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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2022
Wo der Wolf lauert
Gundar-Goshen, Ayelet

Wo der Wolf lauert


gut

Im Mittelpunkt von »Wo der Wolf lauert« steht Lilach, eine israelische Frau, die gemeinsam mit ihrem Mann Michael und ihrem Sohn Adam im Silicon Valley lebt. Sie scheinen angekommen im Herzen Amerikas, sie sind wohlhabend und privilegiert. Doch dann geschieht ein Attentat auf die Synagoge der jüdischen Gemeinde, ein Mädchen stirbt, die Gemeinde ist in Aufruhr, der vermeintlich sichere Boden unter den Füßen beginnt zu schwanken. Der zarte 16jährige Adam tritt einem Selbstverteidigungskurs des ehemaligen israelischen Elitesoldaten Uri bei, was Michael sehr begrüßt, wünscht er sich doch einen starken wehrhaften Sohn.

Als ein Schwarzer Mitschüler von Adam auf einer Party verstirbt, verhält Adam sich verdächtig. Lilach wittert Gefahr. Wir tappen gemeinsam mit ihr im Dunkeln und lauern in allen Richtungen. Kennt sie ihren Sohn vielleicht gar nicht, wurde und wird er schikaniert, weil er Jude ist? War der verstorbene Junge bei der Nation of Islam und hat Adam antisemitisch angegriffen? Oder ist es ganz anders? Ist Uri ein positiver oder negativer Einfluss? War es richtig, Israel und damit den Krieg und Terror zu verlassen oder hat Lilach ihn nur ausgetauscht gegen eine subtilere Gefahr?

Uri taucht überall auf, wird Teil des Lebens von Lilach, Adam und Michael, bekommt eine Anstellung in Michaels Firma. Der Plot spitzt sich zu, die weiteren Geschehnisse seien nicht verraten.

Wo der Wolf lauert ist einerseits ein Plot getriebener spannungsgeladener Kriminalroman. Andererseits ist es ein nachdenkliches, differenziertes Stück Gegenwartsliteratur, das das Spannungsfeld zwischen Antisemitismus, Rassismus, das Verhältnis zu Israel, die Einwanderung, die Auswanderung kritisch beleuchtet und in die Geschichte einwebt. Zweiteres hat mich sehr interessiert, doch wurde vieles dabei leider nur angerissen und verschwindet hinter dem krimihaften handlungsgetriebenen Plot, der mich nicht ganz überzeugte. Ich bleibe ambivalent zurück.
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1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.09.2022
Es ging immer nur um Liebe
Okwonga, Musa

Es ging immer nur um Liebe


ausgezeichnet

Es braucht nicht viele Seiten und ich falle ich in den Text. Denn er ist verliebt, es ist schön, rosarot, ich verrutsche kurz kitschig mit. Der Ton schwingt schnell ins Moll. Er erzählt von seiner Suche nach Liebe, Nähe, Intimität, wie er sie nur kurz findet, in einer Schwärmerei, in ONS und von der Distanz, dem Alleinsein, in das er immer wieder gerät.

Sein Grundrauschen ist eine blockierte Trauer. Er war vier Jahre alt, als sein Vater mit Anfang 40 umkam, als er nach Uganda zurückkehrte und gegen Idi Amin kämpfte. Ein ebenso vibrierendes und wahrscheinlich wirkmächtigeres Grundrauschen ist Rassismus. Okwonga beschreibt rassistische Alltagserfahrungen, von der subtilen Omnipräsenz bis hin zu Bedrohungssituationen. Okwonga ist eine Schwarze öffentliche Person, die ihre Meinung sagt, eine Person, die auf Twitter sehr präsent ist, die über ihre Bisexualität redet. Der Preis ist Extra-Aufmerksamkeit von organisierten Rassist:innen.

Es geht immer nur um Liebe, ja darum geht es, immer nur. Okwongas Blick auf die Menschen ist warm, liebend, der Blick auf sich selbst nicht so sehr. Doch im Text wächst diese Liebe, sie wird klarer. Mit der Akzeptanz seiner eigenen Wege ist es ihm möglich, eine wichtige Leerstelle zu füllen. Er besucht Uganda und kommt etwas zur Ruhe.

Ich habe »Es ging immer nur um Liebe« an einem Nachmittag gelesen, ich konnte es nicht zur Seite legen. Der Text ist warm, nahe, hält eine gute Balance zwischen Schwere und Leichtigkeit, ist spannend und unterhält. Da verzeihe ich gern das Berlinsplaining im Hinterkopf, dass es für ein englischsprachiges Publikum geschrieben wurde. Bravo Musa Okwonga, ein rundes Buch, ich schließe mich Ed Sheeran an, ich bin Fangirl, bitte schreib mehr.

Bewertung vom 01.08.2022
Die Rückkehr (eBook, ePUB)
Cardoso, Dulce Maria

Die Rückkehr (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Rui ist 15 Jahre alt. Er ist stolzer Portugiese, stolzer Kolonialist in Angola. Die Einheimischen nennt er abfällig Pre*. Pre*, ein Schimpfwort für Angolaner:innen, noch verächtlicher, als das N-Wort, völlig normal für Rui, ebenso normal wie Misogynie und Gewalt.

Doch die Zeit der Kolonialist:innen ist abgelaufen. 1975 drängt die internationale Gemeinschaft Portugal, die Kolonien in Angola und Mosambik aufzugeben.

Ruis Vater wird festgenommen, die Familie flieht ins Mutterland, wie circa 500.000 andere Portugies:innen im Laufe der 70er Jahre. Das Mutterland, immer überhöht als Paradies, stellt sich heraus als ein verarmtes krisengebeuteltes Land.

Rui ist Retornado, das ist ein Schimpfwort, er landet in einer Massenunterkunft, hat kein Geld, gespendete Kleidung, wird ausgegrenzt.

Eine allwissende Erzählinstanz gibt es nicht, auch keine historische Einordnung. In der deutschen Übersetzung werden daher Kontext und Informationen über Fußnoten vermittelt. Es ist hilfreich, doch beeinflusst es den Lesefluss, sorgt für Distanz.

Cardoso hält uns in Ruis Perspektive, der Perspektive eines Jungen, der es nicht besser gelernt hat, als rassistisch zu sein. Sie kommentiert nichts, es ist manchmal schwer auszuhalten, was dieser Junge von sich gibt und denkt. Zur gleichen Zeit verstehen wir, woher das kommt, auch seine Überforderung, Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Die Rückkehr ist ein spannendes und fesselndes Stück literarisch verarbeiteter Zeitgeschichte. In Deutschland gibt es wenig Aufmerksamkeit für dieses Thema. In Portugal hat Cardoso einen wichtigen Beitrag geleistet, die Mär von einer friedlichen Übergabe der Kolonien zu hinterfragen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.08.2022
So forsch, so furchtlos
Abreu, Andrea

So forsch, so furchtlos


sehr gut

Wie ist es mit Mitte 20 ein Debüt zu schreiben und mit diesem Debüt einen Nerv zu treffen?

Abreu ist es gelungen. Sie hat mit So Forsch, So Furchtlos einen fulminanten Kurzroman geschrieben, in einer besonderen Perspektive, in einem besonderen Sound, der auch in der Übersetzung funktioniert und der nur schwer zu übersetzen ist.

Als der Shootingstar der spanischen Literaturszene wird Abreu gehandelt, möge dieser Stern glimmen oder noch besser sich Formen. Denn mit mehr Muße kann ich mir gut vorstellen, dass da noch gute Geschichten von ihr kommen werden.

Erst einmal haben wir diesen Roman, der nicht nur wegen der Frankfurter Buchmesse Aufmerksamkeit verdient, denn direkte und explizite Coming of Age - Geschichten aus der Perspektive von Mädchen gibt es erstaunlich wenige.

So Forsch, so Furchtlos, das ist die Freundin der Protagonistin, rotzig, direkt, glühend und mitziehend, mit einer Hintergründen Traurigkeit. Abseits von den Tourist:innen wachsen Sis und Isora in armen, rauhen Verhältnissen auf. Sie kommen in die Pubertät, entdecken die Sexualität, auch füreinander. Isodora ist laut, frei, neugierig. Sie nimmt sich ihre Welt und Sis, die scheinbar unsichere, zarte lässt sich mitreißen, bis sie ihren eigenen Vulkan entdeckt.

Bewertung vom 01.08.2022
Nebenan
Bilkau, Kristine

Nebenan


sehr gut

Nebenan ist nette Lektüre. Nett im besten Sinne, der Sound leise, zurückhaltend, sprachlich souverän. Eine leichte Melancholie weht durch diesen Provinzroman. Nebenan blickt freundlich auf die Figuren, ihre Brüche und auf ihre Versuche, ein gutes Leben zu führen.
Die Figuren eint die Sehnsucht nach Freundschaft, nach dem gesehen werden, nach Nähe. Sie leben nebenan, streifen sich, kommen sich manchmal nahe und rücken wieder auseinander.

Julia ist aus Hamburg gekommen und hat ein Keramikgeschäft im sterbenden Kern einer norddeutschen Kreisstadt im Nirgendwo eröffnet. Durch Social Media und das Onlinegeschäft bleibt sie mit ihrem alten Hamburger Leben verbunden. Julia ist angefüllt von ihrer Sehnsucht nach einer heilen großen Familie, die sie nie hatte. Sie umgibt sich mit happy Mutti- und Happy Life Blogs, konsumiert Bilder von teurem Interieur, auf alt gemacht, selbstfermentierten Essen, Kinder in Häkel- und Wollfilzkleidung, alles inszeniert, das ist ihr bewusst. Doch wirken die Bilder in ihr und vergrößern ihr Leid bei Kinderwunschbehandlung ohne Erfolg.
Julia, streift nur dabei nur ihre Nachbarschaft.

Wir begegnen der fast 80jahrigen Eda und ihrer Nichte Astrid, Hausärztin, die vor Jahren ihre Freundschaft zu Marli verlor, was sie nie verwandt. Astrid bekommt bedrohliche Briefe, von wem, das erfährt sie nicht. Dafür erfährt sie auf Umwegen Nähe zu ihrer verlorenen Nachbarin und Freundin.

Eine andere Nachbarin ist plötzlich fort, es beschäftigt einige, andere nicht. Es könnte sein, dass schlimmes passierte, dass sie schnell fliehen musste und was ist mit Mann, was mit den Kindern? Spuren werden gefunden, Spuren, die in den Wald führen, oder den Garten?

Bewertung vom 01.08.2022
Carls Buch
Aidt, Naja Marie

Carls Buch


ausgezeichnet

Wie schreiben über das unschreibbare? Plötzlich tot, ein Unfall, selbstverschuldet, in einem unzurechensfähigen Zustand, mit Mitte 20, der eigene Sohn...

Wie schreiben über das aus dem Leben, der Zeit, der Welt gerissen sein? Wie diesen Schmerz verarbeiten, wie weiterleben, wie es erschreiben?

Und warum so ein Buch lesen? Autofiktion über den plötzlichen Tod des eigenen Kindes. Diese Frage stellt sich mir normalerweise nicht, nicht im Leben, nicht in der Literatur, denn es verschreckt mich wenig. Aber der eigene Sohn, plötzlich, weg, für immer, ja das ist auch mein wundster Punkt...

Aidt schafft es, mit Carl's Buch ein berührendes, schmerzendes und tröstendes Buch zu schreiben über dieses Jahr außerhalb von allem, rund um den Tod ihres Sohnes Carls, der Pilze mit seinem Freund konsumierte und in einem negativen Trip aus dem Fenster sprang. Ein ganz normaler junger Mann, keine besonderen Probleme. Ein ganz besonderer junger Mann, ganz normale Probleme.

Fragmentarisch, lyrisch, allgemein, weit weg, ganz nahe, nehmen wir teil an den Reaktionen der Autorin, der Mutter. Aidt gelingt es, das unbeschreibbare zu beschreiben, uns mitzunehmen in ihren Gedanken, ihren Schmerz, ihre Veränderung, in ihre Ruhe und Trost.

Es ist ein sehr persönliches Buch und es ist ein universelles, lesenswertes Buch. Das Leben und der Tod, es sind zwei Punkte, das Leben ist dazwischen, kein Entrinnen, wir kommen von einem Punkt, zum anderen, immer. Dieses Buch lohnt sich und es bewegt in tiefen Schichten, es verbindet sich etwas mit diesem Text.

Bewertung vom 01.08.2022
Dann sind wir Helden
Hentschel, Joachim

Dann sind wir Helden


ausgezeichnet

Informativ und unterhaltsam erzählt es über den Grenzverkehr, die subversive und kapitalistische Kraft von Popmusik.

Joachim Hentschel stellt große Fragen. Wie funktionierte der musikalische Austausch zwischen Ost- und Westdeutschland? Trug Popmusik zum Einsturz der Mauer bei? Wie partizipierte die DDR am kapitalistischen Musikgeschäft?

Eine einfache Antwort, wie der popkulturelles Grenzverkehr denn nun war, möchte und kann Dann sind wir Helden nicht geben. Denn es gibt der Vielfalt Raum und wirkt damit dem Bild entgegen, dass die Musikszenen und Musikrezeption in der DDR hinterweltlerisch und naiv waren.

Hentschel möchte viel. Der zeitliche Bogen wird von den 50er Jahren bis zur Wende gespannt. Es kommen ostdeutsche, westdeutsche und Dazwischenmenschen zu Wort, Künstler:innen und wichtige Männer, die hinter den Kulissen Einfluss ausüben, Funktionäre, Berater, Manager mit profitgeleiteter Absicht, politischer Motivation oder auch der Kunst wegen.

Es ist interessant, was wir erfahren. Der gewählte Stil ist reportagenhaft, die Gesprächspartner:innen erzählen gern. Einige Geschichten sind bekannt, wie Udo Lindenbergs Versuche in der DDR zu spielen, Wolf Biermanns Ausbürgerung, Nina Hagens Karriere, die heimlichen Konzerte der Toten Hosen, BAP, die Karrieren von City, Karat, Tamara Danz und den Puhdys. Weniger bekannt und fast krimihaft spannend ist die Organisation der Lizenzen in beide Richtungen, die unbekannteren Bands, die nicht veröffentlichen durften, in Schwierigkeiten gerieten oder ihre Nischen fanden.

Was ist dieses Buch für ein vielfältiger und differenzierter Schatz. Wenn du Interesse an Popkultur hast, an Zeitgeschichte und wenn du dich in einer klugen Form unterhalten lassen möchtest, dann lies dieses Buch.

Bewertung vom 01.08.2022
Lamento
Nielsen, Madame

Lamento


ausgezeichnet

Lamento dreht sich um eine große lodernde Verliebtheit, die nicht dafür geschaffen ist, eine ruhigere alltagstaugliche Liebe zu werden. 20 Jahre danach schreibt eine Mutter, Schriftstellerin, ihrer Tochter von ihrer Liebe zum Vater, Theatermensch, der schon längst fort ist.

Lamento trieft im positiven Sinne. Der Text ist Feuer. Es ist heiß, obsessiv, lebendig, es richtet Schaden an, glüht, erkaltet und bleibt in wärmender Erinnerung. Die Sprache ist leidenschaftlich, intensiv, einnehmend, eine rauschhafte Erzählung, die durch die 20 Jahre Abstand zugleich friedlich, klug und melancholisch ist.

Wie zwei Magnete sind sie sich am Anfang ihrer Liebe alles, Begehren, ein Zuhause, ein Spiegel, eine Ergänzung. Madame Nielsen weiß, wovon sie schreibt, das ist jeder Zeile anzumerken.

Die Mutter schildert eine empfangende, sich passiv dem Begehren hingebende Verliebtheit, in der sie sich verliert. Den Vater kennen wir nur aus ihrer Sicht, aus ihrer obsessiven Euphorie, aus ihrer Verunsicherung, später aus der Enttäuschung, Kränkung und Verzweiflung. Doch zwischen den Zeilen bleibt viel Raum für ihn und seine möglichen Sichten auf die Geschichte, die nicht gut ausgehen kann. Denn mit der Hochzeit flackert sein Begehren, er beginnt sich zurück zu ziehen. Mit dem Kind ist die Nähe und Verliebtheit versiegt, was sie mit Ruhe und ohne Reue einordnen kann.

Ich bin ganz eingenommen von diesem klugen und leidenschaftlichen Text und verneige mich vor @madame.nielsen, was für eine Gabe, so zu schreiben. Und ich möchte nicht suchen nach biographischen Bezügen, es ist allgemein menschlich, was sie beschreibt, universell und unmittelbar.

Bewertung vom 01.08.2022
Auf der Straße heißen wir anders
Cwiertnia, Laura

Auf der Straße heißen wir anders


sehr gut

Auf der Straße heißen wir anders ist ein leiser, distanziert erzählter Generationenroman. Wir erfahren in dem Debüt von Karla, von ihrem Vater Avi und von ihrer Oma Maryam.

Karla heißt eigentlich Karlotta. Sie wächst Bremen Nord als Tochter einer Deutschen und eines Armeniers auf. Karla ist still, nachdenklich, suchend. Es ist ein Schweigen in der Familie über die Herkunft, die Vergangenheit, den Genozid, Tabus, die auch in Karla wirken, ohne, dass sie sie benennen kann.

Avi ist in Istanbul aufgewachsen, unter Türken nennt er sich Ali. Seine Melancholie verdeckt er mit beschlossener Leichtigkeit, denn vor der Schwere möchte er sich und seine Liebsten schützen. Karla erfährt nur Bruchstücke, sie weiß, dass er in Jerusalem in einem armenischen Internat war, dass Maryam als Gastarbeiterin nach Deutschland ging, ihn und ihre Tante zurück ließ. Über seine Großeltern, über den Genozid an den Armenier:innen erfährt Karla nur schemenhaft.

Maryam, auf der Straße wird sie türkisch Meryem gerufen, sie hält die Religion, die Erinnerung, das armenischen Essen hoch. Maryam hat sich schwer gegessen, mit starkem Willen, sich eine Schutzschicht aus Körpermasse gebaut und versucht über das Essen Nähe zu ihren Kindern zu finden. Mit Avi und ihrer Tochter Yeva verbindet sie eine schweigsam-distanzierte Liebe, der Zorn ihrer Kinder lässt sich kaum überwinden.

Als Maryam stirbt, hinterlässt sie genaue Wünsche zu ihrer Beerdigung und Erbschaft. Ein armenischer Priester leitet durch die Beerdigung, er reist extra an. Ein goldener Armreif soll an eine unbekannte Frau in Armenien gehen. Karla beschließt, sie zu suchen und bittet ihren Vater, sie zu begleiten nach Armenien, in ein fremdes Land für beide, ist er doch in Istanbul aufgewachsen. Auf dieser Reise mit ihrem Vater kann Karla Lücken füllen. Sie beginnt das schwere Erbe der Herkunft und des Genozids zu begreifen.

Bewertung vom 01.08.2022
Die Arbeit der Vögel
Bodrozic, Marica

Die Arbeit der Vögel


ausgezeichnet

Die Arbeit der Vögel rückte fast unbemerkt ganz nahe. Anstrengung erforderte das Lesen, Langsamkeit und Einlassung. Doch dann berührten diese Seelenstenogramme mich in tieferen Schichten. Die Gattung dieses Textes ist schwer zu benennen, Autofiktion, Essay, Nature Writing, Lyrik, Seelenkunde, assoziative Spiritualität.

Zunächst irrte ich durch den Text und suchte Halt. Ich hängte mich an Walter Benjamin, dessen Weg sie nachwandert, sinnierend sich in Gedanken verfängt über die Wanderung, die Flucht, das Exil, die Heimat, die Zugehörigkeit, die Vögel, die Natur.

Doch Benjamin bleibt hintergründig. Er lässt Platz für seine und andere kluge Gedanken, für Menschen, wie de Sousa Mendes, den portugiesischen Konsul, der großzügig Passierscheine ausstellte, für Juden und Jüdinnen, bis es nicht mehr ging und damit viele Menschenleben rettete, für seine Mitarbeiterin Fernanda, die ihm treu zur Seite stand, auch als er fiel, für Lisa Fittko, die ganz konkret zur Flucht über die Pyrenäen verhalf.

Bodrožić zieht immer wieder den Bogen zu sich, ihren eigenen Berührungspunkten, ihren Herkünften und Geschichten, ihren Verwandtschaften und zu ihren Wahlverwandtschaften, den direkten und den geistigen.
Sie führt uns zu den europäischen und zu ihren ganz persönlichen Wunden, die sie auch als Wunder sieht, zu ihrer Haltung zum Leben und zur Literatur.

Ich kann nur für mich sprechen, dieser Text hat privatpersönliches in mir bewegt. Er hat eine tiefe, ruhige, kräftige Verbundenheit ausgelöst und meinen Blick geöffnet. Im Verlauf des Lesens konnte ich für mich immer mehr finden, benennen und Kraft schöpfen aus den Perspektiven, den Gedanken, der Sprache und der Melodie.

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