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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 29.09.2017
CBA Jeffs/Intricate Ink

CBA Jeffs/Intricate Ink


ausgezeichnet

Erstmal ein Hinweis, weil ich im Internet einige verwirrte oder sogar erzürnte Rezensionen zu ähnlichen Malbüchern gesehen habe, die so etwas sagen wie: "Was soll man da noch ausmalen? Da ist doch fast gar kein Weiß!"

Es handelt sich hier um ein 'Grayscale'-Malbuch. Was damit gemeint ist, ist für gewöhnlich, dass die Ausmalbilder eben nicht nur aus rein schwarz-weißen Linien bestehen, sondern aus vollständig schattierten Fotos oder Bildern. Auf den ersten Blick sieht es zum Teil wirklich so aus, als bliebe da gar nichts mehr zum Ausmalen, aber tatsächlich kann man über diese Bilder einfach drüber malen, mit Buntstiften oder Filzmarkern. Im Grunde ist das sogar einfacher als ein 'normales" Ausmalbild: wenn man möchte, reicht es vollkommen aus, selber gar keine Schattierung mehr hinzuzufügen, sondern ganz einfach solide Farben zu benutzen. Durch die vorgegebene Schattierung sieht das dann schon sehr professionell aus!

Sich selber an einer zusätzlichen Schattierung zu versuchen, kann allerdings erstmal eine Herausforderung sein. Viele Coloristas sparen sich das Schattieren deswegen komplett und probieren stattdessen verrückte Farbkombinationen aus.

Die Papierqualität des Buches ist sehr hoch, ich habe sowohl Buntstifte als auch Filzmarker benutzt, ohne dass es ein nennenswertes Problem gegeben hätte. Bei weniger hochwertigem Papier geschieht es schnell, dass es nach mehrmaligem Übermalen 'filzig' oder rau wird, so dass man an diesen Stellen keine weiteren Farbschichten mehr auftragen kann, aber das ist mir hier nicht passiert. Es gibt sogar Ausmal-Fans, die das Buch mit Wasserfarben ausmalen, was auch sehr für die Papierqualität spricht.

Die Filzstifte drückten bei meinem Bild zwar auf die Rückseite durch, da aber jede Seite nur einseitig bedruckt ist, sehe ich das hier nicht als Makel! Ich würde ohnehin – bei jedem Malbuch! – empfehlen, ein Blatt Papier zwischen die Seite, die man gerade ausmalt, und die nächste zu legen, falls die Farbe durchdrückt, weil das in den meisten Büchern passieren kann. (Deswegen ziehe ich es vor, wenn die Seiten nur einseitig bedruckt sind.)

Jedes der 50 Bilder ist einmal enthalten, keine Duplikate. Tim Jeffs Stil ist unglaublich detailliert und realitätsgetreu, mit der richtigen Kolorierung können die Bilder aussehen wie Fotos – oder kleine Kunstwerke.

Grayscale-Bücher sind nicht jedermanns Sache, aber Tim Jeffs Bücher sind auf jeden Fall hochwertige, wunderschöne Beispiele dieser Unterart von Malbüchern.

Bewertung vom 27.09.2017
Romeo oder Julia
Falkner, Gerhard

Romeo oder Julia


weniger gut

Zum Zeitpunkt, da ich diese Rezension schreibe, ist "Romeo oder Julia" für den Deutschen Buchpreis nominiert und hat es bereits auf die Shortlist geschafft, ist also eines von sechs Büchern, die in die engere Auswahl aufgenommen wurden.

Obwohl ich normalerweise nicht davor zurückscheue, meine Meinung ehrlich zu äußern und gegebenenfalls auch negative Rezensionen zu schreiben, fällt mir das bei Büchern, die Preisträger oder zumindest Preisanwärter sind, schwer. Menschen, die ohne Zweifel belesener sind als ich, die mehr von Literatur und vom Literaturbetrieb verstehen, haben das Buch für auszeichnungswürdig befunden. Wer bin ich also, dem zu widersprechen?

Die einfachste Antwort: ich bin eine Leserin, die sich von diesem Buch herb enttäuscht fühlt. Die Prämisse klingt originell, eine Mischung aus Krimi, Einblicken in den Literaturbetrieb und möglicherweise einem Hauch Drama. Tatsächlich verrät der Klappentext jedoch schon fast alles, was in diesem Buch passiert – die Handlung erschien mir etwas dürftig für 272 Seiten.

Natürlich gibt es Bücher, die nicht durch ihre Handlung bestechen, sondern durch andere Eigenschaften, wie unvergessliche Charaktere, atemberaubende Sprachgewalt oder die Art und Weise, wie sie den Leser aus seiner Komfortzone zerren und ihn zwingen, die Welt oder sich selbst in einem neuen Licht zu sehen. Von "Romeo oder Julia" fühlte ich mich indes selten bestochen, sondern über lange Passagen sogar gelangweilt.

Das Krimi-Element der Geschichte, das für Spannung hätte sorgen können, läuft in meinen Augen halbherzig nebenher und stößt auch kein sonderliches Charakterwachstum an. Ab und zu passiert etwas, das sich Protagonist Kurt nicht erklären kann, was ihn zunehmend beunruhigt, aber richtig dramatisch ist das alles nicht – jedenfalls bis zum Schluss, wenn sich das Rätsel rasant aufklärt und auch schon wieder vorbei ist, bevor Kurt und der Leser Zeit haben, daraus mehr zu ziehen als vage Bestürzung. Einen Teil der Auflösung hatte ich mir tatsächlich schon gedacht, denn der wird nach etwa einem Drittel des Buches angedeutet.

"Obwohl ich Kurt heiße, bin ich Schriftsteller. Allerdings bin ich weit davon entfernt, mir auf dieses Tatsache etwas einzubilden."
(Zitat)

Kurt Prinzhorn ist einer, der in seinen jungen, 'selig vernebelten' Jahren aus einem literarischen Rausch heraus schrieb, das Schreiben inzwischen aber als eine 'Art von gehobenem Selbstmord' empfindet. Dementsprechend lesen sich die Geschehnisse, durch seine Augen gesehen, oft wie eine Satire auf den Literaturbetrieb: selbstverliebte Schriftsteller unterhalten sich wodkatrunken über Nichtigkeiten und würzen diese Belanglosigkeit mit einer Vielzahl von (meist offensichtlichen) Anspielungen auf Literatur, Film und Kunst.

Mal ist das clever und unterhaltsam, mit wunderbar verunglückten Metaphern und schwülstigen Sätzen seitens Kurt, der vielleicht doch nicht so weit davon entfernt ist, sich auf seinen Genius etwas einzubilden. Auch gibt es durchaus einige Passagen, in denen ihm dann doch Momente der Sprachpoesie glücken – und manchmal fand ich es schwer, zu unterscheiden, wo das eine aufhörte und das andere anfing.

Dann wiederum fühlte ich mich, als würde Kurt mir, der Leserin, ausführlich von den Freuden einer bereits vergangenen Party erzählen, zu der ohnehin nur Schriftsteller eingeladen waren. Manchmal ist das so mit Literatur über Literatur.

»Hab ich dir eigentlich gesagt, dass mich deine schnittlauchgrünen Augen jedes Mal begeistern, wenn ich dich ansehe?« »Meine wasgrünen?« »Sie sind wirklich sehr schön«, sagte ich, »wie ein tiefer Blick in den Dschungel.«
(Zitat)

Keiner der Charaktere ging mir wirklich nahe, sogar Kurt blieb mir bis zum bitteren Ende fremd. Denn der steht in steter Distanz zu sich selbst – als würde er, der sich über seinen Status als Schriftsteller definiert, seine Gedanken dem eigenen Lektorat unterwerfen. Als Leser sieht man daher weniger sein wahres Ich als sein konstruiertes Selbstbild.

Bewertung vom 22.09.2017
Menschenwerk
Kang, Han

Menschenwerk


ausgezeichnet

"Menschenwerk" ist ein ungeheuer schmerzhaftes Buch.

Han Kang bringt ihre Charaktere an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit und darüber hinaus – besser gesagt, sie begleitet sie auf diesem Weg, denn die Geschichte entspringt keineswegs nur ihrer Vorstellungskraft, auch wenn man sich als Leser unweigerlich wünscht, es wäre so.

Dong-Ho, Jeong-Dae, Eun-Suk, Jin-Su, Seon-Ju und die anderen Protagonisten dieses Buches stehen für die Menschen, die während der Aufstände in der südkoreanischen Stadt Gwangju und der darauf folgenden Massaker verletzt oder getötet wurden, sowie für deren Angehörige und Hinterbliebene. So präsent dieses Kapitel der Geschichte in Südkorea jedoch auch heute noch ist, so wenig wissen die meisten Menschen hierzulande darüber, daher zunächst eine kleine Zusammenfassung:

In Gwangju fanden im Mai 1980 anfangs friedliche Demonstrationen von Studenten gegen die damals herrschende Militärdiktatur statt. Das Militär reagierte mit äußerst brutaler Gewalt, worauf es zu weiteren Aufständen der Bevölkerung kam, die wiederum ohne Rücksicht auf Menschenleben niedergeschlagen wurden. Soldaten benutzten Bajonette, auch gegen Alte, Kinder und am Protest Unbeteiligte, oder feuerten wahllos in Menschenmengen, woraufhin sich die Aufständischen ebenfalls bewaffneten. Sprach das Militär damals offiziell von 170 Todesopfern und 730 Verhaftungen, geht eine 1988 herausgegebene Broschüre des Hilfswerk Terre des Hommes von über 2.000 Todesopfern aus, was auch andere Quellen unterstützen², während die The May 18 Memorial Foundation von über 3.000 Verhaftungen spricht³.

Die Autorin schwelgt nicht unnötig in der Darstellung der Gewalt um der Gewalt willen, beschönigt aber auch nichts und schreckt vor nichts zurück. Während manche Charaktere versuchen, ihre Erinnerungen zu verdrängen, erinnern sich andere nur zu deutlich an unmenschliche Folter und Erniedrigung, die darauf angelegt schien, sie jeglicher Menschenwürde zu berauben.

An dieser Stelle eine eindringliche Triggerwarnung: explizit beschrieben werden Folter, sexuelle Gewalt, drastische Verwundungen und Verstümmelung, zum Teil auch Jugendliche betreffend.

Mir raste mehr als einmal das Herz, ich empfand starke Gefühle der Beklemmung, der Wut und der Trauer, gelegentlich wurde mir auch leicht übel. Tatsächlich konnte ich mich kaum davon lösen, es beschäftigte mich mehrere Tage hindurch unentwegt.

Auch wenn es vielleicht so klingt, bereue ich keineswegs, das Buch gelesen zu haben. Es ist ein wichtiges Buch, das den Menschen, die damals gestorben sind oder schwer traumatisiert überlebt haben, eine Stimme gibt – das aus ihnen mehr macht als eine Statistik oder eine Fußnote der südkoreanischen Geschichte. Die Autorin betont in Interviews, sie wolle diese Menschen auch nicht als Opfer darstellen, denn im koreanischen Verständnis beinhalte das Wort für 'Opfer' automatisch eine Annahme von Schwäche, und diese Menschen seien nicht schwach gewesen.

In der Tat gelingt ihr, was sie anstrebte: sie schlägt die Brücke von der Gewalt zur Würde.

Sie zeigt, wozu der Mensch fähig ist, im Guten wie im Schlechten. "Menschenwerk" sind die Folter und die Ermordung Unschuldiger, aber "Menschenwerk" sind auch die Selbstlosigkeit, der Mut und die Entschlossenheit, für das einzustehen, was richtig ist, und im äußersten Fall auch dafür zu sterben.

Auch der Schreibstil spiegelt diese Kluft wieder. Meist ist er ruhig, manchmal sogar nüchtern, dann wieder poetisch. Die Geschichte wird aus der Sicht verschiedener Personen erzählt, sogar in verschiedenen Erzählperspektiven – mal spricht ein personaler Erzähler in der Ich-Perspektive, mal ein auktorialer in der dritten Person, in manchen Szenen wird der Leser sogar mit "Du" angesprochen, was ihn zwingt, die Rolle eines der Charaktere einzunehmen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.09.2017
Wenn Schmetterlinge Loopings fliegen / Hamburg-Reihe Bd.2
Hülsmann, Petra

Wenn Schmetterlinge Loopings fliegen / Hamburg-Reihe Bd.2


sehr gut

Ehrlich gesagt: ich lese nur sehr, seeeeehr selten Liebesromane, und mit Fußball hab ich absolut nichts am Hut. Wirklich, ich habe nicht die geringste Ahnung davon (das Runde muss in das Eckige, und sonst?), und ich kann weder die Mannschaften noch die wichtigsten Spieler auseinander halten.

Wer sich jetzt fragt, warum ich dann um Himmels willen nach einem Buch gegriffen habe, bei dem schon der Klappentext verrät ,dass es um eine Liebesgeschichte mit einem Fußballer geht – das liegt daran, dass ich von "Hummeln im Herzen", dem ersten Buch der Autorin, rundum bezaubert war und danach beschlossen habe, alle ihre Bücher zu lesen. (Meine Rezension.)

Vieles von dem, was mich an den Hummeln begeistert hat, findet sich auch bei den Schmetterlingen wieder. Der Humor zum Beispiel! Ich liebe den Humor von Petra Hülsmann, denn der ist locker-flockig, einfallsreich und wirkt vor allem nicht erzwungen, sondern ganz natürlich. Zwischen Karo und Patrick sprühen direkt die Funken – allerdings erstmal nicht im positiven Sinne. Sie hasst es, dass sie für einen arroganten Partylöwen den Babysitter spielen soll, er hasst es, dass ihm sein Verein hinterherspioniert und ihm zu allem Unglück noch eine Aufpasserin aufdrängt, die ihn schon früh morgens in perfider Bösartigkeit mit guter Laune nervt. Und das ist wirklich, wirklich witzig.

Zugegeben, am Anfang konnte ich Patrick nicht ausstehen, da war ich vollkommen Karos' Meinung. Wie sie fand ich ihn arrogant und einfach unmöglich – pfft, ist sich zu schade, seine Fanpost selber zu signieren, geht Nacht für Nacht saufen und Frauen abschleppen... Ich hatte leise Zweifel, ob die Autorin es tatsächlich schaffen würde, ihn mir sympathisch zu machen! Aber, wer hätte es gedacht, er wuchs mir wahrhaftig noch ans Herz, denn hinter seinem Verhalten steckt mehr, als man erwarten würde.

Und da war sie wieder, die andere Sache, die mir an den Hummeln schon so gut gefallen hatte: die Charaktere erweisen sich oft als tiefgründiger, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Sie haben alle ihre Ängste, Schwächen und Unsicherheiten, auch die eher unwichtigen Nebencharaktere. Wer die Bücher von Petra Hülsmann liebt, kennt zum Beispiel Taxifahrer Knut, den wahren Ausbund an Lebensweisheiten!

Auch wenn der Tiefgang hier nach meinem Empfinden nicht ganz so tief ist wie im letzten Buch, ist Karo dennoch eine glaubhafte, überzeugende Protagonistin. Sie hat viel Zeit, Arbeit und Energie in ein Studium gesteckt, um beruflich richtig durchzustarten, und hat einen spitzenmäßigen Abschluss hingelegt! Da ist es verständlich, dass es sie verletzt und irgendwie auch demütigt, dass sie Babysitterin spielen soll und einfach nichts Besseres finden kann. Da spielt vieles hinein: sie ist die Erste in ihrer Familie, die Abitur gemacht und dann noch studiert hat, worauf ihre Eltern unheimlich stolz sind, was sie aber trotzdem von ihrer Familie etwas entfremdet und besonders für Spannungen mit ihrer Schwester sorgt, die ihr vorwirft, wie hielte sich für etwas Besseres.

Angesprochen wird auch das Dilemma, dem sich viele berufstätige Frauen ausgesetzt sehen: wie kann eine Beziehung funktionieren, wenn beide Karriere machen wollen, und muss die Frau automatisch diejenige sein, die zurücksteckt?

Die Liebesgeschichte hat mir gut gefallen, gerade weil sich nicht einfach alle Schwierigkeiten direkt in Wohlgefallen auflösen. Vielleicht könnte man ihr vorwerfen, ein wenig vorhersehbar zu sein – aber ist es nicht bei den meisten Liebesromanen so, dass man von Anfang an weiß, wer am Schluss mit wem zusammenkommen wird? Der Weg ist das Ziel! Und Petra Hülsmann sorgt natürlich für Stolpersteine, Irrungen und Wirrungen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2017
Miss Daisy und der Tote auf dem Eis / Miss Daisy Bd.1
Dunn, Carola

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis / Miss Daisy Bd.1


sehr gut

Miss Daisy ist eine junge Frau aus gutem Elternhaus, mit den besten Verbindungen zum Adel. Es sind die 20er Jahre und ihr Leben hätte eigentlich in gewissen Bahnen verlaufen sollen, wie Tradition und soziale Konventionen es vorgeben: eine standesgemäße Partie und danach ein Leben als charmante Gattin, mit gepflegten Gartenpartys, Jagdgesellschaften, Tanztee und abendlichen Kartenspielen. Tatsächlich ist ihr Verlobter jedoch im Krieg geblieben, ihren Vater hat die Grippe-Epidemie dahingerafft, und Daisy hat nicht die Absicht, die Hände sittsam in den Schoß zu legen und im Haus ihrer Mutter vom verhältnismäßig bescheidenen Erbe zu leben. Stattdessen arbeitet sie als Journalistin und bedient sich offiziell eines Fotografen, der jedoch nur auf dem Papier existiert, da sie ihr Redakteur einer Frau die Bedienung einer Kamera nicht zutraut.

Das war mir schon mal sehr sympathisch. Daisy weiß, was sie will – und vor allem weiß sie, was sie nicht will. Sie ist entschlossen, mutig, aufgeschlossen und intelligent, und dabei lässt sie sich nicht in ein gesellschaftliches Korsett zwängen. Da versteht es sich fast von selbst, dass sie es nicht einfach auf sich beruhen lassen kann, als vor ihren Augen ein Toter aus dem zugefrorenen See gezogen wird, und sich dabei auch nicht davor scheut, mit dem bürgerlichen Inspector Alec Fletcher zusammen zu arbeiten. Der hingegen ist es gar nicht gewöhnt, jemandem vom Adel zu begegnen, der nicht auf ihn herabschaut.

Dieses Buch ist ein waschechter Cosy-Krimi: das Erzähltempo ist eher gemächlich, die Gewalt hält sich in Grenzen, sogar der Mord ist relativ sauber und wird nicht bis ins kleinste Detail beschrieben. Dafür bekommt man einen Einblick ins Leben des Landadels im England der 1920er, mit viel Atmosphäre und bunten Charakterbeschreibungen. Dabei erfährt man Einiges über das Leben der verschiedenen Akteure, das nicht immer unbedingt etwas mit dem Fall zu tun hat: wer ist in wen verliebt, gibt es im Leben der blutjungen zweiten Frau des Grafen ein skandalöses Geheimnis, wird Daisys Kindheitsfreund es jemals aufgeben, ihr trotz ihrer freundlichen, aber entschiedenen Abfuhren Anträge zu machen?

Ja, das ist eine sehr malerische, vielleicht ein bisschen kitschige Sicht auf die Zeit und das Leben der Menschen damals. Gut, es erfindet ehrlich gesagt auch das kriminalliterarische Rad nicht neu. Aber es hat seinen ganz eigenen Charme, und das soll auch nicht heißen, dass das Buch nicht spannend ist – nur wandelt Miss Daiys eben eher auf den Spuren von Miss Marple als auf den Spuren von Smoky Barrett. Oder: eher Rosenheim-Cops als Hannibal.

Mir hat gut gefallen, wie Daisy sich in die Ermittlungen stürzt: kein bisschen zimperlich, dafür aber mit guter Beobachtungsgabe und viel Enthusiasmus. Die Auflösung fand ich gut konstruiert; mir war bis zum Schluss nicht klar, wer den Toten ins Eis befördert hat und warum, aber die Erklärung war in meinen Augen schlüssig und glaubhaft.

Dass es dabei zwischen Miss Daisy und Inspector Fletcher ein wenig kribbelt, ist meines Erachtens (noch?) erfreulich dezent und kitschfrei! Ich könnte mir aber vorstellen, dass sich daraus in den Folgebänden eine echte Romanze entwickelt.

Der Schreibstil liest sich leicht und angenehm, beschreibt dabei aber alles bildlich und lebendig genug, dass man es sich wunderbar vorstellen kann. Die Autorin vermittelt einem das Gefühl, wirklich einen kleinen Blick in die Zeit zu werfen, mit all ihren Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Normen.

Bewertung vom 16.09.2017
Die Kieferninseln
Poschmann, Marion

Die Kieferninseln


ausgezeichnet

Gilbert Silvester geht jegliche Fähigkeit zur Selbstreflexion vollständig ab.

Seine Wahrnehmung ist seine Wirklichkeit ist die absolute, unumstößliche Wahrheit: er träumt, seine Frau habe ihn betrogen, also hat sie ihn betrogen, also lügt sie, wenn sie es abstreitet. Traum und Wirklichkeit sind fließende Konstrukte, deren Grenzen von Gilbert in keinster Weise hinterfragt werden.

Und so fliegt er nach Japan – obwohl er Ländern, in denen mehr Tee als Kaffee getrunken wird, grundlegend misstraut! –, beschließt, auf den Spuren des verehrten Dichters Matsuo Bashō zu wandeln, rettet den Studenten Yosa Tamagotchi vor dem Suizid und nimmt ihn kurzerhand mit auf seine merkwürdige Pilgerreise.

Kulturschock? Ja und nein.

Unbeirrt belehrt Gilbert seinen jungen Begleiter über die Kultur seines eigenen Landes, was der sich fast schon unterwürfig gefallen lässt, erweist sich jedoch selber als nahezu unbelehrbar. Fest entschlossen, auf seiner Pilgerreise Erleuchtung zu erleben, lässt er diese über weite Strecken des Buches dennoch nicht zu. Er will beeindruckt werden, ist aber unempfänglich: sowohl für die Schönheit imaginärer Kirschblüten (da die Jahreszeit die falsche ist für echte Blüten) als auch für das albtraumhafte Szenario des Selbstmordwaldes von Aokigahara, wo Yosa den idealen Ort für seinen Freitod sucht.

Erst im Kabuki-Theater ist Gilbert gegen seinen Willen dann doch fasziniert, obwohl oder gerade weil ihm das Konzept vollkommen fremd ist.

Die Autorin spielt mit dem klassischen Doppelgängermotiv: Gilbert spiegelt sich wider in Yosa, projiziert seine eigenen Schwächen, Ängste und Sehnsüchte auf den jungen Mann und würdigt ihn für genau diese herab. So sagt er, ohne sich der Ironie bewusst zu sein, er setze "keinerlei Vertrauen mehr in Yosas Vorschläge, die bisher samt und sonders davon zeugen, wie ein undisziplinierter Geist sich von verworrenen Gefühlen übermannen und sich zu irrationalen und sinnlosen Handlungen treiben lässt".

So deutlich ist Yosa ein Spiegelbild von Gilbert, dass man sich als Leser fragen muss: gibt es diesen Studenten mit dem unwahrscheinlichen Nachnamen 'Tamagotchi' überhaupt? Befindet sich Gilbert wirklich auf einer Reise nach Matsushima oder ist das alles nur ein Traum? Die Autorin verzichtet auf einfache Erklärungen, so dass jeder Leser seine eigene Wahrheit finden muss.

"Die Kieferninseln" ist eine sprachlich wunderschöne, inhaltlich außergewöhnliche Gratwanderung zwischen Schein und Sein. Dabei ist das Buch nicht nur durch seine lyrische Wortmalerei ansprechend, sondern auch durch sein feines Psychogramm eines unverbesserlichen Pedanten, mit dem man dennoch mitfühlen muss, da er, ob ihm das nun bewusst ist oder nicht, auf der Suche ist nach mehr als seiner beengten Existenz.

Es ist kein Buch zum Verstand abschalten und berieseln lassen, dafür aber eines, das zeigt, dass anspruchsvolle Literatur nicht trocken und langweilig sein muss: die Geschichte ist unterhaltsam, sie ist spannend, sie ist manchmal von einer Art tragisch angehauchter Komik. Gilbert und Yosa sind eine sonderbare Reisegemeinschaft, innerhalb derer vieles ungesagt bleibt – aber es ist ein beredtes Schweigen, in das der Leser viel hinein interpretieren kann, so wie das japanische Haiku erst vollendet wird durch die Interpretation des Lesers.

Matsuo Bashōs Leben spielt nur im Hintergrund eine Rolle, aber seine Lyrik schwingt mit in den Beschreibungen der Landschaften, den von Marion Poschmann gewählten Bildern und nicht zuletzt den von Gilbert und Yosa verfassten Haiku, so laienhaft diese auch sein mögen.

Fazit:
Die Geschichte hat etwas Schwebendes, Schwereloses: Man weiß nie genau, wo die Grenzen zwischen Schein und Sein verlaufen – was erlebt Gilbert wirklich, was ist vielleicht nur ein Traum? Man kann vieles zwischen den Zeilen entdecken, hinterfragen, interpretieren, oder auch einfach die Schönheit der Sprache auf sich wirken lassen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.09.2017
Essenzstab / Das Erbe der Macht Bd.2 (eBook, ePUB)
Suchanek, Andreas

Essenzstab / Das Erbe der Macht Bd.2 (eBook, ePUB)


sehr gut

Zunächst ein kleiner Hinweis zum Format, in dem diese Reihe erscheint: es handelt sich hier um ein sogenanntes 'Serial' – jeden Monat kommt eine neue Folge als eBook heraus, das etwa 120 bis 150 Druckseiten entspricht. In regelmäßigen Abständen veröffentlicht der Verlag außerdem Sammelbände, die jeweils drei Folgen in einem schicken Hardcover zusammenfassen.

Nachdem mich die erste Folge der Reihe bereits wunderbar unterhalten hat, konnte mich die zweite ebenfalls überzeugen und ich habe sie in kürzester Zeit inhaliert. Die vorgestellte Welt ist interessant, scheint mir bisher auch recht komplex und bietet eine solide Grundlage für Geschichten, die sich hoffentlich nach und nach zu einem epischen Gesamtwerk mit übergreifendem Spannungsbogen zusammensetzen werden. Bisher verläuft die Handlung jedenfalls vielversprechend!

Das Tempo ist hoch: die Helden werden schnell mit brenzligen Situationen und diversen Herausforderungen konfrontiert, so dass es nie langweilig wird. Klar, natürlich gibt es das ein oder andere Element, das einem zunächst aus anderen Fantasybüchern bekannt vorkommt (das lässt sich in diesem Genre nur schwer vermeiden), aber Andreas Suchanek wartet mit genug einfallsreichen Details auf, um etwas ganz Eigenes daraus zu machen, so dass sich die Geschichte dennoch originell und spannend liest.

In diesem Band lernt man vor allem Alex und Jen besser kennen, denn die beiden werden mit etwas konfrontiert, was sie schockiert und den jeweils anderen in einem sehr ungünstigen Licht erscheinen lässt – und das ausgerechnet zu einer Zeit, als die Kämpfer des Lichts wirklich mehr als genug Probleme haben. Mir gefallen beide als Protagonisten sehr gut, weil sie deutlich vielschichtiger sind, als der erste Eindruck vielleicht vermittelt! Auch die anderen Charaktere machen neugierig auf ihre Hintergrundgeschichten und Geheimnisse, über die man hoffentlich in zukünftigen Folgen noch mehr erfahren wird.

Der Schreibstil liest sich sehr locker: lässig und ungezwungen und mit mehr als einer Prise Humor. Dabei gelingen dem Autor die actionreichen Szenen in meinen Augen besser als die emotionalen, aber das kann durchaus noch kommen, wenn der Leser die Charaktere im Laufe der Reihe besser kennen lernt. In dieser zweiten Folge hatte ich schon das Gefühl, dass die Charaktere im Vergleich zur ersten mehr Tiefgang entwickeln, und wenn sich der Trend fortsetzt, lässt das Gutes erwarten.

Ein wenig gewundert habe ich mich darüber, dass die verschiedenen Charaktere sich auch in den dramatischsten Situationen noch über alles mögliche unterhalten können! Manchmal kam mir das nicht so ganz glaubhaft vor...

Fazit:
Ein kleiner Happen Fantasy für zwischendurch: Andreas Suchanek erzählt seine Geschichte vom Erbe der Macht in kurzen Folgen von etwa 120 bis 150 Seiten, die sich unterhaltsam und spannend locker runterlesen. Die Welt und die Handlung haben viel Potential, und es bleibt zu hoffen, dass die Reihe dieses bis zum großen Finale auch voll entfaltet!

Bewertung vom 11.09.2017
Zauberhafte Fantasiewelten zum Ausmalen

Zauberhafte Fantasiewelten zum Ausmalen


ausgezeichnet

Dies ist jetzt schon mein dritter Malblock von Ars Edition, und bisher war ich immer sehr zufrieden mit der Qualität.

Die Ausmalbilder in diesen Büchern sind einseitig auf hochwertiges, glattes Papier gedruckt und lassen sich leicht und sauber aus dem Block herauslösen. Das Papier eignet sich durch seine Dicke wunderbar für Buntstifte, Filzstifte und Marker, ohne auf die Rückseite durchzudrücken, mit Aquarellfarben habe ich es nicht getestet. Bei meinem Beispielbild habe ich erst grundlegend mit Filzstiften in dezenten Farben ausgemalt und dann mit Buntstiften detaillierter und mit verschiedenen Farben darüber schattiert.

Jeder Block enthält 40 verschiedene Motive in unterschiedlichen Zeichenstilen und Schwierigkeitsgraden. Manche sind eher anspruchsvoll, andere lassen sich ganz entspannt zwischendurch ausmalen, ohne sich zu sehr darauf konzentrieren zu müssen. Die Bilder eigenen sich zum Teil sicher schon für kleine Künstler ab 8 Jahren, aber auch Erwachsene werden genug Auswahl finden, ohne sich unterfordert zu fühlen.

In diesem Block finden sich die klassischen Fantasy-Motive wie Elfen, Drachen oder Einhörner, aber auch ungewöhnlichere wie der Igel auf meinem Beispielbild, dem statt Stacheln eine kleine Stadt auf dem Rücken wächst. Einige der Motive haben schon einen teilweise farbigen Hintergrund

Bewertung vom 10.09.2017
Walter Nowak bleibt liegen
Wolf, Julia

Walter Nowak bleibt liegen


ausgezeichnet

Walter Nowak ist einer, der es durch harte Arbeit weit gebracht hat im Leben. Ein eigenes Hochbauunternehmen, das ist doch was, da kann man stolz drauf sein. Zwar ist er inzwischen in Rente, aber er kann sich immer noch einen angenehmen Lebensstil leisten. Zuhause hat er eine schöne Frau, deutlich jünger als er – die hat die Mutter seines Sohnes als erste Ehefrau ersetzt, aber was soll man machen? Was soll man da machen, wenn eine Frau wie für einen geschnitzt ist?

Walter ist nach wie vor ein echtes Alphatier. Einer, der sich nicht gehenlässt, wo käme man denn da hin? Jeden Morgen schwimmt er seine Bahnen – komme, was wolle! – und ist stolz darauf, dass er körperlich noch was hermacht: kein Tattergreis, sondern ein gestandener Kerl, den die Frauen begehrlich anschauen.

Oder zumindest ist das, wie er seine Welt wahrnimmt.

Man lernt viel über die Schattenseiten des Walter Nowak. Jedoch nicht etwa, weil er sein Verhalten kritisch hinterfragen würde – ganz im Gegenteil. Vielleicht ist gerade das seine größte Sünde: nicht sein notorischer Ehebruch, nicht seine Herabwürdigung der Frauen auf ihre körperlichen Reize, ja, nicht einmal seine Vernachlässigung des eigenen Sohnes. Sondern die Tatsache, dass er all dies entweder vor sich rechtfertigt oder sich dessen gar nicht bewusst ist.

Walter Nowak bleibt liegen, vielleicht blutend, vielleicht sterbend, und stürzt doch haltlos durch sein Leben. Seine Gedanken springen von einem Thema zum nächsten, manchmal gänzlich ohne ersichtlichen Zusammenhang, und dennoch kehren sie immer wieder zurück zu den gleichen Menschen und den gleichen Motiven. Wie ein Blick durchs Kaleidoskop: bunte Erinnerungssplitter, die sich zusammensetzen zu einem unvollständigen, vielleicht sogar verfälschten Bild, denn Walter ist sich selbst nicht mehr sicher, was Wahrheit ist und was Wahn. Hatte er wirklich einen Unfall im Schwimmbad? Ist das Blut in seinem Gesicht oder doch nur Saft? Ihm gehen Minuten verloren, Stunden verloren.

Der Schreibstil gibt Walters Verwirrung, sein Aufbäumen gegen die eigene Hilflosigkeit perfekt wieder. Dazu kommt, was? Eine gewisse Demenz, eine Gehirnerschütterung? Schlimmeres? Im Bewusstseinsstrom brechen Gedanken mitten im Satz ab, nur um später unvermittelt wieder aufgegriffen zu werden. Zeiten, Orte, Personen, alles kann sich plötzlich ändern. Nicht immer einfach zu lesen, dafür aber so immersiv, dass es schmerzt.

Julia Wolf verwendet zahlreiche Bilder für Walters Scheitern. So geht er jeden Tag schwimmen, um sein Selbstbild als toller Hecht zu stärken, zieht sich jedoch mittels Ohrstöpseln und hermetisch dichter Badekappe zumindest akkustisch aus der Wirklichkeit zurück. Sie lässt ihn in angeekelte Panik verfallen, als ihm unter Wasser ein Frauenhaar ins Gesicht geschwemmt wird – überhaupt scheint er sich von Frauen nicht nur angezogen, sondern vage bedroht zu fühlen. Da könnte man ihn ja, also, man könnte ihn als Lustmolch abstempeln. Dabei hat er doch nur... Seine Frau wird das verstehen. Oder nicht? Er hinterfragt nicht, ob an der befürchteten Anschuldigung etwas Wahres sein könnte.

Die Erzählung entbehrt nicht einer gewissen Komik. Dennoch: so unsympathisch Walter manchmal wirkt, so tragisch ist seine Geschichte auch. Vaterlose Kindheit. Erinnerungen an Schläge. Halb bewusste, nie erfüllte Sehnsüchte. Wo hat das Leben ihn hingeführt, diesen überlebensgroßen Frauenheld und Erfolgsmenschen? Zweisame Einsamkeit, ein gescheitertes Verhältnis zum eigenen Sohn.

Obwohl die Autorin niemals rührselig wird, kann einen Walter doch rühren, trotz all seiner Fehler. Man spürt, da ist etwas, eine sensible Seite, ein liebevolles Wesen. Wäre sein Leben anders verlaufen, dann. Vielleicht?

Bewertung vom 09.09.2017
Die Moortochter (Restexemplar)
Dionne, Karen

Die Moortochter (Restexemplar)


sehr gut

Die ersten zwei Dinge, die mir zu diesem Buch einfallen:

Erstens, es ist ungewöhnlich, aus psychologischer Sicht interessant und in einem schnörkellosen, indes ausdrucksstarken Schreibstil geschrieben.

Zweitens, es ist kein Thriller. Nicht mal ansatzweise.

Letzteres kann natürlich ein großes Manko sein für den Leser, der nur zu "Moortochter" gegriffen hat, weil er dem Aufdruck 'Psychothriller' auf dem Cover geglaubt hat. (Verständlicherweise.) Wer es mit dieser Erwartung und ausschließlich dieser Erwartung liest, wird mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden – ich habe ein paar negative Rezensionen zu dem Buch gelesen, und diese enthielten fast alle eine Variation von dem, was ich eben unter 'Zweitens' gesagt habe.

Doch auch, wenn man diese Erwartung erstmal beiseite lässt, ist es immer noch ein Buch, das die Meinungen spaltet.

Wenn es kein Psychothriller ist, was ist es dann?

In meinen Augen vor allem das komplexe Psychogramm einer Frau, die unter höchst ungewöhnlichen Voraussetzungen aufgewachsen ist. Ihre Kindheit verbrachte Helena zusammen mit ihren Eltern in einer winzigen Hütte in der Einsamkeit des Moors – ohne zu ahnen, dass ihre Mutter nicht freiwillig dort war und ihr Vater ein Entführer, Vergewaltiger und Mörder. Ihr erschien vieles normal, weil sie nicht wissen konnte, wie Normalität aussieht. Nicht alle Väter sperren ihre Töchter tagelang im Brunnenschacht ein. Nicht alle Väter schneiden ihnen bei Ungehorsam Worte in den Arm. Und dennoch empfindet Helena ihre Kindheit im Rückblick als glücklich, das Verhalten ihres Vaters als gerechtfertigt. Vom Verstand her weiß sie, dass dem nicht so ist, aber sie ist immer noch geprägt von seiner Erziehung. Sie ist stolz darauf, dass sie als Kind schon Fallen stellen, Spuren lesen, jagen und töten konnte, und (ob sie will oder nicht) sie ist ihm dankbar dafür. Ihre glücklichsten Erinnerungen sind solche, in denen sie ihn stolz machen konnte – wie zum Beispiel die Erinnerung an ihr erstes selber getötetes und ausgeweidetes Tier.

Ein Großteil des Buches konzentriert sich auf Helenas Erinnerung an ihre Kindheit, die Jagd auf den entflohenen Vater rückt da deutlich in den Hintergrund. Ich fand es trotzdem spannend, weil ich von Helena und ihrer Sicht auf die Welt fasziniert war.

Sie ist verheiratet, hat Kinder, und dennoch merkt man auf jeder Seite, dass sie emotional verkümmert ist. Ja, sie liebt ihre Kinder und würde für sie töten, aber ansonsten spürt man ihre Gefühle so gut wie nie. Auch nach all den Jahren ist sie im Grunde immer noch fixiert auf ihren Vater, und deswegen bleiben alle Charaktere außer ihm und Helena selber blass, unwichtig, Nebensache. Ich sehe das nicht als Scheitern der Autorin, denn es passt zu dem, was Helena erlebt hat, und ist in meinen Augen daher sicher gewollt. Tatsächlich sehe ich es als Kunststück der Autorin an, dass man als Leser trotz Helenas distanzierter Art überhaupt so einen guten Einblick in ihr Seelenleben erhält.

Da die Geschichte aus Helenas Sicht und in ihren eigenen Worten erzählt wird, ist der Schreibstil klar und direkt, ohne große Dramatik oder überbordende Emotion. Er fokussiert sich auf die Dinge, die in Helenas Welt entscheidend und wichtig sind, und vieles davon hat mit dem Überleben in der Wildnis zu tun, obwohl sie schon einige Jahre in der Zivilisation lebt, abgesehen von regelmäßigen Jagdausflügen.

Bei einem typischen Thriller wäre die Jagd nach dem Vater das wichtigste Element des Buches, und das fulminante Finale würde damit stehen oder fallen, ob Helena ihn tötet, ausliefert oder laufen lässt. Tatsächlich war mir das im Grunde jedoch vollkommen egal – was mich viel mehr interessierte, war, ob sie sich am Schluss emotional von ihrem Vater lösen kann oder nicht, und in der Hinsicht fand ich die Auflösung gelungen.