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Benutzername: 
cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2021
SCHWEIG!
Merchant, Judith

SCHWEIG!


ausgezeichnet

Weihnachten in einer dysfunktionalen Familie
In Judith Merchants Roman “Schweig!“ geht es um die Schwestern Esther und Sue. Esther ist mit Martin verheiratet, hat zwei Kinder, einen Job und wohnt in der Stadt. Sue lebt seit ihrer Scheidung von Robert allein in dem großen Haus im Wald und lässt die Natur auf sich wirken. Am Tag vor Heiligabend besucht Esther ihre Schwester unangekündigt mit einem Geschenk und einer Flasche Wein. Ester gibt sich als liebevolle, besorgte ältere Schwester, Sue dagegen wirkt einsilbig und abweisend und will sie nur loswerden. Dann kommen beide Schwestern im Wechsel zu Wort und später auch Martin und das Mädchen, hinter dem sich Esther in der Kindheit verbirgt, und es ergibt sich ein völlig anderes Bild. Esther ist manipulativ, boshaft und zeigt ein penetrantes Dominanzverhalten, gegen das niemand ankommt – Sue genauso wenig wie der unterwürfige Ehemann. Was Esther nicht will, passiert nicht. Sie biegt sich stets die Realität zurecht, wie es ihr passt und das schon seit der Kindheit. Seit damals nennt sie die Schwester Schnecke, was sich auf einen traurigen Vorfall in der Kindheit bezieht und keineswegs liebevoll gemeint ist. Esther inszeniert Aufführungen von glücklicher Ehe und stimmungsvollen Weihnachtsfesten, aber in Wirklichkeit ist alles anders.
Verunglückte Weihnachten haben in dieser Familie Tradition, nicht nur das Fest ein Jahr zuvor, bei dem Esther die Schwester am liebsten in die Psychiatrie hätte einweisen lassen, sondern auch ein Weihnachtsfest in der Kindheit der Schwestern, als der alkoholkranke Vater Selbstmord beging, was aber nur Esther wusste. Seitdem erfüllt sie mehr als gewissenhaft den Auftrag der Mutter, auf die jüngere Schwester aufzupassen, was ihr als Kontrollfreak vollkommen entspricht.
In den zahlreichen Kapiteln mit ständig wechselnder Perspektive wird eine bedrohliche Stimmung aufgebaut, die ebenso wie die frühe Ankündigung, dass nicht alle dieses Weihnachten überleben werden, dem Leser signalisiert, dass etwas Schlimmes geschehen wird. Am Ende sind die Dinge nur scheinbar wieder in Ordnung. Die alte Machtverteilung bleibt, und Esther entlässt niemand aus ihrem Klammergriff. Der Roman über eine dysfunktionale Familie packt den Leser, obwohl es bis zum Finale ein paar Längen gibt. Auch sprachlich hat mich das Buch überzeugt.

Bewertung vom 07.09.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


ausgezeichnet

Nichts wirklich Schönes kann je nutzlos sein
Benjamin Myers neuer Roman beschreibt einen Sommer im Leben der Freunde Ivan Robin Calvert und Redbone. Die beiden Freunde wollen im Sommer 1989 ein ganz besonderes Projekt verwirklichen. In zehn Nächten schaffen sie ebenso viele Kornkreise im Südwesten Englands, von denen jeder schöner und komplizierter ist als sein Vorgänger. Redbone entwirft die Skizzen, und Calvert erkundet die Umgebung ihres Heimatorts, um das perfekte Gelände für den geplanten Kreis zu finden. Sie haben ihren eigenen Verhaltenskodex. Niemand darf erfahren, wer sie sind und was sie tun, denn ihre nächtlichen Aktivitäten sind natürlich nicht legal: sie betreten fremdes Eigentum. Ihr Motto: „Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit, ja, aber offenbare nie die Wahrheit.“ (S. 23) Die Freunde stehen einander sehr nahe, behalten aber den größten Teil ihrer persönlichen Geschichte für sich. Wir wissen, dass Calvert ein durch den Falkland-Krieg schwer traumatisierter Soldat ist und dass auch Redbone mit seinen inneren Dämonen kämpft. Beiden hilft ihr Projekt, die Traumata zu verarbeiten oder zumindest zeitweilig zu vergessen. Es gelingt ihnen, neun Kreise weitgehend ohne Störung zu schaffen – einmal müssen sie die Arbeit vorzeitig abbrechen. Als sie ihr Meisterwerk, die Honigwabe-Doppelhelix, fast fertiggestellt haben, passiert etwas Unvorhergesehenes.
"Der perfekte Kreis" ist eine handlungsarme Geschichte mit zwei sympathischen Protagonisten, aber auf äußere Handlung kommt es nicht an. Der Autor punktet in anderen Bereichen. Interessant ist die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Kunstwerke. Es erscheinen Zeitungsartikel, in denen Verschwörungstheoretiker und andere Spinner zu Wort kommen. Für die meisten stecken Aliens hinter den Kunstwerken. Die Kreise ziehen eine Vielzahl von Besuchern an, die die Felder zertrampeln und die Ernte vernichten. Redbone und Calvert gehen sehr behutsam mit der Natur um. Sie knicken nicht einen Halm und verletzen kein Tier. Im gesamten Roman wird deutlich, wie sehr der Autor die Schönheit der englischen Landschaft liebt und wie wichtig ihm insgesamt der Schutz des Planeten ist. 1989 war der Klimawandel mit der globalen Erwärmung noch nicht eingetreten, aber er kündigte sich an.
Mir gefällt der Roman sprachlich genauso gut wie zuvor “Offene See“. Diese Poesie macht dem Autor so schnell keiner nach. Ein wunderschönes Buch.

Bewertung vom 07.09.2021
Das Archiv der Gefühle
Stamm, Peter

Das Archiv der Gefühle


ausgezeichnet

Ein Dabeiseiender schaut den anderen beim Leben zu
Im Mittelpunkt von Peter Stamms neuem Roman “Das Archiv der Gefühle“ steht ein namenloser ehemaliger Archivar. Im Zuge der Digitalisierung verlor er seinen Job im Pressehaus und ist auch fünf Jahre später noch arbeitslos. Das Archiv befindet sich jetzt im Keller seines Hauses, und er arbeitet täglich mehrere Stunden daran, es fortzuführen, beschriftet auch immer noch neue leere Ordner, um Ordnung in das Chaos der Welt zu bringen. Er ist ein ganz besonderer Mensch: Er ist zwar völlig allein, fühlt sich aber nicht einsam. Das liegt daran, dass er seit Jahrzehnten in einer Parallelwelt lebt. Als 15jähriger hat er sich in die Mitschülerin Franziska verliebt. Eines Tages gesteht er ihr, dass er sie liebt und bittet um einen Kuss. Sie gewährt ihm den Kuss, sagt ihm aber zugleich, dass sie ihn nicht liebt. Inzwischen sind beide 55. Er hat sie seit fast 30 Jahren nicht gesehen und liebt sie unverändert. In seiner Fantasie sind sie zusammen, lieben sich und ziehen gemeinsame Kinder auf. Die Fantasien wirken im Text wie Halluzinationen und überlagern die Realität. Der Protagonist hat nie aufgehört, ihre Karriere als Sängerin Fabienne und die Artikel über ihre diversen Beziehungen zu Männern in der Boulevardpresse zu verfolgen und ihre Akte stets auf dem neuesten Stand zu halten. Irgendwann nimmt er dann doch Kontakt zu ihr auf. Ihm ist im Laufe der Jahrzehnte bewusst geworden, dass das wahre Leben mehr bietet als all seine Fantasien und er endlich seine passive Zuschauerrolle aufgeben muss, um sein Leben nicht völlig zu verpassen. Ein wichtiger Schritt für einen Neuanfang ist dabei die Zerstörung seines Archivs, damit er nicht für immer ein Dabeiseiender, ein Zuschauer am Rande bleibt, der niemals die Initiative ergreift. Nur seine eigene Akte behält er, denn hier fehlt noch das letzte Kapitel: eine neue Ausrichtung seines Lebens. Wird sie gelingen?
Der ruhig erzählte, sprachlich hervorragende Roman hat mir gut gefallen, so wie viele seiner Vorgänger auch. Eine klare Empfehlung für jeden, der nicht nur handlungsbetonte Romane liest.

Bewertung vom 06.09.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Was vermag Liebe?
Douglas Stuarts 2020 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichneter Roman “Shuggie Bain“ schildert das Leben einer armen Arbeiterfamilie in Glasgow von 1981-1992. Es ist die Thatcher-Ära, die Zeit der Zechenschließungen, als die Männer arbeitslos wurden und die Familien von Sozialhilfe und Kindergeld leben mussten. So geht es auch der schönen Agnes Bain, die aus ihrer ersten Ehe mit dem Katholiken Brendan McGowan die Kinder Catherine und Alexander, aus der zweiten Verbindung mit dem Taxifahrer Hugh – genannt Shug – Bain den kleinen Sohn Shuggie hat. Als der Weiberheld Shugh sie in der kleinen Siedlung Pithead in einer Mietwohnung einquartiert hat, verlässt er sie, und mit Agnes geht es schnell bergab. Obwohl sie sich äußerlich nicht gehen lässt und der Öffentlichkeit stets ihre makellose Schönheit in gepflegter Kleidung präsentiert, verfällt sie dem Alkohol. In der Siedlung muss sie sich als versoffene Hure beschimpfen lassen, und ihr neuer Partner Eugene, ebenfalls Taxifahrer, macht alles nur noch schlimmer. Der Einzige, der sie bedingungslos liebt und jahrelang versucht, sie zu retten, ist ihr jüngster Sohn Shuggie. Auch er hat es nicht leicht. Er ist anders als andere Jungen, wirkt weibisch, drückt sich gewählt aus und hasst Fußball. Schon als Kind wird er als Schwuchtel beschimpft, ausgegrenzt, gemobbt.
Stuarts Roman mit autobiografischen Zügen berührt und verstört. Szene für Szene begleitet der Leser die verarmten Unterschichtfamilien mit ihren trunksüchtigen und Bingo spielenden Müttern und sieht die vernachlässigten und hungernden Kinder, die leiden, weil die Mütter wieder einmal die Stütze versoffen und verspielt haben. Es gibt einige witzige Passagen, aber überwiegend ist das ein todtrauriges Buch, das nicht nur durch die authentischen Milieuschilderungen beeindruckt, sondern auch durch seine Sprache. Die Übersetzerin erfindet einen eigenen Slang für die Dialoge der Arbeiterfamilien, die im Original gewiss nicht Oxford English sprechen, sondern vermutlich Glaswegian, den speziellen Dialekt der Region. Dieser ungewöhnliche Roman hat mich sehr beeindruckt. Allerdings frage ich mich die ganze Zeit, ob im Klappentext unbedingt stehen muss, dass Shuggie mit seiner Mission scheitert.

Bewertung vom 05.09.2021
Russische Botschaften
Musharbash, Yassin

Russische Botschaften


sehr gut

Propaganda, Fehlinformation und Fake News
In seinem neuen Thriller “Russische Botschaften“ schreibt Yassin Musharbash über ein Thema, bei dem er sich bestens auskennt. Er ist stellvertretender Ressortleiter des Ressorts Investigative Recherche und Daten von ZEIT und ZEIT ONLINE.

Die Journalistin Merle Schwalb ist gerade innerhalb der Redaktion der Zeitschrift Globus aufgestiegen. Als sie mit einem Kollegen in einem Straßencafé in Berlin sitzt, fällt ein Mann von einem Balkon. Die Polizei gibt weder seinen Tod noch seine Identität bekannt. Wie sich später herausstellen wird, handelt es sich um einen russischen Agenten, der sowohl für den russischen Geheimdienst GRU als auch für den Verfassungsschutz gearbeitet hat. Letzterem wollte er eine Liste mit verschlüsselten Namen von Deutschen übergeben, die zum Teil sehr viel Geld von russischen Stellen bekommen. Diese Liste gelangt in die Hände von Journalisten von zwei Publikationen, die beschließen, ausnahmsweise zu kooperieren. Die Gruppe trifft sich fünf Wochen lang auf dem Land in einem abgelegenen Gehöft, das einer Freundin von Merle gehört.

In mühsamer Kleinarbeit tragen die Journalisten Informationen zusammen, die das ungeheure Ausmaß der Einmischung russischer Stellen in deutsche Angelegenheiten beweisen. Dabei geht es um die Verbreitung von Fehlinformationen, um Destabilisierung, Hetze und Spaltung der Gesellschaft und um die Verbesserung des russischen Ansehens im Ausland – nicht zu vergessen die russischen Hackerangriffe, die in die Präsidentschaftswahl in den USA und das britische Brexit-Referendum eingriffen. Keine dieser Aktivitäten lässt sich zu Putin zurückverfolgen, weil Tausende dabei mitmachen und teilweise von russischen Oligarchen finanziert werden, die dem Kreml nahestehen. Für die Investigativ-Journalisten wird die Recherche immer gefährlicher, weil sie zwei hochrangige Mitglieder in den eigenen Reihen enttarnen und selbst ins Visier der Geheimdienste geraten. Ein Shitstorm im Internet ruiniert kurz vor der geplanten Veröffentlichung ihre Reputation und macht sie arbeitslos. Am Ende schreibt Merle Schwalb ihren Artikel, aber ob er jemals veröffentlicht wird, bleibt offen.

Der Roman ist spannend und liest sich gut. Die Charakterisierung der Figuren ist gelungen, wobei nicht alle so sympathisch sind wie Merle Schwalb. Ich fand es beklemmend, wie realistisch die Geschichte wirkt, zumal sie durch wiederholte Erwähnung von real existierenden Personen und Ereignissen zusätzlich an Authentizität gewinnt. Aus dem halboffenen Ende schließe ich, dass der Autor eine Fortsetzung plant. Ich freue mich darauf.

Bewertung vom 05.09.2021
Die letzten Romantiker
Conklin, Tara

Die letzten Romantiker


gut

Eine amerikanische Familie
Im Mittelpunkt von Tara Conklins Roman steht die Familie Skinner. Der Ehemann und Vater stirbt früh und lässt seine Frau Noni und die Kinder Renee,11, Caroline, 8, Joe, 7 und Fiona, 4 zurück. Die Mutter zieht sich mit schweren Depressionen für drei Jahre in ihr Schlafzimmer zurück und überlässt ihre Kinder sich selbst. Renee übernimmt die Mutterrolle und kümmert sich um die jüngeren Geschwister. In dieser Zeit wachsen sie eng zusammen. Später werden sie völlig verschiedene Lebenswege wählen und sich zunehmend voneinander entfernen. Renee wird eine erfolgreiche Ärztin, Caroline heiratet früh ihren Jugendfreund und bekommt drei Kinder, Joe hat viele Freundinnen, legt sich aber lange nicht fest, und Fiona wird Umweltaktivistin, schreibt Gedichte und einen Blog, indem sie über ihre zahllosen sexuellen Kontakte berichtet. Als Joe in der Latina Luna gerade seine große Liebe gefunden hat, erleidet er einen „Unfall“, der die Familie erneut in tiefe Trauer stürzt. Der Roman umfasst fünf Jahrzehnte Familiengeschichte, blickt aber zusätzlich in einer Art Rahmenhandlung in die Zukunft. Im Jahr 2079, als der Klimawandel mit seinen bekannten Folgen stattgefunden hat, liest die 102jährige Fiona, eine inzwischen sehr bekannte Dichterin, öffentlich aus ihrem Werk. Eine junge Frau namens Luna fragt sie nach der Figur aus einem 75 Jahre zuvor geschriebenen Gedicht, und Fiona erzählt ihre Geschichte und die ihrer Familie.
Der Roman ist zum Teil berührend, aber vor allem in der zweiten Hälfte nicht besonders spannend. Es geht ausführlich um Verantwortung und Liebe, aber auch um ein gewisses Maß an Unehrlichkeit und Verrat. Alle drei Schwestern hinterfragen in der Mitte des Lebens ihre Lebensentscheidungen und treffen neue. Das ist realistisch und interessant. Etwas enttäuschend wird das Thema „Klimawandel“ abgehandelt. Er findet irgendwie statt, spielt aber keine wesentliche Rolle im Geschehen. Insgesamt hat mich der Roman etwas enttäuscht. Er ist nicht so außergewöhnlich, wie ich erwartet hatte.

Bewertung vom 05.09.2021
Harlem Shuffle
Whitehead, Colson

Harlem Shuffle


sehr gut

Harlem vor 60 Jahren
Im Mittelpunkt von Colson Whiteheads neuem Roman steht Ray Carney. Er verkauft in einem Laden in der 125th Street gebrauchte Möbel und Geräte. Sein Leben lang hat er versucht, ein halbwegs gesetzestreuer Bürger zu sein, schon um sich von seinem Vater, dem Ganoven Big Mike abzusetzen, der ihn als Kleinkind gern mal allein in einer Bar zurückließ und sich kaum um ihn kümmerte. Sein bester Freund in seiner Kindheit war sein Cousin Freddie, der es auch nicht viel besser getroffen hatte. Die beiden waren wie Brüder, aber schon damals hat Freddie ihn immer wieder in Schwierigkeiten gebracht. Inzwischen geht es natürlich nicht mehr um Bestrafung durch den Vater, sondern um Konflikte mit örtlichen Gangs und der Polizei. Ray soll für ihn Raubgut aus dem Hotel Theresa lagern und an ihm bekannte Hehler weiterleiten, später Dokumente und wertvollen Schmuck aus dem Elternhaus seines drogenabhängigen Freundes Linus, Sohn von sehr reichen und mächtigen Eltern, in seinem Tresor verstecken. Ray braucht illegale Nebeneinnahmen, weil er allein mit Verkäufen aus seinem Geschäft den Lebensunterhalt für die Familie nicht aufbringen kann. Seine Frau Elizabeth stammt aus der gehobenen schwarzen Mittelschicht, und das Paar erwartet sein zweites Kind in einer viel zu kleinen Wohnung. Das Geld reicht auch deshalb nicht, weil Ray einen beträchtlichen Teil seines Einkommens durch regelmäßige Schmiergeldzahlungen an die Polizei und Schutzgelderpressung durch Gangster aus dem Viertel verliert. Die Situation wird für Ray immer kritischer und gefährlicher. Wird er überleben?
Die drei Abschnitte des Romans umfassen die Jahre 1959, 1961 und 1964 und damit die Präsidentschaft John F. Kennedys. Da gab es zeitweise die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse, vor allem der wirtschaftlichen und rechtlichen Situation von Farbigen. Mit den Harlem Riots von 1964 musste diese Hoffnung erst einmal begraben werden. Anlass der Unruhen war die Erschießung des 15jährigen farbigen Jungen James Powell durch den weißen Polizisten Thomas Gilligan am 16.7.1964. Auch 60 Jahre später gibt es Rassismus und brutale Übergriffe und Morde durch Polizisten, wie der Fall George Floyd im vorigen Jahr noch gezeigt hat, und damals wie heute kommen sie meist straflos davon.
Whiteheads Roman liefert das spannende politische und gesellschaftliche Porträt einer Epoche in der afroamerikanischen Enklave Harlem und ist zugleich eine interessante Familienchronik. Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl die Personenvielfalt die Lesbarkeit ein wenig beeinträchtigt.

Bewertung vom 31.08.2021
Kairos
Erpenbeck, Jenny

Kairos


sehr gut

Porträt einer toxischen Beziehung
Im Berlin der 80er Jahre trifft die 19jährige Katharina eines Tages den 53jährigen Hans. Sie verlieben sich in einander und kommen nicht mehr voneinander los. Hans ist verheiratet, hat einen Sohn und geht nicht zum ersten Mal fremd. Er denkt gar nicht daran, sich von seiner Frau zu trennen, und dies ist nur ein Problem in dieser komplizierten Beziehung. Als Katharina für einige Monate ein Praktikum in Frankfurt an der Oder macht, verbringt sie eine Nacht mit einem Kollegen. Später wird sie es Hans erzählen, und damit beginnt ein beispielloser Psychoterror. Er fragt sie immer wieder nach allen Einzelheiten, beschimpft und demütigt sie, glaubt nicht an ihre Liebe und Aufrichtigkeit. Immer wieder macht er sie klein. Er verhört sie wie ein Stasioffizier und fordert absolute Ehrlichkeit ein. Aber sagt er selbst die Wahrheit? Der Leser fragt sich zunehmend verstört, warum Katharina an dieser Beziehung festhält, zumal die zuvor geschilderten sadomasochistischen Praktiken schon befremdlich genug sind. Die junge Frau lässt alles mit sich machen. Sie selbst hat die Reitgerte gekauft. Schließlich verdient sie Strafe.

Das Ganze spielt sich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Niedergangs der DDR ab. Es sind die Jahre vor dem Mauerfall und nach der Wende. Die politischen Verhältnisse und die private Beziehung spiegeln sich gegenseitig: eine utopische Liebe findet ihre Entsprechung in der Utopie eines kommunistischen Systems, das allen anderen Staatsformen überlegen ist. Am Ende wird deutlich, in welchem Maße auch der so von sich überzeugte Schriftsteller und Rundfunkmitarbeiter Hans gelogen und getäuscht hat, als Katharina viele Jahre später in einer Art Rahmenhandlung die Kartons mit den Dokumenten und Aufzeichnungen von Hans und ihren eigenen Koffer voller Tagebücher und Notizen für eine Rekonstruktion ihrer Beziehung auswertet. Da erfährt auch sie - und mit ihr der Leser - erst die ganze Wahrheit. Ein guter Roman mit kleinen Schwächen.

Bewertung vom 31.08.2021
Eine ganz dumme Idee
Backman, Fredrik

Eine ganz dumme Idee


ausgezeichnet

Ein Plädoyer für Empathie
In Fredrick Backmans neuem Roman “Eine ganz dumme Idee“ passieren in einer schwedischen Kleinstadt am Tag vor Silvester eine Menge unvorhergesehener Dinge, die ein allwissender Erzähler nach und nach enthüllt. Ein Bankraub läuft schief, weil die Bank gar kein Bargeld aufbewahrt, eine Gruppe von Menschen will eine von einer Agentur zum Kauf angebotene Wohnung besichtigen und wird von dem gescheiterten Bankräuber auf der Flucht vor der Polizei als Geiseln genommen. Zwei Polizisten, Vater Jim und Sohn Jack, übernehmen den Fall und können ihn zunächst nicht aufklären, weil der Geiselnehmer verschwunden ist, als sie die Wohnung stürmen.

Hauptsächlich geht es darum, den persönlichen Hintergrund aller Anwesenden einschließlich der Polizisten zu klären. Da ist das Ehepaar Anna-Lena und Roger, das immer wieder Wohnungen erwirbt, renoviert und mit Gewinn verkauft, wobei die Ehefrau durch den Auftritt eines von ihr engagierten Schauspielers versucht, die Chancen ihres Mannes als Bieter zu verbessern. Das junge lesbische Paar Julia und Ro, das ein Kind erwartet, sucht tatsächlich eine Wohnung, die Bankdirektorin Zara und die 87jährige Estelle haben andere Gründe für ihre Anwesenheit.

Alles hängt mit dem Selbstmord eines Mannes 10 Jahre zuvor zusammen, der durch die Bankenkrise ruiniert wurde und von der Brücke sprang, auf die man vom Fenster der Wohnung blickt. Eine junge Frau wollte sich wenig später auf dieselbe Weise töten und überlebte. So ist dieser Roman die Geschichte eines Bankraubs, einer Geiselnahme und immer wieder die Geschichte dieser Brücke. Im Laufe des Tages lernen sich die unfreiwillig in der Wohnung Eingesperrten immer besser kennen und begreifen, dass alle auf bisher verborgene Weise mit einander verbunden sind. Sie hören einander zu und machen Hilfsangebote, wo Hilfe nötig ist. Und das ist auch die Botschaft dieses gut lesbaren, herzerwärmenden Romans: Wir müssen stets unser Bestes geben, um die zu retten, die wir retten können. Das Buch ist überzeugendes Plädoyer für Empathie. Dabei ist es kein Nachteil, dass die Figuren dieses Romans überwiegend sympathisch und sorgfältig charakterisiert sind und dass das Buch auch sprachlich und durch seinen besonderen Humor besticht.

Bewertung vom 15.08.2021
Ein erhabenes Königreich
Gyasi, Yaa

Ein erhabenes Königreich


ausgezeichnet

Glaube und Wissenschaft
Im Mittelpunkt von Yaa Gyasis neuem Roman „Ein erhabenes Königreich“ steht Gifty, 28, deren Eltern aus Ghana in die USA eingewandert sind. Sie leben in Huntsville, Alabama. Der Vater kehrt nach wenigen Jahren nach Ghana zurück. Die alleinerziehende Mutter des Sohnes Nana und der kleinen Tochter Gifty arbeitet als Altenpflegerin. In der Erzählgegenwart steht Gifty kurz vor dem Abschluss ihrer neurowissenschaftlichen Studien. Sie führt im Labor Experimente mit Mäusen durch, die sie süchtig macht, um dann durch Eingriffe in ihr Gehirn herauszufinden, ob sie dem Streben nach Belohnung widerstehen können und zu Selbstbeherrschung und damit zur Überwindung ihrer Sucht fähig sind. Es ist ein sehr schwieriges Forschungsgebiet, aber wenn die Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind, könnte es sehr wichtig werden.
Erzählt wird in nicht-chronologischer Darstellung ausschließlich aus Giftys Perspektive. Es gibt Szenen aus ihrer Kindheit, aber vor allem immer wieder die traumatischen Erfahrungen der Familie. Der geliebte ältere Bruder Nana, ein begabter Sportler, wurde nach einer Sportverletzung mit einem gängigen Opioid behandelt und starb mit 16 an einer Überdosis Heroin, die Mutter hat schwere Depressionen, zum ersten Mal nach dem Tod des Sohnes, dann noch einmal, als Gifty 28 Jahre alt ist. Der Pfarrer ihrer Gemeinde schickt die Mutter zu Gifty nach Kalifornien, wo sie kaum isst und nicht mehr aus dem Bett aufsteht.
Es geht in dem Roman jedoch nicht nur um diese familiäre Katastrophe. Die Mutter ist sehr gläubig und hat ihre Kinder entsprechend erzogen. Gifty hat nach dem Tod des Bruders ihren Glauben verloren. Sie stellt sich immer wieder die Frage, ob sie sich für eins von beiden entscheiden muss: Glaube oder Wissenschaft und kommt zu dem Schluss, dass weder das eine noch das andere die Lösung ist.
Ein weiteres wichtiges Thema neben Sucht und Armut ist der allgegenwärtige Rassismus. Die Mutter muss sich von einem Patienten über Jahre als Nigger beschimpfen lassen, und die ach so frommen Gemeindemitglieder äußern sich in Hörweite über die Affinität „dieser Leute“ zu Sucht und Verbrechen. Gifty beschäftigt sich nicht nur mit der Frage, wie ein liebender Gott die Qualen ihres Bruders zulassen konnte, sondern auch, wie eine Nation, die in ihrer Verfassung Gleichheit garantiert, ein solches Ausmaß an Ungleichbehandlung zulassen kann, außerdem, wie die pharmazeutische Industrie ein angeblich harmloses Schmerzmittel wie Oxycodon - auch unter dem Namen Oxycontin berühmt und berüchtigt - auf den Markt bringen konnte, das Millionen von Amerikanern süchtig gemacht hat. Für Gifty ist es ein sehr weiter Weg, bis sie sich aus Einsamkeit und Isolation befreien und ein normales Sozialleben haben kann.
Gyasis neues Buch ist völlig anders als ihr Debüt “Heimkehren“. Der hervorragende Roman bietet anspruchsvolle, lohnende Lektüre.