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Rezensentin aus BW

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 28.11.2020
Wenn du mich heute wieder fragen würdest
Keane, Mary Beth

Wenn du mich heute wieder fragen würdest


ausgezeichnet

Es geht in dem Roman um zwei Familien, die auf verschiedene Arten miteinander verwoben und untereinander verbunden sind.
Die Gleesons und die Stanhoppes sind Nachbarn in dem beschaulichen New Yorker Vorort Gillam. Die Gegend, in der sie wohnen ist ruhig und beliebt.
Die Familienväter Brian und Francis sind zudem Kollegen bei der New Yorker Polizei und deren Kinder Kate und Peter sind seit sie sich kennen befreundet. Aus dieser Zuneigung und Freundschaft wird Liebe.
Eine Liebe, die auf die Probe gestellt wird.
Durch eine Katastrophe.
Durch ein tragisches Ereignis.
Durch einen kurzen, einschneidenden Moment, der für beide Familien alles ändert.

Bei den Familienmüttern sieht es etwas anders aus. Da will es nicht so recht klappen. Lena Gleeson, die sich tagsüber mit ihrem Baby recht allein fühlt, würde sich gerne mit Anne Stanhoppe anfreunden, aber Anne wirkt unnahbar, desinteressiert und abweisend.

Es geht in „Wenn du mich heute wieder fragen würdest“ um viele basale und bedeutsame Themen, die von Mary Beth Keane wunderbar unaufdringlich und unaufgeregt in die Geschichte eingeflochten werden.
Sie geht auf Familienzusammenhalt, Umgang mit Schicksalsschlägen, Verlust, Vernachlässigung, Gewalt, Schuld und Entschuldigung, Krankheit, psychische Probleme und Alkoholismus ein und beschreibt alles nachvollziehbar, realistisch und psychologisch stimmig.

Die Autorin zeichnet lebendige, gut ausgearbeitete und authentische Charaktere, die wir in all ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität, sowie mit Ecken und Kanten kennenlernen und begleiten und die sich im Verlauf der Geschichte entwickeln und verändern.

„Wenn du mich heute wieder fragen würdest“ ist Familienroman, Liebesroman und Coming of Age Geschichte, die mich nicht zuletzt wegen den überraschenden Wendungen, sondern auch wegen ihrer Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit fesselte.

Das Buch ist berührend, bewegend und kurzweilig und es liest sich flüssig.
Die Autorin erzählt unaufgeregt, feinfühlig und emphatisch, eindringlich, aber nicht aufdringlich und hat eine klare und detailreiche Sprache.
Trotz ihrer ruhigen Erzählweise erschafft sie eine intensive und dichte Geschichte, was ich bemerkenswert finde.

An Humor fehlt es der Geschichte, die zum Nachdenken anregt, übrigens auch nicht.

Es macht großen Spaß, nach und nach die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen, so dass sich schließlich ein vielschichtiges und tiefgründiges Bild erkennen lässt.

Ich könnte mir die gleichermaßen dramatische wie hoffnungsvolle Geschichte sehr gut verfilmt vorstellen.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 26.11.2020
Lacroix und die stille Nacht von Montmartre / Kommissar Lacroix Bd.3
Lépic, Alex

Lacroix und die stille Nacht von Montmartre / Kommissar Lacroix Bd.3


ausgezeichnet

Auch am dritten Kriminalroman, in dem der scharfsinnige und etwas altmodische Kriminalkommissar Lacroix die Hauptrolle spielt, bin ich nicht vorbei gekommen.
Schon die außergewöhnlich schöne Gestaltung des Buches lenkte meine Aufmerksamkeit in seine Richtung.
Das in Blau- und Brauntönen gehaltene Cover mit Christbaum und Lichterketten versetzte mich unweigerlich in winterlich-weihnachtliche Stimmung und der leuchtend rote Farbschnitt schafft einen spannenden Kontrast dazu.
Dieser gegensätzliche äußere Auftritt des Buches symbolisiert den Inhalt: wir bekommen einen ruhigen und fesselnden Kriminalroman zu lesen.

Es war mir schon vor dem Lesen des Klappentextes und vor dem Aufschlagen des Buches klar, dass ich diesen Kriminalroman, der, wie ich richtig vermutete, im weihnachtlichen Paris spielen muss, lesen werde!

Kommissar Lacroix sitzt eine Woche vor Hl. Abend gelangweilt in seiner Stammkneipe und blättert leidenschaftslos in der Zeitung.
Das aktuelle Gesprächsthema der Pariser, der bevorstehende starke Schneefall sowie die Hoffnung und Vorfreude auf weiße Weihnachten, erweckt ihn auch nicht zum Leben.

Als er auf einen Artikel stößt, in dem davon berichtet wird, dass im Bezirk Montmartre die weihnachtlichen Lichterketten gestohlen wurden, schlägt sein Herz höher.

Er wird neugierig und fast schlagartig aus seiner vorweihnachtlich ruhigen, gelangweilten und fast lethargischen Stimmung gerissen.

Lacroix ist für diesen Fall zwar nicht zuständig, weil er das Kommissariat in einen anderen Arrondissement leitet, aber er interessiert sich brennend dafür, wer die prächtige Weihnachtsbeleuchtung gestohlen und am Folgetag den Christbaum gefällt hat.

Die Straftaten riechen auf den ersten Blick zwar förmlich nach bloßer und blinder Zerstörungswut, aber er kommt intuitiv zu der Überzeugung, dass mehr als Vandalismus hinter diesen Taten steckt und bietet seiner für Montmartre zuständigen netten und im Moment stark erkälteten Kollegin Rose Violet seine Unterstützung an.

Niemand scheint etwas gesehen oder bemerkt zu haben. Weder Touristen, noch die Künstler oder Bewohner des Viertels haben auf den wegen Kälte und Schneefall ausgestorbenen Straßen und Gassen von Montmartre etwas beobachtet.

Zwei Straftaten.
Viele Zweifel,
kaum Zeugen und
keine Beweise.
Das wäre eine schlechte Ausgangssituation, wenn da nicht das Unbewusste, die Intuition und die Hartnäckigkeit des sympathischen Kommissars Lacroix wären...

Alex Lépic präsentiert 208 Seiten spannenden und entspannenden Lesegenuss, den sich niemand entgehen lassen sollte, der das Pariser Flair liebt, atmosphärische, unblutige und unaufgeregte Krimis mag und bereits ein Faible für Simenon- und Agatha Christie-Kriminalromane hat.

Ich rätselte mit, musste Spekulationen verwerfen und wurde mit unvorhergesehenen Wendungen überrascht.
Die gemeinsamen Mahlzeiten und Gespräche mit seiner Frau Dominique, der Bürgermeisterin, waren „wie immer“ unterhaltsam und erhellend und ich las mit großem Vergnügen von den Zusammentreffen mit der von Lacroix alles andere als geliebten, aber gewieften Reporterin Romy Schneider.

Das Buch lässt sich übrigens ohne Weiteres unabhängig von seinen beiden Vorgängern lesen, aber aus eigener Erfahrung muss ich sagen, dass es das Lesevergnügen noch erhöht, wenn man Lacroix, einen charakterstarken, schlauen und sympathischen Genießer mit diversen Eigenheiten von Anfang an kennenlernt und miterlebt.
Ein Handy hat er übrigens immer noch nicht!

Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.11.2020
Goldene Jahre
Camenisch, Arno

Goldene Jahre


ausgezeichnet

Etwas, das seit über 50 Jahren existiert, ist fester Bestandteil, gibt Orientierung und Halt.
Der Kiosk, den Margrit und Rosa-Maria in einem Dorf in den Schweizer Bergen betreiben, ist so ein Fixpunkt.
Allerdings einer, dessen beste Jahre schon der Vergangenheit angehören.
Die Leuchtreklame auf dem Dach zieht die Aufmerksamkeit trotzdem immer noch auf sich und die Zapfsäule ist nicht nur die einzige Tankmöglichkeit im Ort, sondern auch das Rudiment der einst zum Kiosk gehörigen Tankstelle.
Noch immer wird man hier freundlich und diskret mit Waren, Nachrichten und Informationen versorgt.

Was Arno Camenisch da macht, ist einfach nur originell:
Er lässt Margrit und Rosa-Maria ihren Kiosk für uns öffnen und von ihren „goldenen Jahren“, in denen alles besser war, erzählen.
Dieses Erzählen geschieht über ein Gespräch, das die beiden so ganz en passant an einem typischen Arbeitstag mit dem immergleichen Ablauf miteinander führen. Dabei wechseln sie munter zwischen den verschiedensten Themen hin und her.
Über die Damen selbst erfahren wir dabei aber nichts, obwohl sie ohne Punkt und Komma schwatzen und tratschen. Nicht einmal, ob sie Familien haben, Schwestern oder Freundinnen sind.
Aber aus Andeutungen kann man schließen, dass sie einst nichts haben anbrennen lassen.

1969, im Jahr des Summer of Love und der Mondlandung, haben die beiden inzwischen über 70-jährigen Frauen ihren Kiosk eröffnet und vor kurzem haben sie ihr 50-jähriges Jubiläum gefeiert!
Dazwischen ist so einiges passiert und über all das wird frisch-fröhlich geplaudert.
Vom bedeutungslosen aber interessanten Klatsch und Tratsch bis hin zur hohen Politik und großen Weltgeschichte.
Sie erinnern sich an einen Dreh für einen James Bond-Film mit Roger Moore, an die Tour de Suisse, daran, dass Sportler, Fans und Prominente bei ihnen eingekauft haben.
Einmal hatte sogar eine Kundin mit einem Los von ihnen in der Lotterie gewonnen.
Sie haben diverse Liebesgeschichten und Skandale miterlebt und dem Pfarrer verkauften sie diskret Sexheftchen. Ereignisse wie Tschernobyl oder der Mauerfall in Deutschland fallen ihnen genauso ein, wie Hochwasser-Katastrophen und Lawinenunglücke. Auch um den Klimawandel kommen sie in ihrem Plausch nicht herum.

Die beiden haben mit ihrem kleinen Geschäft, das sie renoviert und modernisiert haben, wenn es nötig war, allen Widrigkeiten getrotzt. Sie haben alles überstanden und sind noch heute das Zentrum im Dorf.
Alles ist picobello.
Alles hat seine Ordnung.
Alles geht seinen gewohnten Gang. Alles wird gehegt und gepflegt.

Dass die Umgehungsstraße ihnen die Laufkundschaft rauben und ihren Niedergang bedeuten könnte, ist eine nicht von der Hand zu weisende Befürchtung.
Mal sehen, was draus wird. Unterkriegen lassen sich die beiden optimistischen und tapferen Seniorinnen auf jeden Fall noch nicht.

Mir gefiel nicht nur der Inhalt, sondern auch die außergewöhnliche, alpenländisch gefärbte Sprache und der nostalgische Ton der Damen in ihrem erfrischenden Zwiegespräch über das Vergangene.
Dass ich das ein oder andere Wort nachschlagen „musste“, war überhaupt kein Problem für mich. So wird man schlauer ;-)

Ich kann gut nachvollziehen, dass der Autor mit seinem ganz besonderen Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 gelandet ist.

Ich empfehle dieses schmale und äußerst unterhaltsame Bändchen, das mir gute 2 Stunden Lesevergnügen verschaffte sehr gerne weiter!

Bewertung vom 23.11.2020
Der Buchhändler aus Kabul
Seierstad, Åsne

Der Buchhändler aus Kabul


sehr gut

Das auf Tatsachen beruhende Reportagebuch „Der Buchhändler aus Kabul“ von der norwegischen Schriftstellerin Åsne Seierstad erschien bereits 2002 erstmals im norwegischen Original.

Es geht in diesem Werk um ihren mehrmonatigen Aufenthalt in Afghanistan nach dem Sturz des Talibanregimes.

Sie verbrachte diese Zeit in der in Kabul lebenden Familie des eleganten 56-jährigen Buchhändlers Shah Mohammad Rais, im Buch genannt Sultan Khan, und schildert in diesem Werk aus verschiedenen Perspektiven das für westliche Leser rückständig anmutende Leben dieser afghanischen Großfamilie.

Manches von dem sie berichtet, hat sie selbst erlebt, manche Geschichten, Gedanken oder Emotionen wurden ihr erzählt und anvertraut.

Abwechselnd kommen der Buchhändler, der neben offiziellen Büchern auch „verbotene Literatur“ verkauft, seine Frauen oder Kinder zu Wort.
Dabei erfahren wir in 19 locker miteinander verknüpften Episoden viel über den Lebensalltag in Afghanistan, die Sorgen, Nöte und Hoffnungen der Menschen sowie über die Rolle, die Situation und den Zwiespalt der afghanischen Frauen, die seit Generationen dermaßen von den zementierten und gewachsenen Strukturen geprägt wurden, dass sie ihr Los oft als unumstößlich bzw. selbstverständlich ansehen.

Wir erfahren so manches über den Buchhändler und seinen Laden, über sein hartes Regiment als Familienoberhaupt, über teilweise befremdliche Rituale und häufig diskriminierende Traditionen, das Tragen der Burkha, Brautwerbung, Hochzeiten, Zwangsverheiratungen, Mehrehe, Bildungssystem, Moralvorstellungen, die Schreckensherrschaft der Taliban, und vieles mehr.

Wir lesen von einem Besuch im Hammam, von einer religiösen Pilgerfahrt und von einem Marktbesuch.

Aus vielen Puzzleteilen entsteht so ein buntes, lebendiges, atmosphärisches und facettenreiches Bild.

Das Buch hat eine umstrittene und bewegte Vergangenheit hinter sich. Es hat sehr kontroverse Debatten ausgelöst, da es von der Buchhändlerfamilie nach der Veröffentlichung angefochten wurde.
Die Familie fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt und zog gegen Autorin und Verlag vor Gericht.
Ein 13 Jahre andauernder Prozess folgte.
Eine der Frauen des Buchhändlers warf der Autorin vor, Gerüchte verbreitet zu haben und der Buchhändler selbst klagte sie wegen Verleumdung an.
In späteren Übersetzungen strich Åsne Seierstad einige Passagen.

Nach der Lektüre des am 1.9.2020 im Kein & Aber Verlag erschienenen Taschenbuchs kann ich unschwer nachvollziehen, dass die 1970 geborene Kriegsreporterin Åsne Seierstad für ihr meines Erachtens sachliches und informatives Werk, das eher Bericht als Roman ist, mehrere Auszeichnungen erhielt.

Ich empfehle es sehr gerne weiter! Es regt zum Nachdenken an, ist intensiv, unterhaltsam und kurzweilig, gleichermaßen fesselnd wie beklemmend und hallt nach.

Es brachte mich in Berührung mit einer fremden Kultur, gestattete mir Einblicke in eine andere Welt und erlaubte mir einen Blick über den Tellerrand.
Neben all dem Lob möchte ich aber auch betonen, dass dieses Buch kritisch gelesen werden muss, obwohl die Autorin nicht wertet oder urteilt.
Der Leser kann selbst seine Schlüsse ziehen, sollte aber die Geschichte und Hintergründe des Buches nicht außer acht lassen.
Wo endet die Wahrheit, wo beginnt die Fiktion?
Was wurde in den Geschichten, die man ihr erzählte beschönigt, was war real?
Was konnte die Autorin aufgrund der Sprachbarriere vielleicht nicht richtig interpretieren oder nachvollziehen?

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.11.2020
Wenn ich dich hole
Goerz, Anja

Wenn ich dich hole


sehr gut

Der neunjährige Lewe und seine Mama Insa sind zu Besuch bei der Oma in Niebüll / Nordfriesland.
Als die beiden Frauen zum Einkaufen gehen, bleibt Lewe daheim.
Und dann wird‘s brenzlig, denn der Schneesturm wird immer heftiger und Mutter und Großmutter kommen nicht zurück.

Lewe wird es mulmig ums Herz und er ruft seinen Papa Bendix Steensen an, der sich auf dem Rückweg von einer Geschäftsreise befindet und wegen einer Unwetterwarnung in London auf dem Flughafen feststeckt.
Sein Flug nach Hamburg wurde gestrichen!

Bendix versucht vergeblich, seine Frau zu erreichen und als sein Sohn immer öfter anruft und immer ängstlicher und verzweifelter klingt, verständigt er die Polizei in Niebüll, die zunächst nicht glaubt, dass es sich um eine ernst zu nehmende Situation handelt, sich dann aber doch kümmert.

Der Rückruf der Polizei mit der Information, dass es Lewe gut gehe und sich eine weibliche Verwandte um ihn kümmere zieht Bendix den Boden unter den Füßen weg.

Was geht da vor sich?
Wer ist diese mysteriöse weibliche Verwandte?
Er wittert Gefahr. Große Gefahr.

Die Atmosphäre ist dicht, angstvoll, knisternd und der Inhalt, der aus verschiedenen Perspektiven vermittelt wird, ist fesselnd.
Die Vielseitigkeit und Komplexität der Charaktere hat die Autorin gut vermittelt, die Schauplätze und Handlungen gut beschrieben.

Dieser spannende und unterhaltsame Debütroman, der die tiefsten Ängste aller Eltern zu Tage fördert, hat mir nicht zuletzt deshalb so gut gefallen, weil er ohne blutrünstige, ekelhafte und brutale Szenen auskommt!
Die Spannung erschafft Anja Goertz rein mit atmosphärischen und emotionalen Mitteln. Psychologischer Nervenkitzel pur.

Einzige Kritik: die Darstellung des Dorfpolizisten Bruno ist der Autorin nicht gelungen. Sie hat hier das kitschige Klischee vom trotteligen und dusseligen Büttel bedient und das gefiel mir nicht.

Ansonsten ist dieser erste Thriller von Anja Goertz ein empfehlenswerter Pageturner, der einen schrecklichen Tag mit einem alptraumhaften Szenario im Leben der Familie Steensen schildert und v. a. Eltern Gänsehaut verursacht.

Bewertung vom 20.11.2020
Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt
Fohl, Dagmar

Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt


ausgezeichnet

Wir lernen in dem ca. 220-seitigen Werk Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes kennen, einen mutigen Menschenfreund und Katholiken, der sich Regeln, Anweisungen und Verboten der portugiesischen Regierung widersetzt, um Tausenden von Menschen zu helfen.

Diese Hilfe gewährt der aus einer Adelsfamilie stammende verheiratete, kinderreiche, wohlhabende und empathische Mann, indem er zu Beginn des zweiten Weltkrieges trotz oder entgegen der vom Diktator Salazar ausgesprochenen drastisch verschärften Einreisebedingungen vielen überwiegend jüdischen Flüchtlingen und politisch Verfolgten Visa erteilt, damit sie nach Portugal einreisen können.

Doch sein Handeln hat Konsequenzen.
Aristides de Sousa Mendes verliert seine Ämter und muss in einem Disziplinarverfahren Rede und Antwort stehen.
Von da an geht es in allen Beteichen seines Lebens rapide abwärts.

1954 verstarb er.
Rehabilitiert wurde er erst posthum.

Psychologisch nachvollziehbar und stimmig zeichnet Dagmar Fohl die Seelenzustände ihres Protagonisten mit all seinen inneren Konflikten und Beweggründen, wobei es bezüglich seiner inneren Zerrissenheit nicht nur um sein politisches Engagement, sondern auch um private Angelegenheiten ging.

Auffällig und bedeutungsvoll war für mich, dass der Konsul, was die Flüchtlinge betraf, extrem engagiert und verantwortungsbewusst handelte, dass er gleichzeitig aber, was ihn selbst und seine Familie anging, fast schon leichtsinnig, fahrlässig und arglos agierte. Warum hat er potentielle Folgen und Gefahren für sich und seine Familie, Ehefrau und 14 gemeinsame Kinder, ausgeblendet und verleugnet?

Dass die Autorin Geschichte studiert und gründlich recherchiert hat, ist unschwer zu erkennen, denn sie beleuchtet und vermittelt die gesellschaftlichen Verhältnisse, Nöte und Probleme der damaligen Zeit realistisch und glaubhaft.
Ihr recht faktischer, nüchterner, etwas sperriger und steif-hölzerner Schreibstil trägt dazu bei, die bedrohliche und karge Atmosphäre der damaligen Zeit zu vermitteln.

Die lebendig, dynamisch, rasant und eindringlich geschriebene Romanbiographie über den mir bis dahin nicht bekannten, weltoffenen, weitgereisten, beeindruckenden und außergewöhnlichen Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes ist ein äußerst interessantes und lesenswertes Werk!

Bewertung vom 18.11.2020
Die Stadt am Ende der Welt
Mullen, Thomas

Die Stadt am Ende der Welt


sehr gut

Gerade ist der erste Weltkrieg zu Ende und schon steht die zweite Gefahr vor der Tür: die spanische Grippe.
Indem sie die Holzfällerstadt Commonwealth rigoros abriegeln, wollen sich die Einwohner vor dem Virus schützen.
Nach einer demokratischen Abstimmung entscheiden sie sich für komplette Abschottung.
Totale Isolation.
Keiner darf raus, keiner darf rein.
Grenzposten, Warnschilder und bewaffnete Wachen sollen dafür sorgen, dass im Ort eine strenge Quarantäne eingehalten eingehalten werden kann.
Denn nur so meinen die Bewohner, sich schützen und überleben zu können.

Charles Worthy, Sohn einer wohlhabenden Unternehmerfamilie und Inhaber eines Sägewerks, hat das Städtchen im Nordwesten der USA mit viel Engagement und Mut gegründet und sich damit einen Lebenstraum erfüllt.
Dieser Lebenstraum beinhaltete aber nicht nur die bloße Gründung einer Stadt, sondern die Gründung einer Stadt, in der seine sozialen Ideale gelebt werden: Menschlichkeit, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung.
Diese Werte sind nun massiv in Gefahr!

Philip Worthy ist der 16-jährige Adoptivsohn von Charles und beobachtet, wie fremde Soldaten um Asyl bitten.
Er ist zutiefst erschüttert und schockiert, als er mitansehen muss, wie der von ihm bewunderte Mittzwanziger Graham, ein befreundeter Holzfäller und junger Familienvater, einen ausgemergelten und halb verhungerten Soldaten erschießt, der sich unerlaubt Zutritt verschaffen möchte.
Sein Weltbild gerät ins Wanken.

Kurze Zeit später kommt er selbst in die Verlegenheit, jemandem den Zutritt zu verwehren, aber er entscheidet anders.
Er handelt anders.
Das hat Konsequenzen.

Jetzt gibt es nicht mehr nur die Angst vor dem Feind, der von draußen kommt, sondern auch noch die Angst vor der Bedrohung aus den eigenen Reihen.

Darüber hinaus lernen wir weitere Bewohner von Commonwealth kennen.
Zum Beispiel Rebecca, die sich für Frauenrechte und gegen den Krieg einsetzt oder Dr. Banes, der um die Virulenz des Virus weiß, es bekämpfen will, aber bereits daran scheitert, Infektionsketten zurückzuverfolgen und Infektionsquellen zu orten.

Der Autor erzählt spannend und glaubhaft von der Veränderung der gesamten Gesellschaft, der einzelnen Menschen und ihren Beziehungen in Extremsituationen und davon, wie ganz basale Werte in Krisen ins Wanken geraten.
Der Aggressionspegel steigt, Misstrauen, Angst und Hysterie kehren ein, Schuldzuweisungen werden gemacht, Mitgefühl schwindet, Hilfsbereitschaft sinkt und Zusammenhalt bröckelt.

Trotz der düsteren, bedrückenden und unheimlichen Atmosphäre, die spürbar und eindrücklich vermittelt wird, ist „Die Stadt am Ende der Welt“ kein zutiefst pessimistisches und deprimierendes Buch. Hoffnung und Optimismus schimmern durch und tragen dazu bei, dass man sich seine eigenen Gedanken macht.
Der Roman hallt nach!

Es geht um ethische Fragen und basale Themen der Menschheit wie Solidarität, Emphathie, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und Hoffnung.

Der 1974 geborene Thomas Mullen hat mit „Die Stadt am Ende der Welt“ einen fesselnden, intensiven und dichten Pageturner geschrieben, der ein historisches Ereignis in Fiktion einbettet und der gerade in Zeiten der Corona-Krise höchste Aktualität und Brisanz besitzt und erschreckende Parallelen zu Tage fördert.

Er erschien übrigens bereits 2007 in Deutschland und wurde aus aktuellem Anlass heraus neu aufgelegt.

„Die Stadt am Ende der Welt“ ist ein gelungener und lesenswerter Debutroman, der geschickt und originell konstruiert ist und für den der Autor meiner Einschätzung nach gründlich recherchiert hat!

Manches war mir leider zu langatmig und etwas zu belanglos; Thomas Mullen hätte an manchen Stellen kürzen können.
Aber das ist Jammern auf recht hohem Niveau.

Bewertung vom 09.11.2020
Die Wahrheit über Metting
Liehr, Tom

Die Wahrheit über Metting


sehr gut

Der erste Teil ist ein Rückblick.
Hier lernen wir Tomás kennen, einen einsamen und sich selbst überlassenen Jungen, der in den siebziger Jahren im fiktiven Ort Metting heranwächst.
Seine Eltern leiten das örtliche Alten- und Pflegeheim „Horizont“ und tragen das ein oder andere Geheimnis mit sich herum.

Lichtblicke in dem spießigen Kaff sind sein bester Freund Filip, ein Zigeuner, und dessen Schwester Milena.
Mit Einzug der lustigen, agilen und lebensfrohen 82-jährigen Marieluise ins Heim, werden wir Zeugen von Thomas erste Liebe sowie seiner, trotz Legasthenie, beginnenden Leidenschaft für Bücher.

Der Autor liefert eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse der damaligen Zeit, beleuchtet Andersartigkeit, Diskriminierung, Rassismus und Verleumdung und zeichnet vielschichtige und lebendige Charaktere mit Ecken und Kanten, Schwächen und Stärken.

Egal ob dominante Mutter, die das Pflegeheim mit harter Hand führt oder schwacher Vater, einflussreicher Autohändler, grausamer Fremdenlegionär oder dahinvegetiere Bewohner des originell benannten Alten- und Pflegeheims „Horizont“, es sind allesamt detailliert sezierte und authentische Figuren.

Hier muss ich kurz erwähnen, dass es, wenn man selbst ein Kind der 70-er Jahre ist, höchst witzig ist, an Capri-Eis und Asterixhefte erinnert zu werden.

Im zweiten Teil kehrt der fast 50-jährige Tomás nach 30 Jahren in sein Heimatdorf zurück und wir erleben zusammen mit ihm, wie sich der Ort und seine Bewohner verändert haben.
Tomás wird hier als Problemlöser, Retter und Erlöser dargestellt und wir erleben viele Wendungen ins Positive.

Der Autor erzählt gleichermaßen feinfühlig wie sprachgewaltig sowie ernst und humorvoll eine zutiefst menschliche Geschichte, die auch literarische Ansprüche befriedigt.

Gegen Ende tendiert er leider zu etwas kitschigen, laienpsychologischen und belehrenden Feststellungen und Bemerkungen.
Tiefgreifende Botschaften werden zu offensichtlich vermittelt, was zusammen mit dem etwas zu Viel an Happy Ends meinen Gesamteindruck leicht negativ beeinflusste.

„Die Wahrheit über Metting“ ist ein sehnsüchtiges, tröstliches und Hoffnung spendendes Werk, das trotz der genannten Kritikpunkte sehr lesenswert ist.

Bewertung vom 06.11.2020
Putzt euch, tanzt, lacht
Peschka, Karin

Putzt euch, tanzt, lacht


ausgezeichnet

Schon lange treibt die 57-jährige Fanny, stellvertretende Abteilungsleiterin in einem kleinen Supermarkt auf dem Land und verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder, ziellos in einem von außen betrachtet komfortablen Leben dahin.
Sie fühlt sich im langweiligen Alltagstrott neben ihrem von Migräne geplagten Mann, der zufrieden seinem Ruhestand entgegenarbeitet, gefangen und hat das Gefühl, nur noch zu funktionieren und in einer Zwangsjacke zu stecken.

Der Tod einer Freundin rüttelt Fanny wach und bringt ihr inneres Gleichgewicht massiv ins Wanken.
Anstatt den Termin für ein psychotherapeutisches Erstgespräch wahrzunehmen, um in der Folge eine Psychotherapie zu beginnen, flüchtet sie spontan mit ihrem alten Auto.
Sie fährt einfach an der Ausfahrt vorbei und weiter Richtung Hütte in den Bergen.
Sie läuft schlicht und ergreifend davon, stellt ihre Familie vor vollendete Tatsachen und kehrt dem Rohbau den Rücken.

Auf ihrem Trip in die Freiheit und ihrer Reise zu sich selbst, erleidet sie Panikattacken und begegnet sie diversen Menschen, mit denen sie letztlich eine bunte Wohngemeinschaft auf der Pinzgauer Alm, der Hütte ihrer Eltern gründet.
Fanni, ihre Jugendliebe Ernst, die Ärztin Tippi, Berlin, das Ehepaar Ohnezweifel, Marek und der Biker Velten verschreiben sich einer Mission, der sie gemeinsam folgen. Sie wollen als Aussteiger-Clique einen Gegenentwurf zum konventionellen, normierten und durchdigitalisierten Routinealltag leben.

Karin Peschka stellt uns in ihrem rasanten und mitreißenden Roman, der etwas märchenhaftes hat, eine Art Road-Novel ist und mit etwas Phantasie auch als Heimatroman durchgehen kann, originelle und eigenwillige Menschen vor und erzählt mit Humor, Sprachwitz, Ironie und Intensität eine Geschichte, in der es um den Mut zur Veränderung, um unkonventionelle Lebensmodelle, um Freundschaft und um den Umgang mit Verlusten geht.

Außerdem wird en passant das brandaktuelle Thema der fortschreitenden Digitalisierung gestreift, was zwangsläufig ein Nachdenken und eine Auseinandersetzung mit den Themen Datenspeicherung, Privatsphäre und gläserner Mensch nach sich zieht.

„Putzt euch, tanzt, lacht“ ist eine feinfühlig und unaufgeregt erzählte Geschichte, die Hoffnung gibt, den Leser häufig zum Schmunzeln bringt und gleichzeitig ernsthafte und basale Themen anschneidet, über die es sich nachzudenken lohnt. Es geht um existentielle Fragestellungen, die sich nicht selten um die Lebensmitte herum stellen.

Karin Peschka ermuntert mit ihrem Roman zur Introspektion, zu mehr Spontaneität und dazu, eingefahrene und ausgetretene Wege auch mal zu verlassen.
Es geht um Leben nicht nur um Rationalität und Sicherheit, sondern es ist wichtig, in sich hinein zu horchen, seine Gefühle ernst zu nehmen und ihnen zu folgen.
Auch, wenn es Mut erfordert und Risiken birgt.

Sehr lesenswert!

Bewertung vom 01.11.2020
Das Gewicht von Schnee (eBook, ePUB)
Guay-Poliquin, Christian

Das Gewicht von Schnee (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Tiefer Winter in der kanadischen Provinz.
Unaufhörlich fallender Schnee.
Stromausfall im ganzen Land.
Ein Dorf, das von der Außenwelt abgeschnitten wird.
Endzeitstimmung.
Ein schwerer Autounfall.
Eine Notoperation, in der die Beine des Verletzten nur notdürftig zusammengeflickt werden.

Die Dorfgemeinschaft beschließt, dass der ältere, ebenfalls im Dorf gestrandete Matthias, in seiner Hütte das Unfallopfer pflegen soll, bis der Schnee schmilzt.
Matthias willigt nur deshalb ein, weil er im Gegenzug mit Lebensmitteln versorgt wird und weil ihm ein Platz im einzigen Bus versprochen wird, der im Frühjahr Richtung Stadt aufbricht.

Bis zur Schneeschmelze vergehen Monate.
Lebensnotwendiges, Nahrung, Medikamente und Holz, wird knapper.

Die Spannung zwischen den beiden ungleichen und wortkargen Männern, die dazu gezwungen sind, auf wenigen Quadratmetern zusammenzuleben, steigt zunehmend.
Misstrauisches und argwöhnisches Beäugen, zunehmendes Vertrauen, Mitgefühl, Hilfbereitschaft, Feindseligkeit, Gereiztheit, Aggression, Hass... das Gefühlschaos ist trotz zeitvertreibendem Schachspiel spürbar.

In dem Raum, den sich die beiden teilen, spielt sich letztlich ein Psychothriller ab.
Die Emotionen schwelen und gären und die beiden Männer sind miteinander ans Haus gefesselt und voneinander abhängig.
Sie müssen einander aushalten.

Eine Parallele zur aktuellen Corona-Krise, in der sich genau das nicht selten abspielt?
Tragödien zwischen Menschen und in Familien, die für lange Zeit auf engstem Raum miteinander zurechtkommen müssen, weil die Umstände es fordern...

Ich kann nachvollziehen, dass dieser zweite Roman des kanadischen Autors Christian Guay-Poliquin mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.

Es ist ein intensiver, dichter, anschaulicher und eindrücklicher Roman, ein schmerzhaft schönes Stück Literatur.
Mit wenigen Worten und einer klaren, präzisen und zugleich poetischen, fast lyrischen Sprache erschafft der Autor klare Bilder.

Er zeigt eindrücklich sowohl die Schönheit, als auch die Grausamkeit der Natur und vermittelt die Atmosphäre wunderbar.
Man spürt Verlangsamung, Langeweile und Spannung in der Hütte.
Aber auch die vom Kamin ausgehende Wärme, die im Kontrast zu der draußen wütenden Kälte und Naturgewalt herrscht.
„Das Gewicht von Schnee“ ist ein berührender, psychologisch tiefgründiger und stimmiger und raffinierter Roman...gleichermaßen verzaubernd und verstörend wie hypnotisch und aufrüttelnd.

Beeindruckend und lesenswert!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.