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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 25.06.2008
Würdest du bitte endlich still sein, bitte
Carver, Raymond

Würdest du bitte endlich still sein, bitte


ausgezeichnet

Wie soll Literatur sein? Soll sie uns alles beschreiben, jeden Gedanken vorgeben, zum Zurücklehnen verführen und den Autor mal machen lassen, damit er uns unserer eigenen Welt entführt? Wie genau muss Carver hingesehen, hingehört haben, um diesen Ton in seiner Sprache zu finden. Er filtert seine Erzählungen bis zum Minimalismus hin, und wie in der Musik, fehlen einem die überzähligen Töne nicht, da der Rest intensiver nachklingt als alle Harmonien zuvor. Carvers Helden sind zumeist einfache Leute. Seine Überschriften wie aus einem Dialog entrissen: Was machen Sie in San Francisco?, Versetzen Sie sich in meine Lage, Allein der Gedanke. Carvers Alltag besteht darin, in ihn hineinzuschneien und seine Helden für einen Moment ins Scheinwerferlicht zu zerren. Das genügt, damit sie sich durch ihre Handlungen, lakonischen Gespräche entblättern. Ob Carver über Nachbarn schreibt, über Väter, allesamt sind sie uns vertraut. Manchmal hofft man gar, dass man nicht so ist wie sie. So wortkarg, so hoffnungslos, so blind glücklich. Wofür andere Romane schreiben, schafft Carver oftmals um die zehn Seiten. Ein Augenaufschlag. Er fordert uns auf, zwischen den Zeilen zu lesen. So wie im richtigen Leben, wo wir auch zweimal hinschauen, nachfragen, um uns zurechtzufinden, und doch zumeist mehr dem Unausgesprochenen vertrauen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 23.06.2008
Athena
Banville, John

Athena


ausgezeichnet

Aus der Erinnerung betrachtet erscheint die Liebe oft wie Lug und Trug. Man hat sich selbst etwas vorgemacht, man wurde vorgeführt und hat das alles noch überhöht. Wie soll man da seiner eigenen Wahrheit trauen dürfen? Für Morrow, den Kunstexperten, stellt sich das Ganze weitaus schwieriger dar. Er muss zertifizieren, eine Entscheidung fällen, ob ein Gemälde echt oder falsch ist. Und weil er bei der Untersuchung von acht niederländischen Barockbildern sich in A. verliebt, schreibt er nun alles auf, weil er versprochen hat, ihr zu schreiben. Wobei wir Leser wieder bei der Einschätzung von wahr oder unwahr sind. So wie Bilder aus dem eigenen Blickwinkel betrachtet, Geschichten angenommen oder als Lüge dargestellt werden, die Liebe einem gut oder schlecht bekommen kann, liegt alles immer auf der Waage, um austariert zu werden, um für uns zu entscheiden, ob wir einem Anblick trauen dürfen oder nicht. John Banville versteht es geschickt, das Unklare durch den Mythos der Athena zu untermauern, in der Realität eine Tante einzubauen, bei der sich herausstellt, dass sie gar keine Tante ist. Alles wird in Zweifel gezogen. Morrow darf seiner eigenen Wahrnehmung nicht sicher sein. John Banville ist ein Spiel zwischen echt und unecht gelungen, wobei seine Sprache einen Sog entwickelt, dass wir gerne mit Morrow der Versuchung von Lug oder Trug verfallen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 23.06.2008
Abendländer
Ford, Richard

Abendländer


ausgezeichnet

Fords Helden retten sich ins Unabänderliche. Zwar sind sie sich bewußt, dass ihr Leben durchaus verbesserungswürdig ist und sie verschonen sich auch nicht vor rücksichtsloser Analyse, doch schrecken sie vor den Veränderungen zurück, die bescheiden ausfallen, wenn trotzdem der Mut dazu aufgebracht wird. Man wechselt den Beruf, die Frau, den Ort, begibt sich auf eine Reise. Dass es um Charley Matthews und Helen Carmichael nicht zum Besten steht, spürt der Leser schnell. Die Reise nach Paris, um dort den französischen Lektor zu treffen, dient der Abwechslung. Dabei spielt das Klischee Frankreich, der Mythos Paris eine große Rolle. Doch was als Ausbruch geplant war, wird schnell ausgebremst. Der Lektor ist nicht da, Paris grau und mit der Liebe zu einer acht Jahre älteren Frau steht es auch nicht zum Besten. Matthews irrlichtert durch eine weihnachtliche Hauptstadt. Und wer den Frust kennt, der einen während der besinnlichen Tage im Nacken packen kann, ist bestens auf die Odyssee zweier Amerikaner in der Fremde vorbereitet. Gegen Ende sagt Matthews über Hellen: „Sie war nicht meine Frau, aber ich kannte sie sehr gut.“ Und so ist das mit Fords Helden, sie scheinen alles zu wissen, alles zu kennen, aber sie gehören sich nicht mal selbst, sie treiben auf der Suche nach etwas Halt umher. In Richard Fords meisterhafter Novelle versteht er es einmal mehr, seine Helden zu Freunden zu machen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 23.06.2008
Marat/Sade
Weiss, Peter

Marat/Sade


ausgezeichnet

Was für eine geniale Idee: die Hauptakteure der französischen Revolution in eine Irrenanstalt zu stecken und ausgerechnet den Marquise de Sade zum Zeremonienmeister zu ernennen. Der deutsche Titel lautet: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Dass de Sade einen Großteil seines Lebens in solchen Hospizen zubrachte, wenn er nicht gleich ganz weggeschlossen wurde, bildet dabei die Grundlage für dieses Stück Welttheater. Der französischen Revolution hatte es de Sade zu verdanken, dass er zwischenzeitlich wieder mal auf freien Fuß gesetzt wurde, so ist die gedankliche Zusammenführung beider nahe liegend. Für Regisseure stellt eine Inszenierung dieses durch antiken Chor und den beinah dokumentarischen angelegten Figuren von Marat, über Corday zu De Sade und den Insassen des Hospizes eine Herausforderung dar. Eine Vielzahl von Stimmen rückt die Ermordung des Jean Paul Marat noch einmal in den Mittelpunkt. Gleichzeitig schafft es Weiss, indem er eine Inszenierung in der Inszenierung zeigt, nach unserem Verhältnis zu dieser Revolution zu fragen. Es gibt doppelte Böden, wie klare Aussagen, das Spiel, wie die Anklage. Es gibt sogar ein Urteil, das gefällt wird. Ein buntes, ein schillerndes Theater abseits klarer Antworten.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 21.06.2008
Mangans Vermächtnis
Moore, Brian

Mangans Vermächtnis


weniger gut

Auf was verrückte Ideen man doch kommen kann, wenn das eigene Leben in Trümmern liegt. Mangan entdeckt die Familie wieder, nachdem seine Frau einen anderen liebt, kramt in Familienerinnerungen, sucht in Fotos Ähnlichkeiten und bricht zur großen Reise über den Atlantik nach Irland auf, wo er auf eine Familie trifft, die so ganz anders ist, als er sie sich erträumt hat. Vielleicht wäre es ratsamer gewesen, die Büchse der Pandora nicht zu öffnen. Vor allem übersieht Mangan eine der wichtigsten Leitfäden durchs Leben: Man nimmt sich überallhin mit hin. So scheitert der selbst verordnete Versuch Mangans, neue Wurzeln zu schlagen, und er kehrt zum sterbenden Vater nach Amerika zurück. Um einige familiäre Abenteuer reicher, aber weiterhin ruhelos auf der Suche nach dem einen Ort, an dem er sich geborgen fühlt. Nicht Brian Moores bester Roman. Zwar trifft man in ihm auf eine Reihe skurile Figuren und überraschender Wendungen, doch erscheint der Roman seltsam unhomogen und zerfällt in einen Amerikateil und eine Geschichte, die in Irland spielt. Jemand, der Brian Moore als Erzähler entdecken will, greift lieber zu Die Große Viktorianische Sammlung oder Dillon.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 21.06.2008
Blaubart
Frisch, Max

Blaubart


sehr gut

Freispruch aus Mangel an Beweisen. Ein Freispruch zweiter Klasse setzt einen zwar wieder auf freien Fuß, aber es gilt von da an, mit dem Verdacht zu leben, dass man es womöglich getan hat. Das Leben eines Verdächtigen ändert sich schlagartig, die Patienten bleiben weg und er verfügt plötzlich über eine Menge Zeit für sich. In seine Tage geworfen tauchen Fragen auf, pochen auf Antworten, melden sich Stimmen von Lebenden wie Toten, von Menschen, die im Prozess ausgesagt haben, oder sich über ihn äußern, weil sie ihn seit Jahren kennen. Wie schuldig ist dieser Arzt? Wie unschuldig? Max Frisch setzt ein Fixierbild zusammen, aus dessen Splitter, Meinungen, Lügen die Wahrheit herausgefiltert werden soll. Und obwohl ein Mord eine sehr konkrete Angelegenheit ist, Mörder sich durch Indizien und DNA überführen lassen, zeichnet Max Frisch vor allem ein Bild des Ungefähren, zu dem jeder, der davon erfährt, sich eine eigene Meinung bilden soll. Wer will da nicht gestehen, angesichts des Materials, das über ihn zusammengetragen wird?
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.06.2008
Deutschstunde
Lenz, Siegfried

Deutschstunde


ausgezeichnet

In einer Besserungsanstalt einen Aufsatz über die Pflicht zu schreiben, ist schon ein Anachronismus in sich. Kein Wunder, dass Siggi Jepsen angesichts seiner Kindheit daran scheitert. Er muss sich einer Vergangenheit stellen, in der die Pflicht eine deutsche Tugend, in der das Land dem Nationalsozialismus verfallen war. Ausgerechnet sein Vater ist Ausdruck dieses Pflichtgefühls schlechthin, in dem er das Malverbot für einen expressionistischen Maler überwacht. Wie die Nationalsozialisten ein Land abseits ihrer Parteigänger hat überwachen können, wird in dieser eindringlichen Geschichte geschildert. Die Menschen funktionieren über Freundschaftsgrenzen hinweg, fühlen sich berufen, Anordnungen durchzusetzen, zu gehorchen. Doch Siegfried Lenz erschafft auch ein Stück Widerstand in der Figur des Jungen, der sich dem Vater in seiner blinden Pflichterfüllung widersetzt, indem er dem Maler hilft, seine Bilder zu verstecken. Dass Verblendung häufig in Starrsinn übergeht, zeigt Lenz in dem Verhalten des Vaters nach dem Krieg, indem er keinen Zweifel zulässt, weiterhin glaubt, seine Pflicht erfüllen zu müssen, indem er die versteckten Bilder in Brand setzt. Siegfried Lenz ist mit der Deutschstunde sowohl gelungen, seine Leser einen Einblick in den nationalsozialistischen Alltag zu geben, als auch die Frage aufzuwerfen, wie hätte man selbst reagiert, neigt man nicht selber dazu, sich hinter dem aufgetragenen Notwendigen zu verstecken. Dass ausgerechnet Siggi Jepsen, der zu helfen versucht hat, in der Besserungsanstalt landet, ist an Hohn kaum zu überbieten. Siegfried Lenz kennt sein Land, die Menschen darin. Ihnen beim Leben zuzusehen, kann manchmal erschrecken. Nach dem Fall des Dritten Reiches haben viele behauptet, sie hätten nichts von Gräueln gewusst. Sie hätten nur Befehle ausgeführt. Wie ein solches Leben im Kleinen, in der Nachstellung, in der Unterdrückung aussieht, das alles formt der Autor zu einer mitreißenden Geschichte.
Polar aus Aachen

6 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.06.2008
Butterfield 8
O'Hara, John

Butterfield 8


sehr gut

In Zeiten wirtschaftlicher Verunsicherung erscheint einem die Lebe das einzig Verlässliche zu sein. Vor allem jene, die man selber empfindet. Ist die eigene Ehe erst in eine Sackgasse geraten, sucht man sie in einem Seitensprung. Der Zufall steht im Mittelpunkt von John O'Hara sprachlich ausgereiftem Roman, der das Mädchen Gloria und den Ehemann Weston zusammenführt. Aus einer Sektlaune heraus, nach einer durchzechten Nacht. Es kommt im Verlauf zu einigen Missverständnissen, die Glorias Leben direkt in die Tragödie führt. Am Anfang steht ein mitgenommener Pelzmantel, der nicht einmal gestohlen ist, auf den Gloria vielmehr Anspruch erhebt, weil sie sich von Weston in der Nacht zuvor brutal behandelt fühlt. Weston ist in seiner behüteten Welt mit Ehefrau und Arbeit triebgesteuert. Sein Verlangen verdeckt die Leere. Dass ein fehlender Pelzmantel das Konstrukt zum Einsturz bringt, das sich sein Leben nennt, wird von O'Hara messerscharf und ironisch beschrieben. Vor allem wenn Weston dem Ende seiner Ehe entgegenwirken will, indem er Gloria einen Heiratsantrag macht, und sie ausgerechnet in dem Moment verliert, als er sie zu überreden versucht, sich ihm in einer stickigen, wie eine Absteige aussehenden Schiffskabine hinzugeben. John O'Hara ist mit Butterfield 8 ein Roman gelungen, an dessen Figuren man sich lange erinnern wird. Die Geschichte spielt zu einer Zeit, als viele Träume sich in Luft aufgelöst hatten. In Weston Ligget gelingt dem Autor das Portrait eines Mannes, das zeigt, wie gefährlich es sein kann, sich Ersatzträumen hinzugeben. Die heimliche Heldin ist jedoch Gloria Wanderous. In ihrer Zeit wäre sie wegen ihres Lebenswandels sicher als Flittchen bezeichnet worden. John O'Hara zeichnet sie auf Grund ihrer schrecklichen Vergangenheit mit so viel Lebenswillen aus, dass es faszinierend ist, sie bei ihrem scheinbar leichtfertigen Überlebenskampf zu beobachten. Ein Roman voller Facetten und tieferer Wahrheiten.
Polar aus Aachen

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