheimhaltung von den Eltern versteckt und aus dem Land geschleust werden. Wie groß die Gefahr ist, in der die Familie schwebt, wird den Kindern erst klar, als Joes Anwalts-Kollege verhaftet wird. Persönlicher Luxus entfällt in Paulines und Joes Familie, Geld wird gespendet, ihre schulfreien Samstage verbringen Hillela und Caroline mit Nachhilfe für schwarze Schulkinder. Hillela überschreitet wie unter Zwang wieder die Grenze, die für sie als weißes jüdisches Mädchen gilt. Sie hat Sex mit ihrem Cousin, mit dem sie wie ein Bruder aufgewachsen ist. Auch Pauline scheitert an ihrer Pflegetochter; sie findet das Mädchen a-moralisch - für das Land, in dem sie leben. Hillela verlässt das Land - bindungslos und mittellos. Sie findet sich schon bald in einer Subkultur dubioser Gestalten wieder, die über mehrere Identitäten verfügen und selten ihre Hotelrechnung zahlen. Zeitzeugen wird die weiße Südafrikanerin als das Mädchen in Erinnerung bleiben, das bei Weggenossen unter dem Küchentisch übernachtete und nur besaß, was sie auf dem Leib trug. - Ein Job als Kindermädchen in einem Botschafterhaushalt wird für Hillela das Sprungbrett zu einer verblüffenden Karriere. Am Ende wird sie die dritte Frau eines afrikanischen Staatsoberhaupts sein, mächtig und dabei perfekt vernetzt. Zu Beginn der Geschichte mag sich noch mancher um Hillela sorgen (hoffentlich wird sie bei ihren Eskapaden nicht vergewaltigt oder ausgeraubt!). Die Sorge schlägt jedoch um in Verblüffung, wie diese Frau es schafft, in jeder Situation auf die eigenen Füße zu fallen. Erzählt wird ihr Schicksal wie der zusammengeschnittene Bericht verschiedener Gewährsleute, dem man als Leser Lücken und Subjektivität bereitwillig zubilligt. Erst im letzten Kapitel schlägt der neutrale Ton der Berichterstatterin um in einen ironischen Abgesang auf schwarze Staatsoberhäupter und ihre Unterstützung durch die NGOs westlicher Staaten - als sei Nadine Gordimer in diesem Moment erst auf die Idee gekommen, diese Machtverhältnisse zu kritisieren. - Hillela lebt nicht schlecht in der Subkultur des Widerstands gegen den Apartheids-Staat und sitzt an der Quelle, an der Fördermittel und Stipendien vergeben werden. Sie speist inzwischen mit den Mächtigen, während Sascha, in dessen Bett sie als Jugendliche erwischt wurde, es nicht weiter als bis auf die Galeerenbank eines südafrikanischen Gefängnisses bringt. Nadine Gordimer lässt ihr Portrait einer bemerkenswert anpassungsfähigen Frau vor den politischen Ereignissen der 60er Jahre spielen; aus der Distanz unserer Zeit wirkt "Ein Spiel der Natur" erstaunlich zeitlos.

Bewertung vom 04.01.2017
Geliebte Berthe
Barth-Grözinger, Inge

Geliebte Berthe


ausgezeichnet

Zur Zeit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, als ein einziges Brot eine Einkaufstasche voller Geldscheine kostete, tritt Bertha Merkle in Stuttgart eine Stelle als Hausmädchen an. Rote Haare - hitziges Temperament, so hatte Berthas Vater über seine willensstarke Tochter gespottet. Berthe nennt der verwitwete Professor Fabricius das neue Mädchen, das seinen Junggesellenhaushalt wieder auf Vordermann bringt. Der ehemalige Romanistik-Professor weckt Berthas Interesse für die französische Sprache und das Leben außerhalb des Haushalts. Das Rheinland ist französisch besetzt, der Groll auf "die Franzmänner", die die Versorgungsmängel verschuldet haben sollen, sitzt bei den Deutschen diesseits des Rheins tief. Die Frauen haben den Krieg doppelt und dreifach verloren, sagt man, sie haben die Versehrten und Traumatisierten zu versorgen. Man findet zu Berthas Zeit nicht die richtigen Worte für Männer, die wie ihr Bruder Georg nur körperlich gesund aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt sind. Georg sympathisiert mit den Kommunisten und muss nach Frankreich fliehen. Auf der Suche nach ihrem Bruder, zu dem jahrelang kein persönlicher Kontakt möglich ist, verliebt sich Bertha Hals über Kopf in einen Franzosen. Ihre Liebe auf den ersten Blick steht am Beginn eines schwierigen Lebenswegs zwischen zwei miteinander verfeindeten Nationen. Armand, Berthes große Liebe, übernimmt die Druckerei des Vaters in Villeneuve/Ardèche. Weil der ältere Sohn Pierre im Ersten Welkrieg fiel, lehnt Armands Mutter eine Deutsche als Schwiegertochter ab. Mit ihrer gegen erbitterte Widerstände im Dorf ertrotzten Ehe wagen sich Armand und Berthe wie Pioniere in feindliches Terrain. Als Südfrankreich 1942 von der deutschen Wehrmacht besetzt wird, eskaliert die Situation im Ort. Das Getuschel in Berthes Heimatdorf über ihre roten Haare und ihre Ausgrenzung als "Boche" in Vielleneuve haben die gleichen Wurzeln. Obwohl man Berthe in ihrer neuen französischen Heimat seit langem kennt, verlässt sich kaum jemand auf seine Menschenkenntnis. Im Krieg traut man besser niemandem. - Inge Barth-Grözingers fiktive Berthe, zu der die Autorin durch eine Verwandte ihres Mannes angeregt wurde, steht stellvertretend für die ersten Wagemutigen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem für sie vorgesehenen Stand aufstiegen. Berthes Leben war stets erfüllt davon, ihre Dienstherren und später die eigene Familie zu versorgen. Erst kommt die Pflicht und dann die Suche nach den schönen Dingen, war Berthes Leitmotiv. - Für den Spannungsbogen eines Jugendromans fand ich die Zeitspanne der Handlung von über 40 Jahren zu lang. Berthes Urteil über die Menschen, denen sie dient und denen sie begegnet, wirkt für eine Frau, die 1900 geboren wurde, sehr authentisch. Als Nebenfiguren sind der Autorin die Guten wie die Bösen (Stiefmutter, Schwiegermutter, die "Gnädigste" Frau Pfäfflin, Professor Fabricius, Berthes Schwager als fanatischer Nazi) recht stereotyp geraten. Berthes Schicksalsergebenheit, typisch für eine Frau ihrer Generation, hat mich oft wütend gemacht und ich hätte mir gewünscht, dass sie durch ihre Erfahrungen kritischer geworden wäre. So muss erst Berthes Tochter Anne ihre Mutter darauf hinweisen, dass die Rolle der Frauen sich inzwischen verändert hat. Anne braucht keine Aussteuer, weil sie studieren und ihren Haushalt später selbst finanzieren wird. Berthe ist schließlich auch ohne Aussteuer nach Villeneuve gekommen und hat ihre Arbeitskraft in den Familienbetrieb eingebracht. - "Geliebte Berthe" stellt, streckenweise ausschweifend, in einer sehr anrührenden Liebesgeschichte das deutsch-französische Verhältnis bis in die 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts dar. Inge Barth-Grözingers historischer Jugendroman verdeutlicht am Beispiel eines persönlichen Schicksals zusätzlich sehr eindringlich, wie in der Folge des Ersten Weltkriegs der Nationalsozalismus in Deutschland entstehen konnte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Mingus
Waberer, Keto von

Mingus


gut

Mingus ist eine sehr gut aussehende Chimäre, eine Kreuzung zwischen Mensch und Tier. Sein Schöpfer, den Mingus "Papa" nennt, hat dieses im Labor entstandene Wesen lange vor der Welt verborgen. Nun ist Papa tot und Mingus ist auf das angewiesen, was er in seiner abgeschlossenen Welt lernen durfte. Mingus Schöpfer Leo wollte nicht, dass sein Schützling lesen und schreiben lernt. Mingus kann nur das wissen, was ihm "Papa" beigebracht hat und deshalb müssen wir uns als Leser mit dem zufrieden geben, was Mingus aus seiner eingeschränkten Sicht wahrnehmen kann. Dinge, die Menschen herstellen und benutzen, kann Mingus sehr anschaulich aus seiner Mensch-Tier-Perspektive beschreiben, bei abstrakten Begriffen wird das schon schwieriger. Mingus lebt in einer dystopischen Welt, in der ein ganzer Kontinent unbewohnbar ist und Tiere ausgestorben sind. - Zum Glück für Mingus gerät er auf seinem Weg in bewohnte Zonen an Tara, eine betagte Frau, die im früheren Leben einmal eine fähige Chemikerin war. Tara sollte eigentlich in einer staatlich geduldeten Sekte leben, doch sie hat sich in ein Leben als Vogelfreie abgesetzt. Mit der Erkenntnis, dass Tara von Heuschrecken und ein paar Speisepilzen aus eigenem Anbau lebt und Mingus als Fleischfresser kaum satt zu kriegen ist, ahnt man bereits, welch tragikomische Szenen noch bevorstehen. Eine der insgesamt 7 Erzählerstimmen gehört Nin, weit und breit der einzigen Jugendlichen in Mingus Welt. Nin hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich, über das sie sich mit einer Zuhörerin unterhalten soll, die ihre genetisch optimierten Oberschicht-Eltern für sie bestellt haben. Um Nin vor der feindlichen Umwelt zu schützen, wurde die Haustechnik abgestellt und Nins Roboterhund zerlegt und versteckt. Gonzo, das Robotier wird eine für die Handlung entscheidende Rolle spielen. Das Viech reagiert sehr ironisch. Für diese Programmierleistung muss man Nin Bewunderung zollen - künstliche Intelligenz mit Sinn für Ironie würde ich auch gern programmieren können. - ... Dystopien sind häufig einfach gestrickt, um sprachlich und inhaltlich mühelos konsumiert werden zu können. Leser erwarten das inziwschen. Eine verwüstete Welt nach dem Ende unserer Zivilisation dient als Kulisse, vor der die Figuren um ihr umittelbares Überleben kämpfen und sich auch ineinander verlieben dürfen, da sich die Bücher an eine Lesergruppe ab 14 richten. Die Hauptfiguren empfinden so wie ihre jugendlichen Leser, so dass man sich nicht groß anstrengen muss, um sich in sie hineinzuversetzen. Zu interessanten Fagestellungen, wie genau die Menschen in lebensfeindlicher Umgebung existieren und sich fortpflanzen, kommt es in dystopischen Stoffen nur selten. - Mingus, der als erster Icherzähler auftritt, kann nur das ausdrücken, was ihm bewusst ist. Als Leser ist man sich dieses eingeschränkten Blickes von Anfang an bewusst.. Leider hat Mingus mich am wenigstens überzeugt, weil er zu stark mit der Stimme der Autorin spricht. Auch die anderen Figurenus haben aus verschiedensten Gründen ihren persönlichen Tunnelblick. Mingus Vorgeschichte ist wichtig für das Verständnis der Handlung, wird jedoch nicht weiter vertieft. Deshalb wirkt die Geschichte auf mich wie das obere Achtel eines Eisbergs - sie verbirgt ihren größeren Teil; beim Lesen muss ich ihn mir erst erarbeiten. Da die dystopische Welt außer von Nin mit erwachsenen, teils sehr alten, Figuren bevölkert ist, gibt es für Jugendliche wenig Identifikationsmöglichkeiten. - Die Vorgänge bei den Männer verschlingenden Goyanerinnen schildert die Autorin mit sehr viel Witz, allerdings bezweifele ich, dass diese Anspielungen bei Jugendlichen ankommen. Für eine jugendliche Zielgruppe fehlt dem Buch ein roter Faden. "Mingus" ragt mit pfiffigen Ideen aus dem Dystopien-Durchnitt hervor. Es wird durch die anspruchsvolle Konstruktion aus sieben Erzählerstimmen leider ein Buch sein, das von erwachsenen Kritikern gelobt, aber nur von sehr geübten jugendlichen Lesern gelesen wird.

Bewertung vom 04.01.2017
Keine Zeit wie diese
Gordimer, Nadine

Keine Zeit wie diese


sehr gut

Steve und Jabulile sind ein junges Akademikerpaar aus Johannesburg. Als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtreligiösen Vaters stellt Steve eine Art kulturellen Mischling dar. Jabus Vater dagegen ist als Schulrektor und Gemeindeältester einer Methodistengemeine in der Provinz Kwa Zulu fest in seiner Gemeinde verankert. Jabu ging mit 17 ans Lehrerseminar in Swaziland, die winzige Enklave grenzt an Kwa Zulu. Inzwischen hat sie zusätzlich ein Jurastudium abgeschlossen und ist Mutter einer kleinen Tochter, Sendiswa. "Baba", Jabus Vater, hat seine kluge Tochter bewusst und zu Lasten ihrer Brüder gefördert. Beide sind sich stets bewusst, dass Jabus berufliche Position und eine Ehe zwischen Schwarz und Weiß in der jungen Demokratie Pioniertaten sind. Die Alltagssorgen der jungen Familie unterscheiden sich kaum von denen junger Eltern in anderen Ländern. Wie lässt sich der Beruf (der Mutter!) mit der Kinderbetreuung vereinbaren, wie viel Einmischung der Großeltern in die Beziehung wollen die beiden zulassen? Durch ihren Umzug in eine neue Nachbarschaft werden Steve und Jabu mit dem Strom von Flüchtlingen aus Zimbabwe und dem Kongo konfrontiert, die unter unmenschlichen Bedingungen hausen und Arbeit suchen. Die Zuwanderung hat zu offener Fremdenfeindlichkeit von Schwarzen gegenüber Schwarzen geführt, der die südafrikanische Regierung hilflos gegenübersteht. - Die Beziehung zwischen Steve und Jabu spiegelt im Kleinen die aktuellen Probleme Südafrikas. Steve erlebt sich am Familientisch in der Minderheit, wenn Mutter und Tochter Zulu miteinander sprechen. Steve versteht kein Zulu. Obwohl die Ehe des Mittelschichtpaars im Laufe der Handlung an die 20 Jahre dauert, zeigt er kaum Interesse an der Kultur seiner Frau. Ein Sohn wird geboren, der als Grundschüler Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Jabu wendet sich um Rat an ihren Vater und findet Hilfe in seiner entschiedenen Ansicht, dass Kinder nicht allein geliebt werden sollen, sondern Pflichten brauchen. Gary verbringt zukünftig die Schulferien im großväterlichen Clan und entwickelt sich in einer großen Gruppe von Cousins sehr positiv. Wie wird Steve wohl reagieren, wenn wegen seiner Unentschlossenheit in Erziehungsfragen zukünftig die Werte des Großvaters in seiner Familie dominieren werden? Unterbrochen von einer Reise Steves zu einer Tagung in England mit anschließendem klischeehaften Seitensprung sehen sich die Reeds den Sorgen der weißen Mittelschicht um die Schulkarriere ihrer Kinder gegenüber. Beruflich wird Jabu mit der in Südafrika alltäglichen Gewalt gegen Frauen konfrontiert; auch der Prozess gegen Jacob Zuma (2005) bewegt sie. Jabu muss sich eingestehen, dass die Werte der ehemaligen Freiheitskämpfer des ANC und der Generation ihres Vaters im Kampf gegen Aberglauben und Gewalt offensichtlich untauglich sind. Der Auseinandersetzung mit ihrem Vater, der sich im Lauf der Handlung nicht verändert und stramm zu Zuma steht, weicht Jabu aus. - Für die Leser überraschend wird die Auswanderung nach Australien geplant. Die Ehepartner sind gezwungen, sich realistisch mit ihren Berufsaussichten und neuen Anforderungen auseinanderzusetzen. Der zeitliche Ablauf der Ereignisse ist nicht einfach nachvollziehbar, allein aus dem Alter der Kinder können einige Szenen eingeordnet werden. Nadine Gordimer unterhält ihre Leser einerseits duch die bissige Ironie, mit der sie die Nachkommen der ehemaligen Kolonialmächte schildert, andererseits irritiert ihr erhobener pädagogischer Zeigefinger. Wer bis zum Schluss des Buches durchhält, erfährt zum Ende, was man gern früher gewusst hätte, um die plötzlichen Auswanderungspläne der Reeds zu verstehen. - Nadine Gordimer hat mit "Keine Zeit wie diese" einen aktuellen politischen Roman vorlegen wollen. Um Leser weltweit zu erreichen und nicht nur die, die mit den Verhältnissen im Land vertraut sind, hätten die Ereignisse in der Familie Reed und Südafrikas aktuelle Probleme jedoch etwas gefälliger miteinander verknüpft sein dürfen