Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2022
Mein lieber Petrovic
Danojlic, Milovan

Mein lieber Petrovic


sehr gut

»Aber das echte Leben gibt es für dich und mich nirgends. Dort drüben ist es schwer, hier ist es schwer, am schwersten ist es mit sich selbst... Was mich angeht, am besten wäre es, wenn ich gleichzeitig an mehreren Orten stehen könnte, hier und dort sein, in der Heimat und in der Fremde, in Wohlstand und in Armut, in Freiheit und Einschränkungen, das alles gleichzeitig erleben.«

»Mein lieber Petrović« ist ein mit Melancholie und Einsamkeit durchtränkter Briefroman eines Intellektuellen Rückkehrers.

Putnik (der Reisende) gehört wie sein angeschriebener Freund Petrović zu jener Schicht der königstreuen Serb:innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA auswanderten. Das Projekt Jugoslawien wird mit Ablehnung betrachtet, Feudalität, Traditionen und bürgerliche Bildung werden hoch gehalten. Ihre Erinnerungen und ein süßliches, sehnsüchtiges Bild von Heimat werden konserviert.

Putnik blickt in einem Gemisch zwischen Distanz, Desillusion und Sehnsucht auf Serbien, das noch Teil von Jugoslawien ist, im Vorabend der Kriege, die schon in der Luft liegen. Er schreibt um seine Existenz. Putnik erschreibt sich einen Platz, der ambivalent bleiben wird. Er sucht sein Zuhause in der Verbundenheit intellektueller Grenzgänger:innen, das er mit seinen Briefen an seinen Freund und an die Welt zu festigen versucht.

Es ist ein typischer Emigrations- Roman. Putnik bleibt ein Beobachter, im Außen blieb er in Amerika, im Außen bleibt er als Rückkehrer. Niemand interessiert sich in der alten Heimat für ihn, seine Sicht auf die Dinge, auch nicht für sein Geld. Putnik möchte eine Druckerei kaufen und eine Zeitung herausgeben, er scheitert an Bürokratie, Korruption und Ablehnung.

Spezifisch für die Region macht »Mein lieber Petrović« der Zeitpunkt und die Perspektive. 1990 veröffentlicht, spielt er in den 70er und 80er Jahren. Der Vielvölkerstaat, die Tito-Ära, der Sozialismus bröckeln längst, ohne dass sich erahnen lässt, was in den 90ern noch alles kommen wird. Putnik beobachtet eine nationalistische Radikalisierung, Liebe und Hass, ebenso wie Provizialismus, Pflegmatismus, Korruption.

Bewertung vom 14.09.2022
Erfüllung
Bouraoui, Nina

Erfüllung


ausgezeichnet

»Das Schreiben reinigt meine Seele, lindert meinen Schmerz. Worte lassen das Geschehene verjähren, verzerren die Realität, machen sie zumutbar.«

In ihren tagebuchartigen Einträgen zieht uns eine widersprüchliche Frauenfigur in einen soghaften, sinnlichen und das Wahnhafte streifenden Stream of Conciousness. Der Sound von »Erfüllung« ist leidenschaftlich, fließend, warm, sehnsüchtig. Die Gedanken sind giftig, erregt, besessen, melancholisch und beschämt.

Michéle Akli ist Französin, die in ihrer Zwischenwelt lebt. Nach der Revolution und Unabhängigkeit, ist sie ihrem Mann Brahim nach Algier in dem Moment gefolgt, in dem viele Kolonialisator:innen Algerien verließen. Sie hatte sich in Mann und Land verliebt, doch diese Liebe Erkältet. Michéle versucht ihre Einsamkeit mit Alkohol und dem Schreiben zu verdrängen. Ihrem Garten und ihrem zehnjährigen Sohn Erwan widmet sie sich mit devotionaler Obsession. Doch auch dort verschiebt sich etwas.

»Ich frag mich oft, was Erwan von mir und seiner Kindheit bleiben wird. Ich würde gern (...) unsere Glücksmomente auf Film bannen. Ich habe Angst, dass unsere Liebe mit den Erinnerungen schwindet.«

Erwan lernt Bruce kennen, ein Mädchen, das einnehmend ist, das sich in den Augen von Michéle zwischen den Geschlechtern bewegt. Auch wenn sie nahezu wahnhaft in diese Freundschaft ein erwachendes sexuelles Begehren hineinliest, das sie eifersüchtig zu verhindern versucht, sie spürt, die Erfüllung der innigen Mutter-Sohn-Beziehung wird enden. Haltlos richtet Michéle ihr leidenschaftliches Begehren auf Bruce's Mutter Catherine in ihren Heften. Real ist sie still, scheu, zurückgezogen und eigen. Michéle ist Französin in Algerien, sie ist priveligiert und sie ist gefangen in den Grenzen des Frauseins, so wie sie es versteht und schau eifersüchtig auf die Männer. Auch das zunehmende loslassen des Sohnes und die neue Stelle im Französischen Gymnasium bringen ihr keine Erfüllung.

Spannend machen »Erfüllung« besonders die nicht erzählten Perspektiven und Dimensionen, die sich andeuten und aufdrängen.
Wie erlebt der 10jährige seine Mutter, seinen Vater, wie Bruce, wie ist seine Welt in Algerien, wo er wahrscheinlich keine Zukunft haben wird? Wie ist die Welt von Brahim, der alles erduldet, der seine arabische Herkunft zu verachten scheint? Was ist Bruces Mikrokosmos? Ein Mädchen, das sich nicht mädchenhaft gibt, das von ihrem algerischen Vater abgelehnt wird und Nähe sucht zu seiner attraktiven Mutter Catherine, die Algerien als Zwischenstation sieht und sich von einer Affäre in die nächste stürzt. Was ist die Innenwelt von Amar, Catherines Mann, Unternehmer, in der Welt unterwegs, unter Beobachtung der Milizen und bald soweit, Algerien zu verlassen. Die postkoloniale Situation, die Gewalt in der Luft, die berechtigte Wut, die Zuwendung zum Islam, die Frage eines weiteren Krieges atmen zwischen den Zeilen und verstärken meine Begeisterung für diesen klugen und sinnlichen Roman.

Bewertung vom 14.09.2022
Brenntage (eBook, ePUB)
Stavaric, Michael

Brenntage (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

»Wenn man noch ein Kind ist und in einer kleinen Siedlung lebt, was versteht man schon da von einer Welt, die längst in Flammen steht?«

Brenntage führt uns in eine düstere, lichtdurchflutete Zwischenwelt. Unser Zeitempfinden verliert sich immer mehr, je weiter der Text voranschreitet, es steckt im Wald, in den Tiefen des stillgelegten Bergwerks, im Feuer, in den Figuren fest. Brenntage changiert dabei zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Realismus und Phantasie, zwischen Prosa und Lyrik.

Ich-Erzähler ist ein Junge, der mal naiv klein, dann wieder sehr erwachsen wirkt. Er lebt in einer abgeschiedenen Gemeinschaft umgeben von Wäldern und Bergen. Seine Mutter ist Tod, sein Onkel schwer greifbar. Der Onkel schenkt ihm eine lose Welt aus Erfahrungen und Ratschlägen. Klar ist er einzig in seiner Verachtung für alle Menschen, die die enge Gemeinschaft verlassen, denn »dort, wo die Siedlung aufhört, leben die Bösen... Sie leben dort in ihrem Gesinnungsmüll«. Die Brenntage sollen diesen Müll vernichten, alles verbrennen, was sie mit der Außenwelt verbindet.

Wer einen stringenten Plot sucht, wird kurz denken, ich hab ihn und dann den Faden wieder verlieren, einer nächsten Fährte folgen und wieder fallen. Wer es liebt, sich in Sprache, in Phantasie, in das Ungefähre fallen zu lassen, ihren Rhythmus und leise Kanten schätzt, der und dem empfehle ich, es aufzunehmen mit Stavarič.

Bewertung vom 14.09.2022
Erbgut
Scheiflinger, Bettina

Erbgut


sehr gut

»Bei meiner Geburt jage ich meiner Mutter einen Schrecken ein. Niemand muss mich herausholen, ich will von selbst heraus. (...) Ich presse mein Gesicht durch den Geburtskanal. Augen voran komme ich zur Welt. Ich will ihr frontal begegnen, mich ihr entgegen strecken und sofort sehen, was da ist.«

Stark startet »Erbgut«, auch sonst hat
Scheiflinger ein überzeugendes Debüt vorgelegt. Der Sound ist souverän, pointiert, der mitunter knappe, dichte Stil korrespondiert mit dem spannungsgeladenen Schweigen der Figuren.

»Erbgut« führt uns nach Kärnten, nach Wien, in die Schweiz und nach Italien. Es enthält Nazi-Vergangenheit, Kriegsgefangenschaft, Verschleppung, patriarchale Strukturen, Migration, Diskriminierung, Endometriose und Brustkrebs. Innere Härte, Schweigen, Gewalt, ein starker Drang, die Erwartungen anderer zu erfüllen, eine gefangene Sehnsucht zu wandern, nach einem besseren Leben woanders zu suchen und eine schweigsame Liebe tragen sich von Generation zu Generation weiter.

Einige Mosaiksteine verstehen wir und die Ich-Erzählerin tiefer, andere bleiben lose, im Halbklaren, können nicht auserzählt werden.

Es werden fast alle von uns, ob mit Migrationsgeschichte oder ohne, Aspekte von sich wiederfinden in diesem etwas anderen Generationenroman. Erbgut regt uns an, darüber nachzudenken, was die Versatzstücke unserer Familien in uns sind, wie sie in uns wirken, ob es möglich ist, sie zu verändern und wie das geht, Eigenständigkeit.

Bewertung vom 14.09.2022
Wo der Wolf lauert
Gundar-Goshen, Ayelet

Wo der Wolf lauert


gut

Im Mittelpunkt von »Wo der Wolf lauert« steht Lilach, eine israelische Frau, die gemeinsam mit ihrem Mann Michael und ihrem Sohn Adam im Silicon Valley lebt. Sie scheinen angekommen im Herzen Amerikas, sie sind wohlhabend und privilegiert. Doch dann geschieht ein Attentat auf die Synagoge der jüdischen Gemeinde, ein Mädchen stirbt, die Gemeinde ist in Aufruhr, der vermeintlich sichere Boden unter den Füßen beginnt zu schwanken. Der zarte 16jährige Adam tritt einem Selbstverteidigungskurs des ehemaligen israelischen Elitesoldaten Uri bei, was Michael sehr begrüßt, wünscht er sich doch einen starken wehrhaften Sohn.

Als ein Schwarzer Mitschüler von Adam auf einer Party verstirbt, verhält Adam sich verdächtig. Lilach wittert Gefahr. Wir tappen gemeinsam mit ihr im Dunkeln und lauern in allen Richtungen. Kennt sie ihren Sohn vielleicht gar nicht, wurde und wird er schikaniert, weil er Jude ist? War der verstorbene Junge bei der Nation of Islam und hat Adam antisemitisch angegriffen? Oder ist es ganz anders? Ist Uri ein positiver oder negativer Einfluss? War es richtig, Israel und damit den Krieg und Terror zu verlassen oder hat Lilach ihn nur ausgetauscht gegen eine subtilere Gefahr?

Uri taucht überall auf, wird Teil des Lebens von Lilach, Adam und Michael, bekommt eine Anstellung in Michaels Firma. Der Plot spitzt sich zu, die weiteren Geschehnisse seien nicht verraten.

Wo der Wolf lauert ist einerseits ein Plot getriebener spannungsgeladener Kriminalroman. Andererseits ist es ein nachdenkliches, differenziertes Stück Gegenwartsliteratur, das das Spannungsfeld zwischen Antisemitismus, Rassismus, das Verhältnis zu Israel, die Einwanderung, die Auswanderung kritisch beleuchtet und in die Geschichte einwebt. Zweiteres hat mich sehr interessiert, doch wurde vieles dabei leider nur angerissen und verschwindet hinter dem krimihaften handlungsgetriebenen Plot, der mich nicht ganz überzeugte. Ich bleibe ambivalent zurück.
.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.09.2022
Es ging immer nur um Liebe
Okwonga, Musa

Es ging immer nur um Liebe


ausgezeichnet

Es braucht nicht viele Seiten und ich falle ich in den Text. Denn er ist verliebt, es ist schön, rosarot, ich verrutsche kurz kitschig mit. Der Ton schwingt schnell ins Moll. Er erzählt von seiner Suche nach Liebe, Nähe, Intimität, wie er sie nur kurz findet, in einer Schwärmerei, in ONS und von der Distanz, dem Alleinsein, in das er immer wieder gerät.

Sein Grundrauschen ist eine blockierte Trauer. Er war vier Jahre alt, als sein Vater mit Anfang 40 umkam, als er nach Uganda zurückkehrte und gegen Idi Amin kämpfte. Ein ebenso vibrierendes und wahrscheinlich wirkmächtigeres Grundrauschen ist Rassismus. Okwonga beschreibt rassistische Alltagserfahrungen, von der subtilen Omnipräsenz bis hin zu Bedrohungssituationen. Okwonga ist eine Schwarze öffentliche Person, die ihre Meinung sagt, eine Person, die auf Twitter sehr präsent ist, die über ihre Bisexualität redet. Der Preis ist Extra-Aufmerksamkeit von organisierten Rassist:innen.

Es geht immer nur um Liebe, ja darum geht es, immer nur. Okwongas Blick auf die Menschen ist warm, liebend, der Blick auf sich selbst nicht so sehr. Doch im Text wächst diese Liebe, sie wird klarer. Mit der Akzeptanz seiner eigenen Wege ist es ihm möglich, eine wichtige Leerstelle zu füllen. Er besucht Uganda und kommt etwas zur Ruhe.

Ich habe »Es ging immer nur um Liebe« an einem Nachmittag gelesen, ich konnte es nicht zur Seite legen. Der Text ist warm, nahe, hält eine gute Balance zwischen Schwere und Leichtigkeit, ist spannend und unterhält. Da verzeihe ich gern das Berlinsplaining im Hinterkopf, dass es für ein englischsprachiges Publikum geschrieben wurde. Bravo Musa Okwonga, ein rundes Buch, ich schließe mich Ed Sheeran an, ich bin Fangirl, bitte schreib mehr.

Bewertung vom 01.08.2022
Die Rückkehr (eBook, ePUB)
Cardoso, Dulce Maria

Die Rückkehr (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Rui ist 15 Jahre alt. Er ist stolzer Portugiese, stolzer Kolonialist in Angola. Die Einheimischen nennt er abfällig Pre*. Pre*, ein Schimpfwort für Angolaner:innen, noch verächtlicher, als das N-Wort, völlig normal für Rui, ebenso normal wie Misogynie und Gewalt.

Doch die Zeit der Kolonialist:innen ist abgelaufen. 1975 drängt die internationale Gemeinschaft Portugal, die Kolonien in Angola und Mosambik aufzugeben.

Ruis Vater wird festgenommen, die Familie flieht ins Mutterland, wie circa 500.000 andere Portugies:innen im Laufe der 70er Jahre. Das Mutterland, immer überhöht als Paradies, stellt sich heraus als ein verarmtes krisengebeuteltes Land.

Rui ist Retornado, das ist ein Schimpfwort, er landet in einer Massenunterkunft, hat kein Geld, gespendete Kleidung, wird ausgegrenzt.

Eine allwissende Erzählinstanz gibt es nicht, auch keine historische Einordnung. In der deutschen Übersetzung werden daher Kontext und Informationen über Fußnoten vermittelt. Es ist hilfreich, doch beeinflusst es den Lesefluss, sorgt für Distanz.

Cardoso hält uns in Ruis Perspektive, der Perspektive eines Jungen, der es nicht besser gelernt hat, als rassistisch zu sein. Sie kommentiert nichts, es ist manchmal schwer auszuhalten, was dieser Junge von sich gibt und denkt. Zur gleichen Zeit verstehen wir, woher das kommt, auch seine Überforderung, Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Die Rückkehr ist ein spannendes und fesselndes Stück literarisch verarbeiteter Zeitgeschichte. In Deutschland gibt es wenig Aufmerksamkeit für dieses Thema. In Portugal hat Cardoso einen wichtigen Beitrag geleistet, die Mär von einer friedlichen Übergabe der Kolonien zu hinterfragen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.08.2022
So forsch, so furchtlos
Abreu, Andrea

So forsch, so furchtlos


sehr gut

Wie ist es mit Mitte 20 ein Debüt zu schreiben und mit diesem Debüt einen Nerv zu treffen?

Abreu ist es gelungen. Sie hat mit So Forsch, So Furchtlos einen fulminanten Kurzroman geschrieben, in einer besonderen Perspektive, in einem besonderen Sound, der auch in der Übersetzung funktioniert und der nur schwer zu übersetzen ist.

Als der Shootingstar der spanischen Literaturszene wird Abreu gehandelt, möge dieser Stern glimmen oder noch besser sich Formen. Denn mit mehr Muße kann ich mir gut vorstellen, dass da noch gute Geschichten von ihr kommen werden.

Erst einmal haben wir diesen Roman, der nicht nur wegen der Frankfurter Buchmesse Aufmerksamkeit verdient, denn direkte und explizite Coming of Age - Geschichten aus der Perspektive von Mädchen gibt es erstaunlich wenige.

So Forsch, so Furchtlos, das ist die Freundin der Protagonistin, rotzig, direkt, glühend und mitziehend, mit einer Hintergründen Traurigkeit. Abseits von den Tourist:innen wachsen Sis und Isora in armen, rauhen Verhältnissen auf. Sie kommen in die Pubertät, entdecken die Sexualität, auch füreinander. Isodora ist laut, frei, neugierig. Sie nimmt sich ihre Welt und Sis, die scheinbar unsichere, zarte lässt sich mitreißen, bis sie ihren eigenen Vulkan entdeckt.

Bewertung vom 01.08.2022
Nebenan
Bilkau, Kristine

Nebenan


sehr gut

Nebenan ist nette Lektüre. Nett im besten Sinne, der Sound leise, zurückhaltend, sprachlich souverän. Eine leichte Melancholie weht durch diesen Provinzroman. Nebenan blickt freundlich auf die Figuren, ihre Brüche und auf ihre Versuche, ein gutes Leben zu führen.
Die Figuren eint die Sehnsucht nach Freundschaft, nach dem gesehen werden, nach Nähe. Sie leben nebenan, streifen sich, kommen sich manchmal nahe und rücken wieder auseinander.

Julia ist aus Hamburg gekommen und hat ein Keramikgeschäft im sterbenden Kern einer norddeutschen Kreisstadt im Nirgendwo eröffnet. Durch Social Media und das Onlinegeschäft bleibt sie mit ihrem alten Hamburger Leben verbunden. Julia ist angefüllt von ihrer Sehnsucht nach einer heilen großen Familie, die sie nie hatte. Sie umgibt sich mit happy Mutti- und Happy Life Blogs, konsumiert Bilder von teurem Interieur, auf alt gemacht, selbstfermentierten Essen, Kinder in Häkel- und Wollfilzkleidung, alles inszeniert, das ist ihr bewusst. Doch wirken die Bilder in ihr und vergrößern ihr Leid bei Kinderwunschbehandlung ohne Erfolg.
Julia, streift nur dabei nur ihre Nachbarschaft.

Wir begegnen der fast 80jahrigen Eda und ihrer Nichte Astrid, Hausärztin, die vor Jahren ihre Freundschaft zu Marli verlor, was sie nie verwandt. Astrid bekommt bedrohliche Briefe, von wem, das erfährt sie nicht. Dafür erfährt sie auf Umwegen Nähe zu ihrer verlorenen Nachbarin und Freundin.

Eine andere Nachbarin ist plötzlich fort, es beschäftigt einige, andere nicht. Es könnte sein, dass schlimmes passierte, dass sie schnell fliehen musste und was ist mit Mann, was mit den Kindern? Spuren werden gefunden, Spuren, die in den Wald führen, oder den Garten?

Bewertung vom 01.08.2022
Carls Buch
Aidt, Naja Marie

Carls Buch


ausgezeichnet

Wie schreiben über das unschreibbare? Plötzlich tot, ein Unfall, selbstverschuldet, in einem unzurechensfähigen Zustand, mit Mitte 20, der eigene Sohn...

Wie schreiben über das aus dem Leben, der Zeit, der Welt gerissen sein? Wie diesen Schmerz verarbeiten, wie weiterleben, wie es erschreiben?

Und warum so ein Buch lesen? Autofiktion über den plötzlichen Tod des eigenen Kindes. Diese Frage stellt sich mir normalerweise nicht, nicht im Leben, nicht in der Literatur, denn es verschreckt mich wenig. Aber der eigene Sohn, plötzlich, weg, für immer, ja das ist auch mein wundster Punkt...

Aidt schafft es, mit Carl's Buch ein berührendes, schmerzendes und tröstendes Buch zu schreiben über dieses Jahr außerhalb von allem, rund um den Tod ihres Sohnes Carls, der Pilze mit seinem Freund konsumierte und in einem negativen Trip aus dem Fenster sprang. Ein ganz normaler junger Mann, keine besonderen Probleme. Ein ganz besonderer junger Mann, ganz normale Probleme.

Fragmentarisch, lyrisch, allgemein, weit weg, ganz nahe, nehmen wir teil an den Reaktionen der Autorin, der Mutter. Aidt gelingt es, das unbeschreibbare zu beschreiben, uns mitzunehmen in ihren Gedanken, ihren Schmerz, ihre Veränderung, in ihre Ruhe und Trost.

Es ist ein sehr persönliches Buch und es ist ein universelles, lesenswertes Buch. Das Leben und der Tod, es sind zwei Punkte, das Leben ist dazwischen, kein Entrinnen, wir kommen von einem Punkt, zum anderen, immer. Dieses Buch lohnt sich und es bewegt in tiefen Schichten, es verbindet sich etwas mit diesem Text.