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Volker M.

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Insgesamt 125 Bewertungen
Bewertung vom 16.01.2024
Das Leben der Vivian Maier
Marks, Ann

Das Leben der Vivian Maier


ausgezeichnet

Die Entdeckung der Fotografin Vivian Meier war eine internationale Sensation. 2007 kam der Inhalt einiger Lagerräume zur Zwangsversteigerung, nachdem die Mieterin ihre Lagergebühren nicht mehr gezahlt hatte. Neben Tonnen alter Zeitungen fanden sich fast 150.000 Fotos und Negative in der Hinterlassenschaft, die aber erst einige Jahre später mediale Aufmerksamkeit erhielten. Meiers Fotos spielen mittlerweile in einer Liga mit den Großen ihrer Zeit, werden in Ausstellungen gezeigt und in Galerien gehandelt.

Die Person Vivian Meier blieb dennoch weitgehend im Dunkeln, denn für Interviews war es zu spät. Sie starb 2009 an den Folgen eines schweren Sturzes und es sollte sich bald herausstellen, dass die Recherche nach ihrer Biografie ungeahnte Schwierigkeiten mit sich brachte. Vivian Meier hatte Zeit ihres Lebens mit niemandem über ihre Herkunft gesprochen, sie war unfähig, längere Freundschaften aufrechtzuerhalten und brach den Kontakt zu Freunden, Arbeitgebern und Bekannten oft völlig unvermittelt ab. Schon zu Lebzeiten war sie ein Mysterium, nach ihrem Tod schienen alle Spuren ins Leere zu laufen.

Dass es Ann Marks dennoch gelang, diese geheimnisvolle Biografie zu enthüllen, ist ihrem detektivischen Spürsinn und einer weit überdurchschnittlichen Hartnäckigkeit zu verdanken, denn wie sich zeigte, ist kaum ein biografisches Dokument in Vivian Meiers Genealogie ohne Fälschung oder Verfälschung ausgekommen: Schon ihre schillernden Eltern und Großeltern verwischten ihre Herkunft, es wimmelt von falschen Geburts- und Heiratsurkunden, einige ihrer Vorfahren gerieten mit dem Gesetz in Konflikt und nicht wenige litten an ernsthaften psychischen Störungen – genau wie Vivian Meier, die im fortgeschrittenen Alter ein ausgewachsenes Messie-Syndrom entwickelte. In dieser undurchsichtigen Gemengelage ist es Ann Marks gelungen, die Wahrheit aufzudecken und mit einigen Menschen zu sprechen, die Vivian Meier noch persönlich kannten. Hier entsteht der Eindruck, als habe man es mit zwei völlig unterschiedlichen Personen zu tun: Die einen beschreiben Meier als empathisch, witzig und liebevoll, die anderen als eiskalt, emotional verkrüppelt und empathielos. Auch Meiers Fotos von sozial Abgehängten zeigen oft eine gnadenlose Distanzlosigkeit, die für die Portraitierten nicht selten entwürdigend gewesen sein muss. Diese beiden Persönlichkeitsbilder zusammenzubringen, ist nicht einfach, aber Ann Marks entdeckt Muster, die sich psychologisch nachvollziehen lassen und auch wenn postume psychologische Diagnosen immer mit großer Vorsicht zu genießen sind, ist die Datenlage (auch in Selbstzeugnissen) doch so umfangreich, dass sie in diesem Fall überzeugen. Mich hätte noch interessiert, welche künstlerischen Einflüsse auf Vivian Meier wirkten, denn es ist auffällig, dass sie immer auf der jeweiligen Höhe ihrer Zeit fotografierte, aber dieses Rätsel wird wohl nie gelöst werden, da in ihrem Nachlass keine Fotobücher vor 1976 erhalten sind. Dass sie sich auch davor intensiv mit zeitgenössischer Fotografie beschäftigt hat, steht außer Frage.

Ann Marks schreibt in einem sehr sachlich nüchternen Stil und neigt im letzten Drittel des Buchs ein wenig zu inhaltlichen Redundanzen und der detaillierten Bildanalyse einzelner Fotos (die sich jedoch nicht räumlicher Nähe zum Text befinden), aber die sachliche Eindringtiefe ist angesichts der Schwierigkeiten dennoch bemerkenswert. Einige hundert Fotografien aus Meiers Nachlass illustrieren sowohl ihre Lebensgeschichte als auch die künstlerische Entwicklung, wobei nicht nur zahlreiche der bei Schirmer-Mosel bereits publizierten Meisterwerke in Verkleinerung zu sehen sind, sondern auch Material aus dem erweiterten Familienalbum. Im Anhang finden sich aufschlussreiche Angaben zur Informationsbeschaffung und den persönlich interviewten Zeitzeugen, sowie ein ausführliches Quellenverzeichnis.

Auch wenn ein Rest von Geheimnis bleibt, wird man Vivian Meier näher als in diesem Buch nicht mehr kommen können.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.01.2024
BILD MACHT POLITIK

BILD MACHT POLITIK


ausgezeichnet

„Bild – Macht – Politik“ ist der Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung, die noch bis zum 3. März in der Österreichischen Nationalbibliothek stattfindet. Es ist die größte Einzelausstellung Okamotos, seit er 1985 mit 69 Jahren Selbstmord beging, und sie würdigt nicht nur einen bedeutenden Reportagefotografen, sondern insbesondere den Künstler, der die Sehgewohnheiten der Bildberichterstattung im Nachkriegsösterreich maßgeblich beeinflusst hat.

In den USA ist Yoichi Okamoto besonders durch seine Arbeit als offizieller Fotograf des Weißen Hauses in der Amtsperiode Lydon B. Johnsons bekannt. Er dokumentierte buchstäblich jeden Schritt des Präsidenten und das, obwohl er zeitweise massivem öffentlichem Druck ausgesetzt war. Johnson entließ ihn daraufhin zwar, stellte ihn aber kurz darauf wieder ein. Bis heute ist die Amtszeit Johnsons die am besten dokumentierte aller amerikanischen Präsidenten.

Okamotos Bildästhetik ist stark von Henri Cartier-Bresson beeinflusst, dessen suggestives und emotionales Konzept er perfekt beherrscht. Dynamischer Bildaufbau, eine exzellente Balance der Kontraste gepaart mit einem großen erzählerischen Talent machen seine Fotos zu Paradebeispielen für herausragende Bildreportagen in der Nachkriegszeit. Ab 1945 arbeitete Okamoto in Salzburg für die Militärverwaltung und wurde damit zum Dokumentar des kriegszerstörten Wien, eine Aufgabe, die er mit viel Empathie und Feinfühligkeit umsetzte. Auch wenn er nicht dezidiert zu den Sozialfotografen zählt, kannte er keinerlei Berührungsängste zu sozial Benachteiligten und hatte ein offenes Auge für soziale Missstände.

Der Ausstellungskatalog ist stark biografisch strukturiert, mit vielen Beispielen aus Okamotos öffentlichem und privatem Portfolio, wobei seine Wiener Zeit und die Jahre im Weißen Haus im Fokus stehen. Die Autoren der Einzelbeiträge setzen sein Werk aber immer auch in einen größeren Kontext und untersuchen den Einfluss, den Okamotos Bilder auf die öffentliche Wahrnehmung hatten. So wie man Okamotos Vorbilder auf den ersten Blick erkennt, so unzweifelhaft ist die Wirkung, die seine Bilder auf die nachfolgenden Fotografengenerationen bis in die Gegenwart hatte.

Die mit großer Kennerschaft zusammengestellte Bildauswahl konzentriert sich allerdings nur auf Okamotos Glanzzeit zwischen 1945 und ca. 1970, das spätere Werk für TIME LIFE, die amerikanische Umweltschutzbehörde oder das Smithsonian Institute werden weitgehend ausgeblendet, ebenso wie sein Selbstmord nicht erwähnt wird. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Aspekte zum Verständnis der Person von Bedeutung wären, die im Katalog vor allem auf der Arbeitsebene sichtbar wird. Der Mensch Okamoto bleibt dagegen weitgehend im Dunkeln.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.01.2024
Wand- und Bodenstanduhren der Habsburgermonarchie
Andréewitch, Stephan; Archard, Paul; Graef, Alexander

Wand- und Bodenstanduhren der Habsburgermonarchie


ausgezeichnet

Österreichische Uhren wurden schon immer etwas unterschätzt. Auf Auktionen und im Handel tauchen sie zwar regelmäßig auf, aber die Sammlerschaft rekrutiert sich hauptsächlich aus Österreich, weshalb sie preislich, verglichen mit ihrer handwerklichen Qualität, noch relativ erschwinglich sind. Ein Grund ist sicherlich, dass die österreichische Uhrmacherei in der Forschung deutlich unterrepräsentiert war und viele Aspekte noch nicht systematisch untersucht wurden. Einen wesentlicher Schritt in diese Richtung haben Stephan Andréewitch, Alexander Graef und Paul Archard mit ihrer Monografie zu den Wand- und Bodenstanduhren der Donaumonarchie gemacht. Es ist nicht nur ein exzellenter Bildband, mit Abbildungen bedeutender Uhren, die zum Teil der Öffentlichkeit auch nicht zugänglich sind, sondern er liefert die umfangreichste Zusammenstellung österreichischer Großuhrmachermeister und deren Mitarbeiter, ihrer biografischen Daten und Wirkungszeiträume, die es derzeit gibt. Anhand von alten Zunftbüchern ist es nach jahrelanger Arbeit gelungen, den publizierten Bestand um Tausende, bisher nicht erfasste Namen zu erweitern und auch bekannte Uhrmacher mit wesentlichen Informationen, wie z. B. Lebensdaten, Adressen, erteilten Privilegien und bedeutenden Einzelwerke in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise wird erkennbar, dass ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts Österreich ein wesentlicher Player in der internationalen Uhrenproduktion wurde und auch technologisch eigene Beiträge lieferte. Vor allem im Bereich der Gebrauchsuhren wurden Wien und Prag zu Hotspots der europäischen Uhrenproduktion, mit teilweise beeindruckendem Output.

Neben den wichtigsten Protagonisten und ihrer Biografie liegt ein weiterer Fokus auf dem Ausbildungsgang mit vergleichenden Auszügen aus den Zunftordnungen verschiedener Städte. Auch die merkantilen Aspekte wurden untersucht. Die regelmäßig stattfindenden Gewerbeausstellungen in Wien, Pest und Prag zeigten auch Produkte der österreichischen Uhrmacherkunst und auf den Weltausstellungen in London 1851 (die erste überhaupt) und Wien 1873 waren sie ebenfalls präsent.

Ein wichtiges Kapitel ist die Stilkunde, die insgesamt drei Perioden formal unterscheidet. Hier werden auch die typischen Stilelemente erkennbar, die österreichische Uhren grundsätzlich kennzeichnen, wie die typischen Dachkonstruktionen ab etwa 1800 („Laterndluhr“ und später die vereinfachte „Dachluhr“) und die absolut charakteristischen halbkreisförmigen bzw. sich verjüngenden unteren Abschlüsse bei Wanduhren, die dann im Regulatorstil ab 1850 im ganzen deutschsprachigen Raum große Verbreitung fanden. Der anschließende, sehr umfangreiche Katalog mit qualitätsvollen Beispielen aus allen Großuhrenkategorien, Technologien, mit und ohne Komplikationen, ergänzt die vorangegangenen Kapitel mit inhaltlich ausführlichen Steckbriefen und wirklich hervorragenden Aufnahmen, die oft auch Einblicke in die (ausgebauten) Uhrwerke zeigen.

Im wegen des Umfangs in einen zweiten Band ausgegliederten Lexikon sind über 14000 Uhrmacher erfasst, die sich nicht nur aus den Zunftbüchern der Hauptstadt Wien ableiten, sondern auch Ofen, Pest und Prag berücksichtigen. Zwar sind die originalen Wiener Zunftbücher irgendwann nach 1973 aus dem Uhrenmuseum verschwunden, aber es gab zum Glück noch Abschriften aus den Zwanzigerjahren, die entsprechend bearbeitet wurden. Auch wenn damit noch einige Zunftbücher der kleineren Produktionsorte auf ihre Auswertung warten, ist hiermit ein sehr wesentlicher Schritt vollzogen und vermehrt das publizierte Wissen enorm.

„Die Wand- und Bodenstanduhren der Habsburgermonarchie“ darf man mit Fug und Recht als die zukünftig maßgebliche Referenz ansehen, und das nicht nur für Großuhren, denn viele Betriebe stellten ebenfalls Kleinuhren her.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.01.2024
The Art Deco Style
Duncan, Alastair

The Art Deco Style


ausgezeichnet

Art Deco war ursprünglich ein ausgesprochener Luxusstil, dessen Objekte als Einzelstücke oder in Kleinstserien hergestellt wurden. Dass dieser Stil in den Dreißigern zum Mainstream wurde und dann auch in die Massenproduktion ging, hat diesen Luxusaspekt etwas überdeckt, aber ohne die frühen Kunden und Sammler hätte sich das Art Deco nie durchgesetzt. Alastair Duncan hat in seinem umfangreich illustrierten Band genau diese Avantgarde-Sammlerschaft in den Focus gestellt, die als Zündfunke und Wegbereiter dienten.

Zunächst stellt er einige der ganz frühen Vertreter der Arts Décoratifs vor, die teilweise schon ab 1915 eine Art Proto-Stil produzierten. Manche von ihnen haben diese Ambitionen bald wieder aufgegeben, andere sind früh verstorben, aber es gibt auch Beispiele wie Eileen Gray, die zu den frühen (wenn auch nicht den ersten) Protagonisten zählt und sich stilistisch von da aus fortentwickelte. Allen gemeinsam ist, dass sie entweder Franzosen sind, oder stark von einem Aufenthalt in Paris beeinflusst wurden. Art Deco ist primär ein französischer Stil, der sich erst Mitte der Zwanziger langsam internationalisiert.

Der Hauptfokus liegt allerdings auf den sehr wohlhabenden Sammlern (auch wenn es im engeren Sinn zunächst ausschließlich Kunden sind), die sich im neuen Stil einrichten ließen. Darunter sind überraschend viele Personen aus der damaligen Modebranche, die selber eigene Modehäuser führten und in der High Society eng vernetzt waren. Die im Art Deco gestalteten Verkaufsräume haben daher einen nicht geringen Anteil am Erfolg gehabt. Alastair Duncan stellt die Personen in prägnant geschriebenen Biografien vor und zeigt parallel in historischen Aufnahmen die Inneneinrichtungen und einzelne, herausragende Stücke, die später mit gesicherter Provenienz in Auktionen versteigert wurden oder in Museen landeten. Duncan hat auch nicht übersehen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Stil schlagartig verschwand und um 1970 erst wiederentdeckt wurde. Auch hier waren Couturiers wie Karl Lagerfeld und Yves Saint Laurent die Vorreiter. Heute gehören Art Deco Möbel mit Provenienz und von bedeutenden Künstlern zu den am höchsten bewerteten Möbeln überhaupt.

Im letzten Kapitel stellt Duncan die neue Generation der Sammler vor, meist reiche Amerikaner, die historische Statussymbole suchen. Hier sieht man deutlich, wie besondere Stücke in einem Kreislauf von 30 bis 40 Jahren immer wieder auf dem Markt kommen, bis sie am Ende in einem Museum landen. Leider nur zu oft im Depot, wo dann bedauerlicherweise niemand mehr einen Nutzen von ihnen hat.

Das hervorragend illustrierte Buch beleuchtet eine ganz neue Facette in der Entwicklung des Art Deco und zeigt auch, wie vielgestaltig der Stil in der Frühphase war. Stets überraschend und in der Materialauswahl und -verarbeitung von höchstem Anspruch getragen.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2024
China to go
Sieren, Frank

China to go


schlecht

Frank Sieren gilt allgemein als „Chinakenner“, jedoch bekommt das Bild langsam Risse. Sein neues Buch „China to go“ bezieht eine Position, die sich vordergründig als neutral bezeichnet, indem der Autor vorgibt, die „Pros“ und „Contras“ gegeneinander abzuwägen, dann aber in stereotyper Regelmäßigkeit die Sicht Chinas als die „richtige“ darstellt und keine Gelegenheit auslässt, den Westen und insbesondere die USA zu kritisieren.

Besonders auffällig ist, dass Sieren sehr gerne Studien zitiert, die im Westen durchgeführt wurden und zu dem Schluss kamen, dass entweder Chinas moralische Verfehlungen halb so wild sind oder China technologisch und gesellschaftlich in fast jeder Hinsicht überlegen ist. Interessanterweise werden die genauen Quellen kaum jemals zitiert, sodass eine Überprüfung nur selten möglich ist. Es gibt auch kein summarisches Quellenverzeichnis am Ende. Die Studienergebnisse stehen also unkommentiert im Raum und Fakten, die dem entgegenstehen, werden schon mal gerne „übersehen“. Die Öffentlichkeit weiß z. B. von 114 in China inhaftierten Journalisten, aber Frank Sieren stellt nur fest, dass das bei 1,4 Milliarden Einwohnern ja nur sehr wenige wären und in der Türkei säßen viel mehr Kritiker im Gefängnis. Und die Türkei sei sogar NATO Mitglied! Mit dem Hinweis, die anderen seien noch viel schlimmer, lässt sich fast jede Schandtat relativeren.

Die auf schnellen Konsum getrimmten Kapitel sind selten länger als 4 Seiten und neigen dementsprechend zu starken Verkürzungen, die dann fast immer zu Gunsten Chinas ausgehen. Sieren begründet diesen Telegrammstil mit der „TikTok-Generation“, die größere Informationsmengen nicht verarbeiten könne. Nun ja, es sind genau diese Köpfe, die China schon immer gerne erreichen wollte.

Ein besonders übles Kapitel ist aus meiner Sicht dem Thema „Meinungsfreiheit“ gewidmet. Sieren ist der Überzeugung, dass Kritik an der Politik der KP auch in China möglich sei. Das darf er gerne den 114 Journalisten oder der Million Uiguren erklären, die genau deshalb gerade inhaftiert sind. Auch zu Maos Zeiten gab es bekanntlich die Möglichkeit, offen Kritik zu üben. 1956 ließ er unter dem Motto „Lasst 100 Blumen blühen“ die Dämme brechen, aber nur, um seine Feinde zu identifizieren und sie anschließend zu liquidieren. In China sitzt die Zensurschere mittlerweile fest in den Köpfen von Medien und Bevölkerung, da braucht man nur mal öffentlichkeitswirksam ein paar Minister oder reiche Unternehmer verschwinden zu lassen und schon wissen die kleinen Leute wieder, was sich zu kritisieren schickt.

Zweifellos gibt es vieles, was in der EU und den USA nicht gut läuft und auch nicht alles, was in China passiert, ist grundsätzlich schlecht. Durch die aus meiner Sicht manipulative Darstellung von Frank Sieren ist es aber fast unmöglich, in diesem Buch die positiven von den negativen Seiten wirklich zu unterscheiden. Zu oft ertappt ein kundiger Leser den Autor bei Auslassungen und teilweise wirklich dreisten Verdrehungen. Kann man da den Rest noch glauben?

China versucht seit vielen Jahren auch im Westen die Deutungshoheit über sein menschenverachtendes Gesellschaftssystem zu erlangen und Bücher wie dieses sind im Politbüro nicht nur willkommen, sondern sie gehören zur Langzeitstrategie. „Am chinesischen Wesen soll die Welt genesen“. Frank Sieren hat sich mit diesem Buch jedenfalls einen Bärendienst erwiesen. Ernst nehmen kann ich ihn nicht mehr.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)