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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 820 Bewertungen
Bewertung vom 24.08.2021
Das kurze Glück der Gegenwart
Kämmerlings, Richard

Das kurze Glück der Gegenwart


gut

Die zehn besten Bücher der letzten zwanzig Jahre

Wem Literatur mehr bedeutet als ein paar vergnügliche Lesestunden, der wird auch gerne hin und wieder mal ein Sachbuch lesen, das Aspekte seiner bevorzugten Kunstgattung mit wissenschaftlicher Expertise beleuchtet. Richard Kämmerlings hat mit «Das kurze Glück der Gegenwart» ein solches Buch vorgelegt, er widmet sich darin der deutschsprachigen Literatur seit 1989, bei der er als Literatur-Wissenschaftler deutliche Defizite an Gegenwärtigkeit konstatiert und bedauert.

Als Beispiel führt er in der Einleitung an, dass der ultimative Wende-Roman nicht geschrieben wurde, «… so als sei es unter der Würde des Schriftstellers, einen naheliegenden, sich für eine erzählerische Bearbeitung geradezu aufdrängenden Gegenstand zu wählen». Wenn aber der Zeitbezug fehle, wenn gegenwarts-bezogene Erkenntnisse oder Denkimpulse also nicht zu erwarten wären, warum sollte sich der Leser dann überhaupt den Neuerscheinungen zuwenden? Es geht ihm also darum, eine Literatur einzufordern, bei der es nicht nur um das Private oder das Historische geht, sondern auch um die gegenwärtigen Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, also um politische Strömungen, ökonomische Desaster, kulturelle Trends und wissenschaftliche Erkenntnisse.

In neun thematisch ganz unterschiedlichen Kapiteln geht Richard Kämmerlings wohlgemut in medias res, wobei er mit Berlin beginnt als «Topos des Terrors». Er konstatiert eine Mitte der neunziger Jahre einsetzende Umwertung der Gegenwartsliteratur, die mit «Faserland» von Christian Kracht eingeleitet wurde und vehement das Hier und Heute ins Zentrum stellt. Aber auch Klagenfurt ist für ihn «… der Ort, an dem sich die Veränderungen, die Verschiebungen des literarischen Feldes manifestieren». Als Enfant terrible ist Maxim Biller für ihn der Vorreiter eines thematischen Umdenkens, das mit dem später verbotenen Roman «Esra» seinen medialen Höhepunkt fand, weil er erzählte Wirklichkeit war und nicht Fiktion. Es folgt das Kapitel über Krieg als gegenwärtiges Thema, bei dem Kämmerlings Ernst Jünger als ihn persönlich prägenden Schriftsteller nennt und die Sprachlosigkeit heutiger Autoren beklagt, denen außer NVA-Klamauk dazu nichts einfalle. Mit Sex als fast nur auf Englisch thematisiertem Stoff, mit der weltweiten Finanzkrise, die literarisch, wenn überhaupt, allenfalls im Krimi oder als Science-Fiction stattfinde, mit dem Ignorieren der rapide wachsenden sozialen Verwerfungen setzt der Autor seine Liste der Sprachlosigkeit fort. Um dann zum Thema Familie zu gelangen, die immer mehr in der Patchwork-Version beschrieben werde, wobei er den Roman «Die Liebe der Väter» als lobenswertes Beispiel erwähnt, dessen Thematik Kämmerlings aus eigenem Erleben bestens kennt. Auch die Herkunft werde bis auf wenige Ausnahmen in der Gegenwarts-Literatur vernachlässigt, Heimat als Thematik versinke entweder im Provinzialismus oder sei allenfalls noch im Migrations-Roman anzutreffen. Beim Tod schließlich, im letzten Kapitel, ist die Gegenwart ebenfalls ausgeblendet, nur einige wenige Schriftsteller hätten dazu literarisch wirklich Überzeugendes geliefert.

Der Erkenntnisgewinn für den Leser dieses Buches liegt in der sachkundigen Tour d’Horizon durch die neuere deutsche Gegenwarts-Literatur, für deren Defizite aber immer auch Gegenbeispiele genannt werden, kenntnisreich analysiert zudem. Mit Anekdoten angereichert erfährt man auch Interna aus dem Literaturbetrieb, liest von den Disputen der Autoren, Kritiker und Lektoren untereinander. Vor allem aber lernt man en passant viele Autoren und Bücher kennen, die man bisher nicht auf dem Radar hatte als Leser. Und so empfiehlt sich das reichhaltige Autorenregister als ergiebiger Quell künftiger Leseabenteuer, auch wenn die Auswahl des Autors natürlich subjektiv ist und damit anfechtbar. Was dann vor allem für die «Zehn besten Bücher der letzten zwanzig Jahre» gilt, die Richard Kämmerlings sich am Ende mutig vorzustellen traut.

Bewertung vom 20.08.2021
Das Jahresbankett der Totengräber
Enard, Mathias

Das Jahresbankett der Totengräber


ausgezeichnet

Geradezu revolutionär

Der neue Roman des französischen Schriftstellers Mathias Énard mit dem burlesken Titel «Das Jahresbankett der Totengräber» ist ein bildungssattes Epos über das Leben auf dem Lande, in dem ein Anthropologe dessen spezifische Merkmale in einer Felduntersuchung für seine Doktorarbeit ergründen will, und gleichzeitig ist dies auch ein Werk über Leben und Tod. Hier ist es nun ausnahmsweise mal der letzte Satz, der, wie von Poe für den ersten apostrophiert, ‹oft die ganze Geschichte enthält›: «Ich startete den Motor, legte den ersten Gang ein, und wir fuhren los, den Planeten zu retten».

Der Roman beginnt mit dem ersten Eintrag ins neue ethnografische Feldtagebuch, wo der Pariser Anthropologe David Mazon den Ort seines bescheidenen Quartiers in der französischen Provinz für seine Studien beziehungsreich «Das wilde Denken» tauft. Er will durch genaues Beobachten seiner Umgebung und mit Hilfe vieler Interviews Material sammeln, um damit eine bahnbrechende Monografie über das Landleben im 21ten Jahrhundert zu schreiben. Unerwartet und ungewollt gerät er jedoch immer weiter von der Position des distanzierten Beobachters in die Rolle des unmittelbar Beteiligten hinein. Er gewinnt neben den Erkenntnissen neue Freunde unter den Dörflern und fühlt sich in dem 500-Seelen-Kaff immer mehr zuhause. In sieben Kapiteln, von denen die äußeren in Tagebuchform verfasst sind, entwickelt Mathias Énard ein lebenspralles Panorama menschlicher Existenz, zu der als untrennbares Faktum der Tod gehört. Ihm wird im titelgebenden Mittelteil gehuldigt, das vom jährlichen Treffen der 99 Totengräber aus der Region zu ihrem zweitägigen, orgiastischen Fress- und Saufgelage berichtet. Die fortwährend neu aufgetischte, endlos scheinende Speisefolge wird öfter mal unterbrochen durch Redebeiträge einzelner Mitglieder der Zunft. In seiner Begrüßungsrede fordert der Großmeister die Gesellschaft auf: «Lasst uns, Freunde, über unser trauriges Schicksal nachsinnen und die Ärzte preisen, die für unser täglich Brot sorgen». Andere Redebeiträge berichten, mit Zitaten gespickt, aus der Mythologie, von Melusine oder Gargantua, aber es gibt auch Fachvorträge wie «Einführung in die Ökologie des Sarges». Und am Schluss dann steht, als letztes zelebriertes Ritual, «Fröhliches Trinken und warten auf den Tod».

In barocker Fülle brennt Mathias Énard ein wahres Feuerwerk an skurrilen Ideen ab. Er fügt zwischen seine Kapitel jeweils eine als Chanson bezeichnete Vignette ein, mit Titeln wie «In den Kerkern von Nantes», «Klagelied des heiligen Nikolaus» oder, zuletzt, «Jean Petite muss tanzen», wo genüsslich eine satanische Hinrichtung beschrieben wird. Kommunikative Zentrale des Dorfes ist das ‹Anglercafé›, in dem man sich fast täglich trifft, für den Anthropologen eine hochwillkommene Quelle für seine Recherchen. Neben dem Wirt hält der Bürgermeister und örtliche Bestatter in Personalunion alle Fäden in der Hand. Davids bäuerliche Vermieter gehören ebenso zu den Gästen wie Max, ein durchgeknallter Künstler, der versoffene Pfarrer, die aufmüpfige Gemüsebäuerin Lucie oder der Metzger. Zeitlich reicht dieser mit Geschichten prall gefüllte Landroman von der Antike bis in die Zukunft. Da kommt zum Beispiel ein Wildschwein, das vorher der Pfarrer war, ins Bardo und wird Mitte des 21ten Jahrhunderts in einem apokalyptischen Szenarium als Dachs wiedergeboren. Denn alles, was da lebt, kehrt in neuer Gestalt irgendwann zurück ins Leben, - die buddhistische Idee der Reinkarnation feiert hier fröhliche Urständ.

Damit erweitert der Autor äußerst kreativ und zum Thema passend seinen Erzählradius durch eine schöpferische Einbeziehung der Fauna in das sich jeder kurzen Zusammenfassung widersetzende, turbulente Geschehen. Er stellt den eher moralisierenden, aktuellen Landromanen mit ihrer drögen Zurück-ins Dorf-Botschaft eine vor Sprachlust vibrierende, vergnügliche und auch noch intellektuell hochstehende Alternative entgegen. Das ist geradezu revolutionär!

Bewertung vom 14.08.2021
Willkommen neue Träume (eBook, ePUB)
Niemann, Norbert

Willkommen neue Träume (eBook, ePUB)


gut

Vom Unbehagen in der Kultur

Der dritte von vier bisher erschienenen Zeitromanen des Schriftstellers Norbert Niemann erschien 2008 unter dem - bezogen auf den Inhalt - sarkastischen Titel «Willkommen neue Träume». Dieses eher selten anzutreffende literarische Genre ist durch seine Zeitkritik geprägt, die Zeit selbst also steht im Mittelpunkt dieser Sonderform des Gesellschafts-Romans. Hier ist es die Gegenwart zu Beginn des 21ten Jahrhunderts, und zwar in all ihren politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und medialen Aspekten.

Ort der Handlung ist eine fiktive Kreisstadt in Bayern, in Alpennähe malerisch an einem See gelegen. Mit dem Zug kehrt der erfolgreiche junge Fernsehjournalist Asger Weidenfeldt aus Berlin zu seiner Mutter Clara zurück, die dort eine pompöse Villa mit eigenem Seezugang besitzt. Als einst gefeierte Filmdiva hat sie sich in ihr Refugium zurückgezogen, und auch für ihren versnobten Sohn ist dies ein Rückzug aus dem Beruf, den er trotz aller Erfolge für sich als zunehmend sinnlos empfindet. Sie haben beide auf Abstand gelebt in den letzten Jahren und fremdeln regelrecht, jeder lebt für sich in der alten Villa. Der Bürgermeister des Ortes steht mit der exzentrischen Diva auf gutem Fuß, beide profitieren voneinander, mehr ist da nicht, obwohl die Leute es glauben. Und so hilft er ihr auch bereitwillig, das zu Ehren ihres Sohnes geplante, große Fest mit den Freunden und Begleitern von einst zu organisieren. Asger ist entsetzt über die illustren Gäste, die als Prominente aus allen Bereichen von Kunst und Kultur stammen und ihn genau so anwidern wie der abgeschmackte Medienbetrieb in der Hauptstadt, vor dem er geflohen ist. Durch ein plötzlich hereinbrechendes Unwetter werden die Disharmonien unter den fragwürdigen Gästen symbolisch überformt, das rauschende Fest endet im Chaos.

Asger nimmt zuallererst Kontakt zu seinem ehemals besten Freund auf, der Leiter des Stadtarchivs geworden ist und nun ein bürgerliches Leben mit Frau und Kindern führt. Beide waren in der Schule besonders bei ihrem inzwischen pensionierten Deutschlehrer für ihre intellektuell beachtlichen, kritischen Beiträge im Unterricht beliebt. Mit der unehelichen Tochter der Sekretärin im Bürgermeisteramt führt der Autor eine weitere Figur ein, die in die Fußstapfen der Diva tritt und eine raketenartige Karriere als TV-Serienstar hinlegt. Der junge neue Pfarrer erweist sich als eifriger Disputant für seine Sache und bleibt in lebhaften Diskussionen mit dem Deutschlehrer, dem Archivar und Asger auf keinen ketzerischen Anwurf eine Antwort schuldig. Der Roman lebt von den philosophischen Disputen ebenso wie von den kontemplativen inneren Monologen seiner diversen Figuren. Jede von ihnen ist auf ihre Weise auf der Sinnsuche, versucht auszubrechen aus den eingefahrenen Wegen, hadert mit den anbrechenden neuen Zeiten und den veränderten Realitäten, die nichts Gutes zu bringen scheinen.

Dieses breit angelegte Panorama der deutschen Gesellschaft wird von den vielen Figuren getragen, deren Rede oft durch den auktorialen Erzähler ergänzt wird. Allzu offensichtlich dienen ihm seine Figuren zur Verkündung eigener Thesen, den handelnden Personen unterlegt er seinen eigenen Duktus in den heftig geführten Debatten. Neben den im Mittelpunkt stehenden künstlerischen und kulturellen Fehlentwicklungen werden auch der ausufernde Konsumterror und die Umwelt-Zerstörung mit allen ihren Folgen thematisiert. Und dazu gehört natürlich auch die Klimakatastrophe, die in den Roman als so noch nie dagewesenes Hochwasser eingebaut ist. Diese radikale Zeitdiagnose ist in einem wortgewaltigen, messerscharf formulierten Stil geschrieben, dessen Prägnanz Satz für Satz wie in Stein gemeißelt erscheint. Auch die Figurenzeichnung ist stimmig, nur der Held, Asger, bleibt relativ farblos in seinem kultur-pessimistischen Selbstmitleid. Und in der Sache kann man den vielen Thesen im Buch ebenso viele Einwände entgegenhalten, - man würde jedenfalls gern mitdiskutieren!

Bewertung vom 05.08.2021
Flughafenfische
Overath, Angelika

Flughafenfische


weniger gut

Von Fischen und Menschen

Der zweite Roman von Angelika Overath trägt den rätselhaften Titel «Flughafenfische». Das Rätsel klärt sich bereits auf der ersten Seite, denn die titelgebenden Fische leben in einem riesigen Aquarium in der Transithalle eines nicht benannten internationalen Flughafens. In einem kammerspielartigen Setting lässt die Autorin im Gewimmel der Reisenden dort drei Menschen auftreten, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnte. Das verbindende Element dieser solitären Romanfiguren ist ihre inmitten der Menschenmassen irreal wirkende, ganz individuelle Einsamkeit.

Da ist zunächst Tobias, der nie verreist, Hüter eines künstlich angelegten Korallenriffs, das mit seinen zwanzig Kubikmetern Wasser wie ein dekorativer Raumteiler eine in den südlichen Ozeanen beheimatete Tier- und Pflanzenwelt beherbergt. Übermüdet von einem strapaziösen Langstreckenflug wartet Elis in diesem Transitbereich auf ihren verspäteten Anschlussflug. Sie ist eine erfolgreiche Fotografin, die rund um den Erdball jettet, mit den unterschiedlichsten Aufträgen für Artikel in angesagten Hochglanz-Magazinen. In ihrem Kopf wirbeln verschiedene Reisebilder aus Afrika und Asien schlaglichtartig durcheinander. Sie ist verblüfft, als sie plötzlich im lauten Trubel des Airports das Ruhe ausstrahlende Aquarium mit seinen stummen Bewohnern sieht. Fasziniert bleibt sie stehen, um durch die Scheiben dem munteren Treiben der bunten, exotischen Lebewesen eines Riffs zuzusehen. Ebenfalls durch Fenster abgetrennt sitzt in der Nähe im Raucherfoyer ein hoch angesehener, namenlos bleibender Professor der Biochemie, der als Vielflieger von Kongress zu Kongress eilt. Gerade eben hat er eine SMS von seiner Frau erhalten, die ihm nach dreißig Ehejahren überraschend mitteilt, dass sie sich ab sofort von ihm getrennt hat. Zigaretten rauchend grübelt er nun über seine Versäumnisse nach, lässt sein vollständig der Karriere gewidmetes Leben selbstkritisch Revue passieren.

Neben diesen beiden rastlosen Globetrottern stellt Tobias den Gegenentwurf des bodenständigen Mannes dar, der die Erfüllung seines Lebens ausschließlich in der liebevollen Betreuung der ihm anvertrauten Aquariums-Bewohner findet. Als Elis ihn anspricht, erzählt er ihr bereitwillig vom schwierigen Aufbau des künstlichen Riffs, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen existieren kann. Es habe mehr als ein Jahr gedauert, bis all die diffizilen Parameter der chemischen Zusammensetzung des Wassers, seiner Temperatur und der erforderlichen Strömungs-Verhältnisse penibel justiert waren. Und auch die fragile Lebensgemeinschaft von Fischen, Krebsen, Muscheln, Anemonen, Schwämmen, Algen sowie der zugehörigen Unterwasser-Flora stellt ein hochkompliziertes System dar, in dem es für einzelne Spezies immer wieder mal zu Rückschlägen kommt.

Der ansonsten dialogfreie Roman aus dem Airport-Kosmos bleibt auch hier völlig unpersönlich, die Zwei am Aquarium kommen sich nicht wirklich näher, sie bleiben sich als Zufalls-Bekanntschaft letztendlich Fremde. Angelika Overaths in 18 Kapiteln erzählte, klug durchdachte Geschichte lebt von der bewundernswerten Beschreibungskunst seiner Autorin, die zuweilen sogar poetische Züge annimmt. In parataktischer Form beschreibt sie kenntnisreich und anschaulich eine nur Wenigen zugängliche, aquatische Welt, die inmitten des umweltfeindlichen Flugwahns wie ein, allerdings unbeachtet bleibendes, Mahnmal wirkt. Ihre immer wieder auf die Unterwasserwelt bezogene Metaphorik erscheint mit der Zeit allerdings etwas aufdringlich. Die nur als «Raucher» bezeichnete, als einzige in Ich-Form sinnierende Figur des Professors wirkt zudem deplaziert, seine Ehe-Thematik stellt keine gelungene, plausible Ergänzung dar. Und Tobias und Elis reden nicht wirklich miteinander, sie tauschen lediglich wechselseitig Monologe aus. Thematik und Impetus dieses Romans verblassen in Anbetracht der stilistischen Erzählkunst seiner Autorin, die hier als ‹L’art pour l’art› nutzlos verschwendet wird. Sc

Bewertung vom 04.08.2021
Adam und Evelyn
Schulze, Ingo

Adam und Evelyn


gut

Von einem Paradies ins andere

Ingo Schulze hat mit seinem Roman «Adam und Evelyn» einen Wende-Roman geschrieben, der die Zeit vor und nach dem Mauerfall aus östlicher Sicht thematisiert. Das Buch wurde 2008 für den Frankfurter Buchpreis nominiert und zehn Jahre später verfilmt. Erzählt wird die Geschichte eines Liebespaares in der DDR, wobei sich der Autor, wie zuvor schon in anderen seiner Werke, auch hier wieder als Spezialist für die Befindlichkeiten der Deutschen hinter Mauer und Stacheldraht erweist. Denn das junge Paar lebt wahrlich nicht im Paradies, auch wenn ihre biblischen Namen das suggerieren.

Der Held mit Spitznamen Adam, seines markanten Adamapfels wegen, ist ein 32jähriger, von den Frauen verehrter Damenschneider, dessen Künste in dem von trister Mode in schlechter Qualität geprägten DDR-Bekleidungsangebot sehr gefragt sind. Die zehn Jahre jüngere Evelyn durfte nach dem Abitur im Arbeiter- und Bauernparadies nicht ihr gewünschtes Studium antreten und arbeitet frustriert als Bedienung. Kurz vor der geplanten gemeinsamen Urlaubsreise an den Balaton im August 1989 ertappt sie ihn nach einer Anprobe in flagranti beim Sex mit einer drallen Kundin. Erbost fährt sie mit ihrer fluchtwilligen Freundin und deren Cousin aus dem Westen allein nach Ungarn. Adam folgt ihnen reumütig mit seinem uralten, liebevoll gepflegten Wartburg, den er ‹Heinrich nennt›. Er ist ein phlegmatischer Gemütsmensch, der sich pudelwohl fühlt im ererbten Haus mit dem Garten drum herum und nichts vermisst im sozialistischen Deutschland. Er lebt zufrieden vor sich hin, ist immer gut drauf, und wenn es mal wieder an irgendetwas mangelt, nützt er seine guten Kontakte zu solidarischen Helfern.

Im Stil einer Roadnovel erzählt Ingo Schulze von den Liebeswirren des ungleichen Paares, das über verschiedene Zwischenstationen und mit mancherlei Pannen schließlich am Plattensee eintrifft. Evelyn und der Cousin der Freundin beginnen ein Techtelmechtel, er will sie zu sich nach Hamburg mitnehmen, in den Westen, der für sie ein Paradies darstellt, in dem fast alles möglich zu sein scheint. Adam hat unterwegs Katja aufgegabelt, die auf der Flucht in den Westen gescheitert ist und beinahe in der Donau ertrunken wäre. Sie hat dabei alles verloren, er hilft ihr selbstlos als unfreiwilliger Fluchthelfer und nimmt sie vorerst mal mit nach Ungarn. Im Grunde passiert nichts Dramatisches in dieser Erzählung von unpolitischen kleinen Leuten, die hier das Figuren-Ensemble bilden. Sie sind keine Revoluzzer und erleben lediglich die Auswirkungen der politischen Veränderungen auf ihre private Situation. Der auktoriale Erzähler entwickelt seinen rasant vorangetriebene Plot weitgehend in dialogischer Form. Die Gespräche und Diskussionen seiner Figuren sind in ihrer Banalität schon fast peinlich, wirken gerade dadurch aber authentisch. Die große Politik bleibt völlig ausgeblendet, allerdings bindet er auch Kontemplatives mit ein bis hin zur Religion. Adam liest aus Langeweile erstmals die Bibel und ist erstaunt über deren intellektuelle Zumutungen.

Das Paar wird überrascht von den Nachrichten aus der deutschen Botschaft in Budapest und nutzt die Lockerungen der Grenzkontrollen zur Flucht nach Bayern. Als am neunten November die Mauer durch die denkwürdige ‹Revolution von unten› fällt, sind sie schon eine ganze Weile dabei, sich im vermeintlichen westlichen Paradies zurechtzufinden. Während Evelyn problemlos ihr Wunschstudium aufgenommen hat, ist für Adams Schneiderkünste kein Bedarf, hier kauft man die industriell hergestellten Kleider ‹von der Stange›. Alle Figuren sind stimmig beschrieben, wobei insbesondere Adam als stets freundlicher, genügsamer Ossi sehr sympathisch wirkt. Orientierungslos müssen die Beiden ihr Leben ganz neu aufbauen, was besonders Adam schwer fällt, «Der läuft hier rum wie Falschgeld» klagt Evelyn. Das Besondere jedoch ist die private Perspektive, aus der hier fast beiläufig über eine Glückssuche erzählt wird, von einem Paradies ins andere.

Bewertung vom 03.08.2021
Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
Evaristo, Bernardine

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019


sehr gut

Dreadlocks etc.

Mit «Mädchen, Frau etc.» hat Bernardine Evaristo 2019 den Booker Prize gewonnen, ihr Roman erschien Anfang dieses Jahres als erstes ihrer Werke auch in deutscher Übersetzung. Die Tochter einer englischen Mutter und eines nigerianischen Vaters war die erste farbige Schriftstellerin, die diesen begehrten britischen Buchpreis bekommen hat. Wie bereits der Titel andeutet, stehen Frauen aller Altersstufen im Blickpunkt, hier natürlich Farbige in sämtlichen Schattierungen. Und ebenso variantenreich ist deren sexuelle Ausprägung. Also vor allem lesbisch, aber auch bisexuell, nichtbinär, trans, queer, schwul - und nur ausnahmsweise auch mal heterosexuell.

In vier Kapiteln stehen abschnittsweise jeweils drei dieser Frauen im Zentrum, allesamt auf verschiedene Weise diskriminiert und deshalb nicht nur wütend, sondern auch sozial und politisch unangepasst. Der Reigen beginnt mit Amma, die als knapp fünfzigjährige Dramatikerin mit ihrer ersten Inszenierung «Die letzte Amazone von Dahomey» am National Theatre Premiere hat. Als ‹frauenmordende›, für Polyamorie schwärmende Lesbe hat sie schon weit über hundert Liebhaberinnen unglücklich gemacht, denn nach wenigen Liebesnächten ist sie ihrer überdrüssig und serviert sie kaltlächelnd ab. Ihre durch die Samenspende eines schwulen Mannes gezeugte Tochter Yazz gehört der «Matchen-Liken-Chatten-Daten-Ficken-Generation» an. Da sie noch nicht den Richtigen gefunden hat, betrachtet sie einen amerikanischen Doktoranden übergangsweise als ihren «Fuck-Buddy». Als kritische Denkerin hat sie bereits erste journalistische Erfolge aufzuweisen und bildet zusammen mit drei ebenfalls unangepassten Kommilitoninnen den Kreis der «Unverarschbaren». Die Lebenswege verschiedenster Frauen unterschiedlichster Herkunft im Alter zwischen 19 und 93 werden in diesem Roman über drei Generationen hinweg kunstvoll ineinander verwoben. Die soziale Stellung reicht dabei von der Putzfrau oder Bäuerin bis zur gefeierten Regisseurin oder erfolgreichen Investment-Bankerin, von bitterer Armut bis zu märchenhaftem Reichtum. «Diese Charaktere repräsentieren für mich die Bandbreite, wer wir sind in dieser Gesellschaft» hat die Autorin erklärt.

Sie verfolge keine didaktischen Absichten, hat Bernardine Evariso betont, ihr Roman behandele das zutiefst Menschliche, Liebesbeziehungen vor allem. Aber auch Familienbande sowie die Gefühlswelt als solche seien ihr Thema. Davon zeugt der Epilog, in dem lebensklug von der späten Liebesgeschichte der siebzigjährigen Penelope mit Jeremy erzählt wird. Sie hat durch einen genetischen Herkunftstest ihre leibliche Mutter ausfindig gemacht und liest auf der Zugfahrt eine «überschwängliche Rezension eines Stücks über afrikanische Amazonen», womit sich der erzählerische Rahmen dieses Romans gekonnt schließt.

Für die narrative Umsetzung ihres Figuren-Reigens hat die Autorin den Begriff ‹fusion fiction› geprägt, «Optisch sieht der Text fast aus wie Dichtung, aber ich verstehe ihn eher als experimentelle Prosa», hat sie dazu angemerkt. Und so mutet dieser Stilmix, - Verzicht auf grammatikalisch korrekte Sätze, kleingeschriebene Satzanfänge, Ersatz von Punkten durch Zeilenumbrüche, Fehlen von Anführungszeichen, - beim Lesen zunächst etwas störend an. Man gewöhnt sich aber erstaunlich schnell daran und merkt schon bald, dass genau dadurch der Lesefluss geschmeidig an die Thematik und den modernistischen Yuppie-Slang angepasst wird. Temporeich wird in diesem Roman vom Anderssein These auf These aneinander gereiht, werden auf gerade mal dreißig/vierzig Seiten ganze Lebensgeschichten erzählt. Weniger überzeugend sind dabei die eher hölzernen Dialoge, denen die Eleganz der Erzählung selbst oft fehlt. Die britische Historie wird hier aus dem ungewohnten Blickwinkel der Diskriminierten und Erniedrigten erzählt, wobei die Autorin mit ihren Dreadlocks in ihrer auktorial erzählten Geschichte mit kreativen Wortschöpfungen humorvoll zuweilen sogar sich selbst persifliert.

Bewertung vom 31.07.2021
Die Verdächtige
Kuckart, Judith

Die Verdächtige


weniger gut

Ein Krimi-Märchen

Der durch seinen Titel «Die Verdächtige» vordergründig als Krimi erscheinende Roman von Judith Kuckart versucht, den Spagat zwischen Spannung und menschlicher Selbstverlorenheit in seinem Plot zu realisieren. Ein Genre-Mix also, der nüchterne Polizeiarbeit mit der psychischen Unbehausheit seiner Figuren verbinden will, Rationales mit Mentalem. Eine ebenso kühne wie schwierige Gradwanderung, bei der die Gefahr besteht, dass Beides sich gegenseitig eher behindert.

«Sie saß mit dem Rücken zur Tür. Der Kragen eines altmodischen Mantels fiel ihr wie ein riesiges Rhabarberblatt über die Schultern». Die da im Polizeirevier sitzt heißt Marga Burg, eine hübsche Frau Ende dreißig, die eine Vermisstenanzeige aufgeben will. Ihr Freund sei vor zwei Wochen mit ihr auf der Kirmes gewesen und allein in die Geisterbahn gestiegen, dann aber nicht mehr herausgekommen. Es fehle seither jedes Lebenszeichen von ihm. Fälle wie dieser erweisen sich in Wahrheit allerdings gar nicht so selten als ein eleganter Abgang in ein komplett neues Leben. Der Fall wird Robert, dem Kommissar, der aussieht wie George Clooney, und seiner Kollegin Nico vom Morddezernat übertragen. Die üblichen Nachforschungen beginnen, Nachbarn, Kollegen, die Ex-Frau werden befragt, Telefon und Bankkonto überprüft. Es gibt keinerlei Hinweise, ob er noch lebt, aber auch keine Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen oder für Suizid. Insoweit ist der Plot genretypisch mit dem üblichen Spannungsbogen aufgebaut, das Besondere hier aber sind die handelnden Personen.

Marga ist eine eher seltsame Frau vom Typus Traumtänzerin, die mit ihrer Psyche im Verlauf der Geschichte sehr viele Rätsel aufgibt. Der melancholische Schönling Robert ist kürzlich erst von seiner Frau verlassen worden und stimmungsmäßig in ein tiefes Loch gefallen. Er weiß nichts anzufangen mit seinem Leben und meldet sich freiwillig zu den sonst eher unbeliebten Sonntagsdiensten, weil er nicht einsam zuhause herumsitzen will. Wie zu erwarten landet der Frauenversteher mit seiner Zeugin, die dann allmählich zur «Verdächtigen» wird, schon bald im Bett. In das Personen-Karussell um das Verschwinden einbezogen ist auch Roberts Ex-Frau, die ihn plötzlich sogar wieder anmacht, ferner eine hilfsbereite Nachbarin, die sich überraschend als Margas Arbeitskollegin entpuppt, und schließlich Margas adipöser, geistig zurückgebliebener Bruder, mit dem sie zusammenlebt. Zusätzlich bindet die Autorin auch die Geisterbahn mit ein, denn Marga ist auf einmal ihrerseits abgetaucht, sie hat ihren Job beim Straßenverkehrsamt einfach hingeschmissen. Robert findet sie dann nach einem Hinweis beim Betreiber der Geisterbahn, der inzwischen in eine andere Stadt weitergezogen ist. In dem gruseligen Fahrgeschäft hat sie die Rolle der ‹kalten Hand› übernommen, erschreckt also die Leute während der Fahrt mit ihrer auf einem Kühlakku temperierten, eisigen Hand.

Mit dem besonderen Augenmerk auf die ewig rätselhafte Anziehungskraft der Geschlechter wird hier, durch märchenhafte Einblendungen ergänzt, eine elegische Geschichte über Wünsche und Ängste erzählt, über Glückssuche und Verlassenheit, letztendlich aber auch über den Sinn all dessen. Verzauberung und brutale Ernüchterung wechseln sich dabei ständig ab, mit der Geisterbahn hat Judith Kuckart dafür ein stimmiges Sinnbild gefunden. Ihre Stärke ist der scharfe Blick, mit dem sie selbst kleinste Details in Mimik und Gestik ihrer Figuren beschreibt. Ihr narrativer Stil ist durch eine starke poetische Suggestivkraft geprägt, die den Leser in Bann zu ziehen vermag. Die Metapher vom Verschwinden und Neuanfang mündet hier in die Erkenntnis, dass man seiner Veranlagung nicht entkommen kann. Sogar das Paradoxon der Kälte-Idiotie ist in Form einer kurzen Vortragsreise von Robert in die Geschichte eingebaut, es dient der Verdeutlichung des schicksalhaft Vorgegebenen. All diese psychologischen Tiefen-Schürfungen jedoch mindern den Roman leider zu einem eher misslungenen Krimi-Märchen h

Bewertung vom 23.07.2021
Die Gestirne
Catton, Eleanor

Die Gestirne


weniger gut

Sterndeuter dürfen sich freuen

Der Roman «Die Gestirne» der neuseeländischen Schriftstellerin Eleanor Catton wurde 2013 mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet. Deutet bereits der Buchtitel auf die Astronomie hin, so outet sich die Autorin dann auch im Vorwort als astrologiegläubig, weshalb der Aufbau ihres Romans den zwölf Sternzeichen folgt als Ausdruck ihres Vertrauens «in den unendlichen und wissenden Einfluss des endlosen Himmels». Die einen zentralen Personenkreis bildenden zwölf Männer ihres Romans sind dementsprechend jeweils mit Planeten und Sternen assoziiert, denen verwandte ‹Häuser› und ‹Einflüsse› gegenüber stehen, ein astrologischer Hokuspokus also bildet hier das narrative Konstrukt.

Der Roman beginnt am 27. Januar 1866 mit der Ankunft eines Schotten in der neuseeländischen Hafenstadt Hokitika. Im Raucherzimmer seines Hotels platzt der 27jährige Walter Moody in ein geheimes Treffen von zwölf sehr unterschiedlichen Männern hinein. Nach anfänglich betretenem Schweigen beginnt einer der Männer ein Gespräch mit ihm. Auf dessen neugierige Fragen erklärt Moody, dass er sich hier in dieser neuen Boom-Region als Goldgräber versuchen wolle. Und ehe er sich versieht ist er auch schon tief hineingezogen in ein rätselhaftes Gefecht von gegenseitigen Verstrickungen, von Verrat, dreisten Lügen und hinterlistigen Intrigen. In deren Kern geht es letztendlich um eine veritable Serie schlimmer Verbrechen. Insoweit ist dieser Roman eine vielschichtige Kriminalgeschichte mit oft schwer durchschaubaren Handlungs-Strängen, die in zwölf Kapiteln jeweils aus der Perspektive eines der Männer erzählt werden. Gleichzeitig sind hier aber auch Elemente des Abenteuerromans enthalten, der Goldrausch lockt viele bunte Gestalten an, die alle ihr Glück machen wollen. Dazu gehören auch Geschäftsleute, Spediteure, Politiker und Glücksritter verschiedenster Art, und natürlich ist auch das horizontale Gewerbe vertreten. Gleich zu Beginn findet denn auch ein Politiker auf Wahlkampf-Reise nicht nur einen Toten, sondern auch eine bewusstlos auf der Straße liegende Hure.

Der ungewöhnlich vielseitige, knifflige Plot baut systematisch eine zunehmende Spannung auf. Es ist allerdings oft schwer, dem verwickelten Geschehen zu folgen und die komplexen Zusammenhänge zu durchschauen. Erst nach einer längeren Lesestrecke beginnt man allmählich, das individuelle Geheimnis hinter jeder einzelnen der zwölf Figuren zu erkennen, ihre spezielle Rolle in dem kriminellen Sumpf auch wirklich zu verstehen. Die jüngste Booker-Preisträgerin aller Zeiten mit dem dicksten dort je prämierten Buch aller Zeiten hat die Fäden ihrer auktorial erzählten Handlung virtuos im Griff. Vieles vermittelt sie über ausgedehnte Dialoge, denen sie allerdings leider keine eigenständige Sprechweise zugeordnet hat, die Charaktere unterscheiden sich also sprachlich nicht, ein erhebliches Manko. Zudem ist ihre ansonsten ungewöhnlich detaillierte Figurenzeichnung oft viel zu langatmig, man wird weit weggeführt vom eigentlichen Handlungs-Geschehen und hat dann erhebliche Probleme, den Faden wieder aufzunehmen.

Insoweit bleibt ihr sperriger Roman eine mühsame Lektüre, und mehr als tausend Seiten wollen schließlich auch bewältig sein. Die ersten paar hundert sind eine einzige Geduldsprobe, ehe man sich dann endlich irgendwie doch eingelesen hat. Bei alledem wird man aber das ungute Gefühl nicht los, dass die Autorin jede Chance nutzt, um intellektuell zu glänzen. Besonders die vielen astrologischen Bezüge und Andeutungen dürften aber nur einer verschwindend kleinen Minderheit von Lesern wirklich verständlich sein, und damit eventuell von Nutzen. Der mit dem Hineinplatzen des Helden in den konspirativen Männertreff sofort erzeugte Spannungsbogen wird, mit weiteren Überraschungen, bis ganz zum Schluss durchgehalten, auch wenn nicht alles aufgelöst wird. Die Leser werden also zumindest in dieser Hinsicht belohnt fürs Durchhalten, und die Sterndeuter unter ihnen dürften sich sogar freuen

Bewertung vom 19.07.2021
Der schmale Pfad durchs Hinterland
Flanagan, Richard

Der schmale Pfad durchs Hinterland


sehr gut

Beklemmende Lektüre

Für den Roman «Der schmale Pfad durchs Hinterland» erhielt der tasmanische Schriftsteller Richard Flanagan 2014 den britischen Booker Prize. Inhaltlich stützt sich die Geschichte auf Erlebnisse seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangener in einem japanischen Arbeitslager beim Bau der ‹Todeseisenbahn› quer durch den Dschungel von Thailand und Burma eingesetzt war. Damit greift er eine Thematik auf, die weltweit durch die Verfilmung von Pierre Boulles Roman «Die Brücke am Kwai» bekannt geworden ist.

Held des Romans ist Dorrigo Evans, ein vielversprechender junger Chirurg, der sich zum Militär gemeldet hatte und von den Japanern nun als Lagerarzt an der Bahnstrecke einsetzt wird. Unter unmenschlichen Bedingungen schuften dort mehr als tausend Gefangene an einem Teilstück der vom Kaiser höchstpersönlich angeordneten, militärisch wichtigen Nachschublinie, die in ihrer Dimension einem ‹Pharaonenprojekt› gleicht. Die Soldaten der Alliierten stoßen dabei auf einen japanischen Patriotismus, bei dem Gefangenschaft als schändliche Schwäche gilt. Eine fanatische Denkweise, denn ein Soldat ergibt sich nicht, er kämpft für seinen Kaiser bis zum ehrenvollen Tod. Was da im Urwald passiert, verhöhnt die Genfer Konvention, die Gefangenen werden wie Vieh behandelt. Sie sind in einem erbärmlichen Zustand, die Cholera bricht aus, sie sterben wie die Fliegen. Ihr baldiger Tod ist absehbar für den Lagerarzt, mangels Medikamenten und medizinischen Instrumenten kann er ihnen aber auch kaum helfen. Gleichwohl muss er sie als arbeitsfähig einteilen, um die vom Kommandanten jeweils geforderte Zahl von Arbeitskräften bereitzustellen, auch Schwerkranke sind dabei. Jeder tote Gefangene ist nämlich ein guter Toter für die Japaner, sein Leben ist rein gar nichts wert, sein Tod erlöst ihn vielmehr von seiner Schmach.

Eingebettet in diese später als Kriegsverbrechen geahndeten Gräuel ist eine tragische Liebesgeschichte, die sich wie ein roter Faden durch das Leben von Dorrigo zieht. Obwohl er verlobt war, hatte er sich kurz vor seinem Kriegseinsatz unsterblich in Amy, die junge Frau seines Onkels verliebt, für Beide die Liebe ihres Lebens. Während der Gefangenschaft erhält er einen Brief von seiner Verlobten Ella, die ihm einen Zeitungsausschnitt mitschickt, aus dem hervorgeht, dass Amy bei einer Gasexplosion im Hotel seines Onkels ums Leben kam, man hatte sie anhand des Gebisses identifiziert. Am Ende kommt es zu einer Katharsis, die in ihrer berührenden Tragik an große antiken Dramen erinnert. Weite Teile des auktorial erzählten Romans widmen sich jedoch den unsäglichen Verhältnissen, unter denen der Arzt und die Gefangenen dahinvegetieren. Angesichts der ausufernd und detailliert geschilderten, sadistischen Gräueltaten und der jede Vorstellungskraft sprengenden, unbehandelt bleibenden Verletzungen sind starke Nerven erforderlich beim Leser, wenn er nicht gerade zu den abgehärteten Fans von Horrorgeschichten gehört.

Nach dem Krieg macht der als Held verehrte Dorrigo eine glänzende medizinische Karriere, der Roman beginnt mit den Erinnerungen des nunmehr 77jährigen Witwers. Die erweisen sich jedoch oft als lückenhaft und unsicher. Voller Empathie und weit ausgreifend werden in diversen Episoden menschliche Schicksale aus dem Gefangenenlager geschildert. Aber auch über das weitere Leben des sadistischen Kommandanten und seiner brutalen Mittäter nach Kriegsende wird berichtet. Die Schlüsselfrage, die dieser Roman stellt, richtet sich auf den Sinn des Überlebens in Anbetracht der Schuld, die man dabei auf sich geladen hat. Im Interview betonte Flanagan, «dass Hoffnung der Antrieb des Lebens ist», und fügte hinzu, «für einen Geschichtenerzähler ist die größte Hoffnung die Liebe». Er interpretiert sein Buch als Liebesroman, für den er leitsymbolisch eine rote Blume einsetzt. Wie auch immer, diese beklemmende Lektüre dürfte als virtuos erzähltes Wechselbad zwischen schlimmstem Gräuel und ewiger Liebe lange nachwirken.

Bewertung vom 12.07.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Bittersüßer Roman

In seinem fünften Roman «Hard Land» erzählt Benedict Wells eine Coming-of-Age-Geschichte, die er in einer fiktiven Kleinstadt in den USA angesiedelt hat. Sein 15jähriger Protagonist und Ich-Erzähler durchlebt dort im Jahre 1985 die schwierige Phase der Mannwerdung und muss sich als überängstlicher Außenseiter mühsam einen Platz unter seinen Mitschülern erkämpfen. Auch die erste Liebe erweist sich als schwierig, vor allem aber muss er mit dem frühen Tod seiner Mutter fertig werden.

Sam Turner lebt in einer dem Niedergang geweihten 20tausend-Einwohner-Stadt in Missouri, deren einziger großer Arbeitgeber in Konkurs gegangen ist. Auch sein Vater ist arbeitslos, seine seit fünf Jahren krebskranke Mutter betreibt einen kleinen Buchladen. Er erzählt seine Geschichte im Rückblick ein Jahr später. Der erste Satz lautet: «In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb». Die Ferien stehen an, seine Eltern wollen ihn zur Tante schicken, die zwei Jungen in seinem Alter hat. Sein erster Besuch dort war aber ein Horror für ihn, und so nimmt er kurz entschlossen einen Ferienjob im örtlichen Kino an, um dem zu entgehen. Dort trifft er auf Cameron, den schwulen Sohn eines erfolgreichen Fabrikanten, und auf den farbigen Hünen Brandon, den sie nur Hightower nennen und dessen Vater eine Farm betreibt. Dritte im Bunde dieser Clique, die sich um das Kino kümmert, ist Kristie, die Tochter des Kinobetreibers. Alle sind zwei Jahre älter als Sam, haben die Schule abgeschlossen und werden das öde Kaff verlassen, um weit weg in New York, Chicago und Los Angeles ihr Studium zu beginnen. Kaum hat er glücklich Anschluss an diese Clique gefunden, steht also in elf Wochen auch schon wieder der Abschied bevor. Und das schmerzt insbesondere wegen der Beziehung zu Kristie, die sich als zarte Bande entwickelt, obwohl sie längst einen festen Freund hat, während er, als männliche Jungfrau, noch nicht mal bis zum Händchenhalten, Küssen oder gar noch mehr gekommen ist.

Benedict Wells hat in seinen Roman eine Fülle von kreativen Ideen eingebaut, zu denen auch der Buchtitel gehört. Der führt nämlich auf einen fiktiven Schriftsteller des Ortes zurück, der unter «Hard Land» 1893 einen Gedichtzyklus veröffentlich hat, an dem sich die Schüler bei der Prüfung in Literatur heute noch die Zähne ausbeißen. Und so glänzt denn dieser Roman mit der Mutter als Buchhändlerin durch eine reiche Intertextualität, zu der auch Kristies Faible für erste Sätze in Romanen zählt, welches der Rezensent, soviel Persönliches sei hier mal erlaubt, mit dem überaus smarten Mädchen teilt. Ergänzt werden diese literarischen Bezüge noch durch diverse popkulturelle, denn Sam ist als Gitarist sehr musikbegeistert, und seit er den Kinojob macht, entwickelt er sich auch noch zum Cineasten. Das besonders innige Verhältnis zwischen Sam und seiner Mutter symbolisiert ein kleiner blauer Holzlöwe, Lieblingsfigur ihrer Sammlung. Den deponieren Vater und Sohn nach ihrem Tod immer wieder heimlich irgendwo, damit ihn der jeweils andere überrascht finde, - eine berührende Geste ihrer ganz persönlichen Erinnerungskultur.

In 49 Kapiteln begleitet man den Heranwachsenden durch die entscheidende Phase seiner Adoleszenz, wobei es dem Autor gelingt, auch eine Menge Lokalkolorit einzubringen in seine Geschichte. Eine schöne Parabel für Sams Hoffnungslosigkeit handelt von einem magischen Ring mit einer auf jede Lebenslage passenden Gravur: «Auch das geht vorbei». Im letzten Teil des Romans bleibt er allein zurück, alle Freunde sind fort, die Briefe werden kürzer, seltener und bleiben irgendwann ganz aus. Aber nach dem einsam verbrachten Winter kommen schließlich auch wieder die Sommerferien, und die drei Freunde kehren ernüchtert zurück. Ihr Kaff ist doch nicht so schlecht, wie sie gedacht haben, es hat ihnen sogar gefehlt in der Ferne. Und das Ende mit Sam und Kristie lässt dann wunderbar leicht alles offen, ein bittersüßer Roman also, und das absolut kitschfrei, - Chapeau!