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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 137 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2022
Gretas Erbe / Die Winzerin Bd.1
Engel, Nora

Gretas Erbe / Die Winzerin Bd.1


gut

Wein, Weib und Gesang

Wein: Greta wird groß auf dem Weingut der Familie Hellert, das stets um seine Existenz ringt und in Konkurrenz zu dem Weingut der Freudenbergs steht, dem das Glück sehr viel holder zu sein scheint. Wer wird am Ende die Nase vorn haben?

Weib: Nicht nur als Frau, sondern auch als uneheliches Kind und als Waise, da ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben und der Vater unbekannt ist, hat Gretas es schwer. In der Familie Hellert, weil sie eher Dienstmagd, Kindermädchen und Arbeiterin ist, denn Ziehtochter. In der Gesellschaft der 70er Jahre, weil diese den Frauen, die Selbstbestimmung, beruflichen Aufstieg, finanzielle Unabhängigkeit und eine eigene Meinung für sich einforderten, mehr als kritisch gegenüberstanden. So darf Greta doch nicht das lang erstrebte Abitur machen, sondern wird von ihrem Ziehvater zur Weinbauschule geschickt, um der Familie als billige Fachkraft zu dienen. Denn wirklich dazu gehören tut Greta nicht. Erst am Ende des ersten Teils dieser Reihe scheint sich ihr Schicksal zu wenden: was wird sie anfangen mit der ersehnten Freiheit?

Gesang: Dafür steht Robert, der zweitälteste Sohn der Hellerts, auch einer, der sich nicht in die Familien fügen will. Statt einer Banklehre macht er lieber Musik und strebt nach einer großen Karriere, sodass es zum Bruch mit der Familie kommt. Er verliebt sich in Elsa. Aber sie ist noch nicht volljährig und er finanziell nicht abgesichert. Hat ihre Liebe eine Zukunft?

Die Atmosphäre der 70er Jahre fängt der Roman gut ein, sei es gesellschaftlich – die Sternkampagne: Ich habe abgetrieben, sei es kulturell – siehe die Playlist am Ende des Buches, sei es historisch - das Attentat bei den Olympischen Spielen in München, sei es alltags- und sittengeschichtlich – so z. B. die elektrische Trockenhaube, die es der Hausfrau ermöglicht, sich die Haare bei Verrichtung ihrer hausfräulichen Pflichten schön zu machen.
Der Stil ist gut lesbar, die Figur von Greta sympathisch und die Ereignisse in der Familie Hellert mit den vier Kindern neben Greta, die zum Teil schon ihre eigenen Familien gründen vielseitig und unterhaltsam. Das Buch hält sein Versprechen auf gute, kurzweilige Unterhaltung. Am Ende kommt auf Greta eine schwere Entscheidung zu, die aber offenbleibt. Ein guter Cliffhanger zum Weiterlesen von Band 2!

Dass die Figuren insgesamt etwas sehr klischeehaft sind, vor allem die Familie Hellert mit Ausnahme von Robert, dem Musiker, und Matse, dem sehr weiblichen Nesthäkchen, allesamt geifernde Spießbürger und Sittenwächer in bigottester Art und Weise, hat eher ein komische als eine störende Note. Als ironisch übertriebenes Sittengemälde lassen sie sich herrlich komisch betrachten.

Etwas ermüdend ist die ziemlich gefühlsduselige Beziehung zwischen Robert und Greta, die sich immer gegenseitige Liebe schwören, aber doch nicht zu einander finden. Da wäre nach meinem Geschmack etwas weniger Hin und Her mehr gewesen.

Wer nach guter Unterhaltung und Abwechslung und einer Auszeit vom Alltag sucht, ist mit dem Roman „Gretas Erbe“ gut beraten. Eine Familiensaga im Winzermilieu vor dem Hintergrund der 70er Jahre ist da auch mal eine willkommene Abwechslung zu den vielen anderen Familiengeschichten in Romanform.

Bewertung vom 23.03.2022
Im Rausch des Aufruhrs
Bommarius, Christian

Im Rausch des Aufruhrs


sehr gut

Für die Hungrigen eher als für die Satten
Der Autor porträtiert mit großer Kennerschaft das Jahr 1923 monatsweise und gibt im Anhang einen Ausblick, „wie es weiter geht“, indem er kurze Porträts der historischen Figuren gibt, die im Buch vorher in die Ereignisse involviert waren oder die die Ereignisse überhaupt erst angestoßen haben. Und es ereignet sich viel im Jahre 1923. Viele Figuren haben ihren Auftritt, seien es Privatpersonen mit bewegtem Schicksal oder seien es historische Persönlichkeiten, die bereits eine große Rolle spielen, wie Stresemann oder Hitler, wie Anita Berber oder Kurt Tucholsky, oder die noch eine große Rolle spielen werden, wie Sepp Herberger, der in diesem Jahr als Geldzähler inflationäre Eintrittspreise zählen muss, oder Victor von Bülow, Loriot, der in diesem Jahr geboren wird. Wie auch die Mutter des Autors.
Für jeden Leser ist etwas dabei und für jeden Leser liest sich – je nach Interesse – die eine Passage leichter als andere. So kommt der kulturell Interessierte auf seine Kosten, wenn es um die schönen Künste geht, die Literatur, Kafka, Fallada, Gorki, oder das Kino. Der am Leben des kleinen Mannes, um mit Fallada zu sprechen, Interessierte, wenn es um die Sorgen und Nöte, aber auch die Freuden des einzelnen geht, auch wenn letztere eher dünn gesät sind. Wie vergnügt er sich, aber auch wie viel kostet ihn ein Brot? Ganz besonders angesprochen werden die politisch und historisch Interessierten, die sich nicht von den permanent wechselnden Verhältnissen und Regierungen der Weimarer Republik abschrecken lassen. Diejenigen, die der Kampf Rot gegen Braun interessiert, aber auch der gemeinsame Kampf gegen Franzosen im Ruhrpottstreik, wobei das Gemeinsame nicht wirklich verbindend ist. Auch die Inflation ist ein spannendes sowie aktuelles Thema. So hält sich der heutige Leser vor Augen, wie schlimm es einmal mit der Inflation gekommen ist und was wahrer Mangel in den Regalen der Läden, was realer Hunger und reale Not bedeuten. Auch wenn er sich dabei doch nicht ganz losmachen kann von dem Blick auf das, was ihn heute vielleicht doch einmal wirklich bedrohen könnte. So schwankt er zwischen dem Glück, das ihn damit getroffen hat, ein Hundertjahrenachherlebender zu sein, und der flehentlichen Hoffnung, ihn mögen solche Verhältnisse verschonen. Ein Blick über den Tellerrand jedoch hilft gegen den Egozentrismus, der im eigenen Leid immer das größte sieht, auch wenn es nur die vorübergehende Abwesenheit von Mehl, Speiseöl oder Klopapier ist. Worauf der Leser sich dabei allerdings einlassen muss, ist das „Ragout“, wie es der Theaterdirektor seinem Dichter und dem Narren schon in Goethes „Faust“ im Prolog abverlangt. Er muss sich einlassen auf ein buntes Durcheinander von Personen, von Ereignissen, von Anmerkungen zu einem Jahr in einer nicht immer ganz so anderen Zeit, von dem ihm eventuell der eine Happen besser munden wird als der andere. Aber für jeden ist auf jeden Fall etwas dabei. Und jeder wird seinen Lesehunger und seinen Wissensdurst, so er sich diesen in einer satten Zeit bewahrt hat, für eine Zeit – bis zum nächsten Buch – stillen können.

Bewertung vom 02.03.2022
Die Tochter der Zarin / Die Zarin-Saga Bd.2
Alpsten, Ellen

Die Tochter der Zarin / Die Zarin-Saga Bd.2


sehr gut

Historischer Schmöker in bewährter Manier
Der Inhalt des Romans ist schnell wiedergegeben: Elisabeths Kampf um den Zarenthron. Die Geschichte enthält alle Ingredienzien eines historischen Schmökers für lange Leseabende auf dem Sofa oder im Bett: Liebe, Mord, Rache, Intrige, Spannnung, Verzweiflung ... Dabei nimmt die Autorin den Leser mit auf die Reise in die russische Geschichte und die russische Seele: Ränke um den Zarenthron, politische Interessen, internationale Verwicklungen, die Opulenz des Palastlebens, aber auch die Kargheit des russischen Bauernlebens. Der Leser erfährt einiges über das breite Spektrum gesellschaftlichen Lebens, russische Bräuche und russischen Aberglauben. Das Buch selbst schafft immer wieder eine dichte Atmosphäre, auch immer wieder mystisch angehaucht: dunkle Vorzeichen, Prophezeiungen spielen eine Rolle. Einziger Kritikpunkt: Die epischen Schilderungen der Stimmungen sind bisweilen sehr bildüberfrachtet, und dann stockt der Lesefluss. Wenn die Autorin auf diese Stimmungsmetaphorik verzichtet, erzeugt sie einen Lesefluss, der den Leser geradezu in die Zeit und das Leben der Elisabeth hineinzieht. Wer also 600 Seiten und ein dichtes Beziehungsgeflecht einer Vielzahl von Figuren nicht scheut, wird hier auf seine Kosten kommen.

Bewertung vom 10.10.2021
Die Übersetzerin
Lecoat, Jenny

Die Übersetzerin


sehr gut

Beklemmend
Hedy ist Jüdin aus Österreich und vor der Verfolgung durch die Deutschen nach der Annektion Österreichs auf die Kanalinsel Jersey geflohen, nur um dort von ihrem Schicksal wieder eingeholt zu werden, als die Deutschen die Insel besetzen. Genötigt von den harten Umständen der Besatzung, dem Mangel an Kleidung und Nahrung, bewirbt sie sich um eine Stelle – ausgerechnet bei den deutschen Besatzern – als Dolmetscherin, da sie sowohl Deutsch als auch Englisch spricht. Als sie dort dem Wehrmachtsoffizier Kurt Neumann begegnet und beide sich gegen alle Widrigkeiten in einander verliebten, beginnt beider Kampf um Hedys Rettung. Denn mit Verschlechterung der Kriegslage für die Deutsche gerät Hedys Leben immer mehr in Gefahr. Aber die drohende Niederlage der Deutschen, Rettung für Hedy, bedeutete für Kurt den möglichen Tod. Hat die Liebe der beiden überhaupt eine Zukunft?
Basierend auf einer historischen Begebenheit schildert die Autorin den entbehrungsreichen, unmenschlichen und scheinbar aussichtslosen Kampf der Menschen unter den Bedingungen des Krieges. Die vermeintlich friedliche Insel Jersey mit ihrer wildromantischen Naturkulisse und dem ländlich-bäuerlichen Leben entpuppt sich bald als Falle für Hedy und alle die, die ihr helfen. Zum einen erscheint jeglicher Fluchtversuch unmöglich, zum anderen gehen allen Inselbewohnern bald die notwendigen Dinge zum Leben aus. Und der Leser kämpft sich mit ihnen durch Kälte, Hunger und Aussichtslosigkeit, die in der Frage Dorotheas, Hedys Freundin und Retterin, bei der sie sich versteckt hält, gipfelt: Haben wir bis jetzt den Krieg überlebt, um am Hunger zu sterben? Immer wieder leuchten kleine Funken der Hoffnung auf, ein Ferkel, das geschlachtet werden kann, ein paar illegal erworbene Fische, die den Hunger stillen, aber immer wieder müssen auch neue Gefahren überwunden werden: Hedy muss sich im Haus der Freundin verstecken, ihre Anwesenheit darf von keinem Bewohner bemerkt werden und, als die Nazis ihr auf die Spur kommen und Dorotheas Haus unter die Lupe nehmen, müssen Hedy und Kurt einen Plan ersinnen, um Hedys Leben zu retten.
Doch nicht in einer rasanten Abenteuerjagd rast der Leser durch die Geschehnisse, er ringt sich mit den Protagonisten durch das zähe Warten auf Rettung. Beklemmend spitzt sich die Ausweglosigkeit immer weiter zu. Selbst die Momente größter Spannung unterliegen einer Art Lähmung, die auch den Leser erschöpft.
Atmosphärisch ist dieser Roman beklemmend und auf recht unspektakuläre Art grausam. Das Schicksal der beiden Freundinnen geht dem Leser nahe. Hingegen bleibt die Figur Kurt Neumann ein wenig blass. Zu unproblematisch trennt sich sein Leben in das des deutschen Wehrmachtoffiziers von dem des Geliebten der Jüdin Hedy. Gerade im Spannungsfeld dieser Figur hätten sich ein paar interessante Fragen nach Gefühlen und Gedanken aufgetan. Gerade hier hätte es interessante Ansatzpunkte um die Frage nach Schuld und Verantwortung gegeben.
Aber insgesamt kann man auch in diesem Roman wieder feststellen, dass das wahre Leben die „besten“ Geschichten schreibt: Der Plot der Verwicklungen, bei dem niemand als Gewinner aus der Sache herauskommen zu können scheint, verdeutlicht dem Leser, wie unberechenbar das Schicksal ist.

Bewertung vom 03.10.2021
Berlin Friedrichstraße: Novembersturm / Friedrichstraßensaga Bd.1
Schweikert, Ulrike

Berlin Friedrichstraße: Novembersturm / Friedrichstraßensaga Bd.1


sehr gut

Geschichts- und LIteraturunterricht in seiner schönsten Form!
Berlin in den goldenen Zwanzigern - die vier Freunde Johannes, Robert, Ilse und Luise sowie ihr stilles Anhängsel aus dem Hinterhaus, Ella, sind zusammen aufgewachsen. Ihre Lebensläufe haben sich durch den Ersten Weltkrieg getrennt, aber die spannungsreiche Zeit der Weimarer Republik bringt sie einander wieder näher, in Liebe, Eifersucht, Freundschaft und Verrat.
Anhand dieser fünf Lebensausschnitte ersteht das Berlin der Zeit um die Jahrhundertwende bis hin zum Aufstieg der Nationalsozialisten dem Leser lebendig vor Augen.
Dadurch dass diese Lebensläufe so unterschiedlich sind und uns in ganz verschiedene soziale Schichten, aber auch in ganz unterschiedliche Milieus führen, eröffnet sich dem Leser die ganze Spannbreite damaligen Lebens, und es wird nie langweilig: Da ist Johannes, der verspätete versehrte Kriegsheimkehrer, der nicht mehr in sein altes gut bürgerliches Leben zurückfindet, sondern als Kioskbesitzer einen ganz neuen Lebensentwurf für sich entwickelt; Robert, einst sein bester Freund, der - auch ehemaliger Soldat - recht erfolgreich an sein Vorkriegsleben anschließen kann und als Architekt erfolgreich ist; Ilse, die Schwester von Johannes, die als Modeschöpferin und eher den Frauen als den Männern zugeneigt den Leser mitnimmt in die buntschillernde, aber auch sündige Berliner Nacht- und Nebenwelt der Varietés und Kinos; und Luise, die Frau zwischen Johannes und Robert, die sich schließlich für Robert entscheidet und sich damit auch entscheiden muss für Beruf oder Familie; und zu guter letzt Ella aus dem Hinterhof, die sich mit ihrem unehelichen Sohn durchschlagen muss, nachdem sie seinetwegen ihrer Anstellung als Verkäuferin verloren hat und nun auf die Hilfe ihres kleinkriminellen Bruders Paul angewiesen ist. Die Figuren gehen auf jeden Fall zu Herzen, jede ist auf ihre Weise sympathisch, hat Stärken und Schwächen und nimmt den Leser mit auf diese turbulente Lesereise. Manchmal sind die Verwicklungen und Schicksalsschläge allerdings doch ein wenig zu dramatisch und "ein wenig drüber". Die Unterhaltung hätte auch ohne das ganz große Drama gut funktioniert, was aber verzeihlich ist angesichts der großen Stärke dieses Romans: Eine Vielzahl an historischen und kulturell bedeutenden Personen aus Literatur, Musik, Kino, Varieté, Lifestyle, Sport und Politik bevölkern den Roman und gestalten ein anschauliches Panorama der Zeit. Man lernt viel, erfährt Neues oder entdeckt Bekanntes wieder: die Künstlersalons in Berlin, das schillernde Nachtleben, das uns zeigt, das Diversität kein ganz so aktuelles Thema ist, wie man denken könnte, die Comedian Harmonists, die Rennstrecke Avus, aber auch die politischen Unruhen der Weimarer Republik, die schnell wechselnden Reichskanzler, die Auseinandersetzung zwischen Roten und Braunen, aber auch die immer wieder eingestreuten Rückblicke in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs und auf die Situation der hungernden Bevölkerung zu Hause, die Arbeitslosigkeit, die Armenküchen, Obdachlosenheime usw. vermitteln ein für einen Unterhaltungsroman außerordentlich differenziertes, gut recherchiertes und fundiertes Bild der Epoche. Eine gelungene Lehrstunde in Sachen Zeit- und Kulturgeschichte, die auf unterhaltsame Art mehr Wissen als so mache Geschichtsstunde zu vermitteln vermag!

Bewertung vom 23.09.2021
Reise durch ein fremdes Land
Park, David

Reise durch ein fremdes Land


sehr gut

Ein literarischer Road Movie
Ein Vater macht sich auf, den kranken Sohn nach starken Schneefällen zu Weihnachten nach Hause zu holen, um eine Schuld zu begleichen …
Die Fahrt führt ihn „durch ein fremdes Land“, eine Winterlandschaft, deren Schnee alles verhüllt, das gewohnte Leben lahmlegt, alles drosselt und den Menschen auf sich selbst zurückwirft. Die Frage stellt sich, ob alles wieder so sein wird, wie es war, wenn der Schnee das Land und das Leben frei gibt.
In atmosphärischen Bildern gibt der Erzähler, der von Beruf Photograph ist und ein Auge für die Dinge hat, auch wenn er von sich Gegenteiliges behauptet, photographiert er in der Regel doch profane Menschengruppen bei Schulfesten oder Hochzeiten, die Eindrücke der Winterlandschaft wieder, so wie sie auch der Leser kennt, wenn er sich durch extremen Schneefall in einen Ausnahmezustand versetzt fühlt: wenn der Schnee alles einhüllt, allen Lärm schluckt, die Welt auf einmal geheimnisvoll, aber auch bedrohlich erscheint, wenn es kein Fortkommen mehr gibt, die Mobilität eingeschränkt ist und der Weg zur Gefahr werden kann.
Zugleich wird die Fahrt für den Vater auch eine Reise durch ein anderes „fremdes Land“, sein Seelenleben, an dem er den Leser teilhaben lässt: welche Fragen treiben ihn um, welche Gedanken quälen ihn, welche Erinnerungen ergreifen von ihm Besitz? Nach und nach enthüllen sich sein beruflicher Werdegang, das Gefühl der Unzulänglich im Beruf, nur ein 08/15-Photograph zu sein, dem das Auge für den besonderen, den ganz großen Moment fehlt; seine private Entwicklung, das Gefühl der Unzulänglichkeit als Ehemann und Vater, der Schwächen hat und Angst, vor der eigenen Einsamkeit und um das Lebensglück der ihm Anvertrauten. Beides führt zu einer – wie er sagt – leichten Depression. Dass dieser Mann allen Grund zur Traurigkeit bis hin zur Sehnsucht nach Schlaf hat, die gerade im Schnee einen tödlichen Ausgang haben kann, offenbart sich immer mehr. Dass dieser Mann eigentlich gar nicht ängstlich und schwach ist, zeigt sich immer wieder, beim Kennenlernen seiner Frau, bei der langen Fahrt zu seinem Sohn ganz allein über unwegsame, unfallträchtige Straßen im Schnee und bei der Konfrontation mit seinem Geheimnis in der Vergangenheit, das zu lüften er sich nicht traut, aus Angst, alles, was ihm geblieben ist, auch noch zu verlieren. Aber er enthüllt es dem Leser, indem er sich der Vergangenheit stellt, und somit entdeckt die Fahrt durch den Schnee, der alles Leben sonst zu verhüllen scheint, dem Erzähler selbst sein eigenes Leben.
Es geht um Väter und Söhne, um Zugehörigkeit und Einsamkeit, um Zuhause und Obdachlosigkeit, um Suchen und Finden. Der Leser ist stiller Beifahrer im Auto auf der Reise „durch ein fremdes Land“. Er fühlt sich dem Erzähler vertraut und kann ihn doch nicht erreichen, nicht trösten und trauert mit ihm und wünscht ihm, dass die Stimme (aus dem Navi) ihm verkündigen möge: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Es rühren ihn an die Bilder aus der Schneelandschaft, er fühlt, hört, sieht und atmet sie. Auch wenn er sich mehr von ihnen und vielleicht auch andere, aus dem einzigartigen Blickwinkel eines photographischen Auges gezeigte gewünscht hätte, da sie immer mehr hinter die Bilder aus der Vergangenheit des Erzählers zurücktreten. Aber diese Bilder auf die Momente und insbesondere auf die Menschen aus dem Leben des Erzählers, das sind die, die der Erzähler sich eigentlich nicht zutraut: die besonderen, die einzigartigen, die einen großen Moment außerhalb von Zeit und Raum für immer festhalten.
Ein sehr leises Buch, ein sehr intensives Buch, an dessen Ende der Leser nicht weiß, ob er erschüttert oder getröstet ist.

Bewertung vom 31.08.2021
Wellenflug
Neumann, Constanze

Wellenflug


ausgezeichnet

"Das faszinierende Doppelporträt zweier höchst unterschiedlicher Frauen", schreibt die Schriftstellerin Julia Franck über den Roman "Wellenflug" von Constanze Neumann, einen Roman, der auf historischen Begebenheiten beruht.
Treffender könnte man es nicht auf den Punkt bringen, dabei haben die beiden Frauen aber doch mehr gemein, als ihnen beiden bewusst und der einen lieb ist. Beide, Anna und Marie, kommen aus einfacheren Verhältnissen, beide erleben den Aufstieg in die Welt der gehobenen Gesellschaft, die eine fühlt sich dazu eher berechtigt, der anderen will Anna dies nicht vergönnen. Beide erleben das Auf und Ab des Lebens: von den äußeren Umständen her könnten beide ein glückliches Leben führen, aber beide haben mit den Widrigkeiten des Schicksals zu kämpfen.
Im zweiten Teil des Romans rückt die Figur der Marie immer stärker in den Mittelpunkt, Anna wird zu einem Schatten, der allerdings Maries Leben stets dunkel überzieht und auch Heinrichs Leben bestimmt. Diese Marie, die die Missachtung der Familie ihres Mannes ertragen muss, meistert ihr Leben an der Seite ihres sprunghaften Ehemannes mit Bravour. Immer wieder in völlig neue Lebensumstände geworfen, immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt, richtet sie sich in diesem Leben immer wieder und immer wieder ein, macht das Beste daraus, findet ihre Inseln des Glücks. Marie benötigt keine aufgetürmten Frisuren und überbordenden Hüte, die für sie die Machtstellung Annas in der Familie demonstrieren, als Ausruck von Größe. Sie ist eine stille, aber starke Helden und, wenn sie auch schon nicht die Anerkennung ihrer Schwiegermutter erlangen kann, so doch die des Lesers für ihren Lebenswillen, ihren Pragmatismus, ihren Einsatz für ihre kleine Familie, ihre kleine Welt, die zunehmend mit der größeren Welt um sie herum auf Kollisionskurs gerät, als der Nationalsozialismus ihre jüdische Familie bedroht.
Die verschiedenen Schauplätze des Geschehens - die jüdischen Viertel der Tuchhändler in Schlesien, das jüdische Leben im aufsteigenden Berlin um die Jahrhundertwende, die Ozeanüberquerung auf einem Schiffsdampfer 1. Klasse, die mondäne Großstadt New York und das beschauliche Erie in Pennsylvania, die Sommerreise Heinrichs und Maries ins Mittelmeer und nach Italien sowie die Rückkehr in ein von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit bedrohtes Deutschland sowie das Aufkommen der "braunen Rotte" und deren Untergang in Dresden - schildert die Autorin so atmosphärisch dicht und greifbar, dass der Leser mit auf die Reise geht und die unterschiedlichen Stimmungen der unterschiedlichen Stationen auf der Lebensreise - insbesondere Maries - hautnah miterlebt und sich einfühlen kann in ihr Leben. Er spürt das brodelnde Berlin der Jahrhundertwende, die Größe und Lebendigkeit und Enge New Yorks, die kalten Winter und lauen Sommer in dem ruhigen, weiten Erie und den rauchigen, nebligen Herbst in Dresden.
Der Roman rührt an, nicht durch große Gefühle und Dramatik, nicht durch viele emotionale Worte, sondern gerade durch die ruhige, klare, kraftvolle Darstellung. Die Zeiten in Deutschland werden finster - wie sollten sie auch anders werden für einen Juden aus wohlhabender Familie, auch wenn er seine vaterländische Pflicht geleistet und diese mit dem Eisernen Kreuz vergolten bekommen hat. Aber gerade weil die Autorin darauf verzichtet, die Grausamkeiten und Greultaten zu beschreiben, die Parolen der Braunen herausschreien zu lassen und die zunehmende Zuspitzung der Lage für die Juden in Deutschland immer nur in Nebensätzen andeutet, wird diese Finsternis für den Leser um so bedrohlicher greifbar. Er muss die Schrecknisse nicht noch einmal in aller Deutlichkeit hören, er benötigt nur die Andeutung, den kurzen Verweis und die Bangigkeit und Schwere der Protagonisten legt sich auch auf sein Herz.
Genauso still und stark wie seine Heldin Marie klingt der Roman zum Ende aus - und hinterlässt doch großen Nachhall im Leser.
Ein absolut lesenwertes, starkes Buch!