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miss.mesmerized
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 26.11.2021
I Love You But I've Chosen Darkness
Watkins, Claire Vaye

I Love You But I've Chosen Darkness


gut

When does a postpartum depression end and a real depression begin? The narrator – coincidentally with the same name and profession as the writer – is exhausted after giving birth. Flying to Reno for a book reading and leaving everything and everybody behind seems to be a good way out of the daily chores for a couple of days. Yet, she decides not to return but to reconnect with her hometown in the Nevada desert. Many people she had forgotten turn up and bring back memories and she questions the road she has taken since she could have chosen a completely different one.

Admittedly, the blurb sounded intriguing and I have read several reviews praising Claire Vaye Watkins’ novel “I Love You But I've Chosen Darkness”. However, for me, it didn’t really work. It is experimental in form and quite often there are lengthy quotations I had difficulties linking to the plot. The narration is strongest when we learn about the new mother’s struggles with her role, the new situation and the feeling of being fatigued. The rest seemed to be a bit messy which might well reflect the narrator’s – any maybe author’s - state of mind.

The book might best be described as an odyssey in which the narrator sails through time and space, searching for her identity which seems to have gone lost with childbirth. She could stop her journey at any moment and go back to her husband and daughter, but she doesn’t. She knows that there will be some nasty encounters and she will see places she only wanted to forget, but something drives her to continue.

Neither could I sympathise with the narrator nor could I really make sense of her adventure. It might be a question of hormones that you can only really understand if you have been in a comparable situation.

Bewertung vom 26.11.2021
Was wir verschweigen / River Delta Bd.1
Tuominen, Arttu

Was wir verschweigen / River Delta Bd.1


sehr gut

Gerade hat man Jari Paloviita zum kommissarischen Chef ernannt, als die Polizei von Pori auch schon mit einem Mordfall konfrontiert wird: in einem Sommerhaus kam es zu einem Gelage, das aus dem Ruder lief. Am Ende des Abends ist ein Mann tot, ein Verdächtiger wird jedoch blutverschmiert unweit im Wald aufgegriffen. Die Zeugen sind weitgehend nicht zu gebrauchen, zu viel Alkohol und anderes machen ihre Aussagen unbrauchbar. Jari überlässt den Fall seinen beiden Ermittlern Hendrik und Linda, es scheint nicht so schwierig zu sein, hier eine Anklage vorzubereiten. Doch als er die Namen von Opfer und Täter liest, bleibt Jari das Herz beinahe stehen. Er kennt beide. Schon sehr lange und er weiß auch, was im Sommer 1991 geschehen ist.

Der Ingenieur Arttu Tuominen stammt aus der mittelfinnischen Hafenstadt Pori und hat bereits vier Krimi veröffentlicht. „Was wir verschweigen“ ist der Auftakt der sogenannten DELTA Serie und wurde mit dem finnischen Krimipreis als bester Spannungsroman des Jahres 2020 ausgezeichnet. Geschickt verbindet er die aktuellen Ermittlungen mit der Kindheit des leitenden Kommissars und baut sowohl in der Vergangenheit wie auch der Gegenwart einen Spannungsbogen auf, der sich erst spät löst. Im Zentrum dabei die Frage, wo Jari steht: auf Seiten des Rechts oder einer lange zurückliegenden Verpflichtung.

„Freundschaft hat nichts mit Recht oder Schuld zu tun. Das wüssten Sie, wenn Sie auch nur einmal in Ihrem Leben jemanden gekannt hätten, dem Sie bedingungslos vertrauen konnten.“

Der Fall bringt Jari in eine moralische Zwickmühle, aus der er sich nicht lösen kann. Er vertritt das Recht, muss dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht, dass die Ermittlungen geregelte Wege gehen und dass vor dem Gesetz alle gleich behandelt werden. Doch es gibt noch eine alte Schuld, eine Verpflichtung, ein Versprechen, denen er sich ebenso verpflichtet sieht. Er ringt mit sich, hofft auf eine andere Lösung, die von irgendwoher kommt.

Es ist nicht die Frage, ob der vermeintliche Täter die Tat wirklich begangen hat. Was an dem fraglichen Abend geschah, rück in den Hintergrund. Es ist ein Kampf, der sich nur in Jari abspielt und es ist klar, dass auch nur er die Entscheidung treffen wird, in welche Richtung das Pendel ausschlägt, wofür er sich entscheidet, wozu er sich bekennt.

Ein Krimi, der ganz traditionell beginnt und dann zu einem Gewissenskonflikt wird, auf den man auch als Leser nicht leicht eine Antwort findet. Mit dem Protagonisten ist man in der Situation gefangen und kann nur für sich selbst überlegen, ob man seine Schritte genauso gehen würde oder man sich eher für ein anderes Handeln entscheiden würde.

Ein Krimi, der den Leser in vielerlei Hinsicht herausfordert und gedanklich einbindet mit der Frage: was würde man selbst tun?

Bewertung vom 23.11.2021
Hinter diesen Türen
Ware, Ruth

Hinter diesen Türen


ausgezeichnet

Als Rowan die Stellenanzeige sieht, erkennt sie die Chance ihrem Londoner Leben zu entfliehen. Statt der Kita und dem täglichen Stress mit den Kolleginnen könnte sie auf einem herrschaftlichen Landsitz in Schottland die Töchter eines vermögenden Architektenpaars betreuen. Sie hat nicht zu hoffen gewagt und dann erfüllt sich der Traum. Doch der stellt sich bald schon als Alptraum heraus und Rowan findet sich im Gefängnis wieder. Dort schreibt sie sich alles von der Seele, was sich in den nur wenigen Tagen bei der Familie zugetragen hat und so dramatisch endete.

Ruth Ware konnte mich bereits mit mehreren spannenden Romanen hervorragend unterhalten, auch „Hinter diesen Türen“ konnte die hohen Erwartungen erfüllen. Interessant ist die Gestaltung der Handlung als Brief an einen Anwalt, man erhält als Leser nur die subjektive Perspektive der Protagonistin und weiß, dass es schlimm enden wird. Schon durch dieses Setting wird die spannende Frage aufgeworfen, was geschehen ist. Durch geschicktes Foreshadowing werden immer wieder kleine Andeutungen geboten, die einem spekulieren und mitfiebern lassen.

Geradezu klassisch für einen Krimi oder Thriller ist der Handlungsort. Das alte Haus mit geheimen Räumen und gespenstiger Vergangenheit, die als Legenden und Mythen von den Dorfbewohnern gepflegt wird. Nächtliche Geräusche, die sich nicht deuten lassen, führen bei Rowan schnell zum nervlichen Ausnahmezustand. Im krassen Gegensatz dazu die hochmoderne Technik, mit der die Architekten das Haus ausgestattet haben, die jedoch auch wie von Geisterhand gesteuert scheint.

Die Kinderbetreuung gerät in den Hintergrund und doch, irgendetwas stimmt mit den Mädchen nicht. Merkwürdige Szenen spielt Rowan immer wieder im Kopf durch, auch die Andeutungen bezüglich Maddie lassen sie stutzen. Aber können Kinder hinter einer so perfiden Verschwörung stecken?

Alles wird nur aus Rowans Sicht erzählt. Wieso glaubt die Polizei ihr ihre Unschuld nicht? Dem Leser erscheint sie als sympathische junge Frau, die eigentlich nur das Beste für die Kinder will. Womöglich, weil auch sie nicht die unschuldige Nanny ist, die sie uns zunächst verkaufen will. Denn ihre Fassade bekommt bald schon Risse, die sich zu Abgründen weiten.

Ein Roman, in dem nichts ist, was es scheint. Gespickt mit vielen Spukszenen, die an klassische Gothic Horror Geschichten erinnern und zusammen mit dem cleveren Spannungsbogen einen runden und unterhaltsamen Thriller ergeben.

Bewertung vom 21.11.2021
In ewiger Freundschaft / Oliver von Bodenstein Bd.10
Neuhaus, Nele

In ewiger Freundschaft / Oliver von Bodenstein Bd.10


ausgezeichnet

Pia Sanders Ex-Mann bittet sie um einen Gefallen: seine Agentin hat seit Tagen schon nichts von einer Freundin gehört und ist besorgt. Als Pia in Bad Soden ankommt, wartet Maria Hauschild bereits auf sie und in der Tat wirkt das verlassene Haus seltsam. Doch dann finden sich Blutspuren und im Obergeschoss ein dementer alter Mann. Offenkundig ist die Sorge berechtigt. Schnell stößt die Spurensicherung auf weitere Indizien und alle Hinweise führen zu einem renommierten Frankfurter Verlag. Bei Winterscheid war die Vermisste nur wenige Wochen zuvor gefeuert worden und hat das mit einem waschechten Skandal zelebriert. Noch bevor Pia Sander und ihr Chef Oliver von Bodenstein den geringsten Überblick haben, taucht die erste Leiche auf. Und weitere folgen in dem gar nicht so netten Intellektuellen-Milieu.

In „In ewiger Freundschaft“ schickt Nele Neuhaus das Ermittlergespann Sander/von Bodenstein zum zehnten Mal auf Mordermittlung im Taunus. In gewohnter Manier handelt es sich dabei um einen komplexen Fall mit unzähligen Figuren, die alle auf undurchsichtige Weise miteinander verwoben sind und zudem zahlreiche Geheimnisse hüten. Auch das Privatleben der Figuren wird weiterentwickelt, dieses Mal gerät von Bodensteins familiäre Situation stärker in den Blick und fordert den Kommissar ebenfalls erheblich.

Die Fans der Reihe dürften sich schnell wieder heimisch in dem Krimi fühlen. Die Figuren kommen einem nach so vielen Bänden wie gute alte Bekannte vor, die man nur etwas länger nicht gesehen hat, immerhin ist der letzte Band bereits vor zwei Jahren erschienen. Besonders amüsant wie die Autorin sich nebenbei selbst aufs Korn nimmt, indem sie den Rechtsmediziner und Ex-Mann von Sander, Henning Kirchhoff, zum Autor einer Taunus-Krimireihe mit zufälligerweise identischen Titeln ihrer Serie macht.

Der Fall spielt in einem undurchsichtigen Verlagsmilieu und hat, wie sich schnell ergibt, Verbindungen zu einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Episode. Allein die Menge an Figuren zu überblicken – einige dabei schon längst verstorben – erfordert schon einige Aufmerksamkeit des Lesers. Nur langsam lichtet sich das Netz von Lügen und Verstrickungen, löst sich aber letztlich überzeugend und glaubhaft motiviert.

Ein routiniert erzählter Krimi, der die Erwartungen an die Reihe voll bedient. Wer bereits Fan von Sander und von Bodenstein ist, wird auch mit diesem Fall einige spannende und unterhaltsame Lesestunden erleben. Auch wenn man den eigentlichen Kriminalfall ohne das Vorwissen aus den vorgehenden Romanen nachvollziehen kann, bleibt doch bei den zentralen Figuren meines Erachtens einiges an Seitenhieben auf der Strecke, wenn man ihre Vorgeschichte nicht kennt.

Bewertung vom 20.11.2021
S'adapter
Dupont-Monod, Clara

S'adapter


ausgezeichnet

Toute la famille est heureuse quand le bébé est né. Mais il ne leur faut pas longtemps pour comprendre que l’enfant aux yeux noirs ne montre aucune réaction, qu’il est différent, qu’il ne sera jamais comme son grand frère et sa grande sœur. Toute leur vie au hameau cévenol change. Avec un enfant handicapé, rien n’est plus comme avant. Le frère ainé adore le petit et consacre tout son temps libre à s’occuper de lui. La sœur, au contraire, se retire, devient invisible et retrouve de la consolation seulement dans la nature et avec la grand-mère qui ressent ce que le nouveau-né fait avec la famille. Le troisième enfant, lui, a encore une autre perspective sur la vie dans une famille avec an enfant spécial.

Clara Dupont-Monod a remporté le Prix Femina 2021 pour son roman « S’adapter » dans lequel les pierres de la cour témoignent l’histoire de la famille dont tout la vie bouleverse avec le troisième enfant. C’est un rapport poétique sur ce qui se passe avec une famille mise au défi de s’en sortir de la vie avec un enfant handicapé. Les réactions sont diverses mais tout à fait compréhensible du point de vie de tout individu.

Ce qui surprend d’abord, c’est la perspective de laquelle le roman est raconté. Ce sont les vieilles pierres de la cour qui ont déjà vu beaucoup, qui sont là depuis toujours et qui sont des témoins neutres des habitants. Elles observent sans juger, elles montrent de la compassion parce qu’elles peuvent comprendre les émotions qui bouleversent les enfants. Elles sont toujours à leur place, n’importe quoi se passe et elles, comme la nature sauvage autour du hameau, offrent un refuge quand tout risque de devenir trop dur.

J’ai vraiment adoré comment les réactions des frères et sœurs sont tellement différents, comment ils réagissent à la situation et comment leur lien se développe au cours du temps.

« S’adapter » est un court roman et intense qui émotionne. L’auteur a trouvé les mots parfaits pour raconter cette histoire pour montrer comment on s’adapte à une telle situation sans fixer ou juger une réaction. Un drame intime qui souligne ce que la grand-mère a déjà compris et qui est souvent ignoré : quand il y a un enfant avec des besoins spéciaux, les autres avec leurs besoins à eux sont souvent oubliés.

Bewertung vom 18.11.2021
Erzählende Affen
El Ouassil, Samira;Karig, Friedemann

Erzählende Affen


ausgezeichnet

„Mythen, Lügen, Utopien - wie Geschichten unser Leben bestimmen“ lautet der Untertitel von Samira El Ouassil und Friedemann Karigs sehr erhellendem und unterhaltsam zu lesenden Sachbuch, das mit den derzeit inflationären Narrativen aufräumt. Ich habe die beiden Autoren bei einem Gespräch auf dem blauen Sofa der diesjährigen Frankfurter Buchmesse erlebt, das mich neugierig auf ihr Buch gemacht hat. Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht, im Gegenteil: eine informative Einordnung, die durchaus auch zum Schmunzeln einladende Seitenhiebe bietet, und den richtigen Ton zwischen sachlich und unterhaltsam findet.

Die Autoren bringen Ordnung in das Begriffswirrwarr von Narrativ, Erzählung und Geschichte und erläutern überzeugend, weshalb viele Mythen letztlich auf klassischen Erzählstrukturen basieren, die man aus dem Theater und der Literatur seit Jahrtausenden kennt. Es ist oft die Heldengeschichte, die der klassischen Dramaturgie folgt und durch Spannung und am Ende ruhmreicher Auflösung fesselt. Das Erzählen von Geschichten gehört zu den urtypischsten Eigenschaften von Menschen und unterscheidet uns grundlegend von anderen Spezies. Den Geschichten unterliegen jedoch immer auch Botschaften, die durch das Heldenepos transportiert und an die nächste Generation weitergegeben werden. Dies funktioniert jedoch genauso für politisches Framing und Desinformation.

Ein Held benötigt einen Antihelden, um richtig wirken und scheinen zu können, weshalb oftmals verquere Oppositionen geschaffen werden, um eine Sichtweise zu verstärken. Die meisten Erzählungen lassen sich auf gewisse Grundstrukturen zurückführen – wie etwa Rivalität, Rettung, Suche, Metamorphose, Underdog, Coming-of-Age – die im Alltag ebenso von Journalisten und Meinungsmachern bedient werden wie sie sich in Kinderbüchern finden. Sie bringen scheinbare Ordnung in die Welt, machen diese oft sehr leicht (und entsprechend reduzierend) begreifbarer und waren zur Herausbildung des modernen Menschen auch durchaus nützlich.

Narrative formen jedoch die Welt nach bestimmten Gesichtspunkten und Werten – die dann oftmals nicht hinterfragt werden. So können fiktionale Wahrheiten geschaffen werden, die verschiedenste Formen von Rassismus, Ausgrenzung und Abwertung unterstützen, manchmal auch ohne dass sich die Zuhörer dessen bewusst sind.

Mit zahlreichen Beispielen aus der Literatur, aus Filmen, aber auch der Politik oder modernen Social-Media-Kanälen wie Instagram oder Fernsehshows illustrieren die Autoren ihre Thesen überzeugend und nachvollziehbar. Sehr eingängig dabei jenes der Meritokratie: wenn wir unseren Kindern erzählen, dass sie sich nur genug anstrengen müssen, um im Leben alles erreichen zu können, lassen wir aus dem Auge, dass die Startplätze schon vom ersten Tag an ungleich verteilt sind und einige auf der Laufbahn viel weiter hinten stehen, wenn sie losrennen. Diejenigen mit einem besseren Startplatz werden auch mit höherer Wahrscheinlichkeit das Ziel (früher) erreichen. Die Kehrseite des Narrativ ist jedoch, dass derjenige, der nicht gewonnen hat, sich einfach nicht genug angestrengt hat und deshalb selbst daran Schuld ist, dass er nicht oder als letzter ans Ziel kam. Ganz so einfach ist es ja nicht.

Wer sich selbst und seine Denkmuster einmal kritisch auf die Probe stellen möchte, erhält hier Unmengen an Möglichkeiten. Wer verstehen möchte, wie geschickte unterschwellige Manipulation funktioniert, sollte ebenfalls zugreifen. Und wer sich schon immer gefragt hat, was in den Hirnen der Incels eigentlich schiefläuft, der wird gleichfalls Antworten finden. Eines der wichtigsten Aufklärungsbücher, das die komplexe Gegenwart ein Stück weit begreifbarer macht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.11.2021
Bonobo Moussaka
Dieudonné, Adeline

Bonobo Moussaka


sehr gut

Das alljährliche Weihnachtsessen verbringen die Erzählerin und ihre beiden Kinder wie immer mit ihrem Cousin Martin, dessen Frau Françoise und deren drei Töchtern, sowie dem befreundeten Paar Philippe und Muriel, die mit ihren drei Söhnen ebenfalls in das Vorstadtreihenhäuschen kommen. Es dauert nicht lange, bis sich die eklatanten Differenzen zeigen und der Kampf um die verbale Vorherrschaft beginnt. Jedoch nicht nur zwischen den Männern, sondern auch die Paare selbst treten in einen subtilen Abrechnungskampf miteinander, der über die großen gesellschaftlichen Themen geführt wird und der bei der Erzählerin auch alte Wunden wieder aufreißt. Ein Weihnachtsfest im Kreis der Liebsten, bei dem man sich fragt: wenn die Liebsten schon so miteinander umgehen, wozu wären die ärgsten Feinde dann fähig?

Die belgische Autorin Adeline Dieudonné ist in Deutschland im vergangenen Jahr mit ihrem Roman „Das wirkliche Leben“ der Durchbruch geglückt, auch ihr Roman „Kérozène“ konnte mich restlos überzeugen. „Bonobo Moussaka“ ist unschwer erkennbar als Theaterstück konzipiert und bereits 2018, noch vor ihrem großen, vielfach ausgezeichneten Debutroman, erschienen. Tatsächlich fällt es auch viel leichter, sich die Handlung auf einer Bühne um eine gedeckte Tafel vorzustellen als den Text in Buchform zu genießen. Nichtsdestotrotz kommt auch beim Lesen die pointierte Zuspitzung der zivilisierten Runde, die hinter verschlossener Tür so manche Maske fallen lässt, gut zu tragen.

Kein großes Thema lassen die Gäste aus. Der unweigerliche Vergleich, wer das schönere Haus hat, mehr im Beruf erreicht hat, wessen Kinder wohlgeratener sind – man kennt die und die gönnerhafte Verachtung, überspielt mit nonchalanter Lässigkeit der vorgeblichen Irrelevanz, für diejenigen, die eben nur Platz 2 oder 3 im internen Ranking belegen. Die Frage nach dem Alphatier ist schnell geklärt, wenn auch noch nicht abschließend abgerechnet.

Das Gespräch dreht sich um den Platz von Frauen in der Gesellschaft, oder eher: am Herd, Umweltschutz, Migration, die politischen Ansichten – die politisch korrekten Antworten auf die großen Fragen kennt jeder, aber im intimen Kreis wird man ja wohl mal sagen können... Aber man erfährt auch einiges über die Familie der Erzählerin, deren Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen, was durch das schlechte Verhältnis eher eine Randnotiz wird, die durch eine ganz andere Enthüllung um Längen getoppt wird.

Die Autorin führt etwas vor Augen, was doch jeder kennt: das zwanghafte Zusammentreffen mit Verwandten und vermeintlichen Freunden, zu einem gesellschaftlich diktierten Anlass, zu dem niemand Lust hat und doch jeder den Schein wart und das Spiel mitspielt. Den Ausbruch wagt keiner, nur gelegentliche Risse offenbaren die Wahrheit hinter der Fassade des freundlichen Miteinanders.

Bewertung vom 16.11.2021
The Every
Eggers, Dave

The Every


sehr gut

After the company “The Circle” took over the Internet, it bought an online retailer named after a south American jungle to also operate online buying and selling. With the new name “The Every”, Mae Holland can now control large parts of the people’s every-day life. Delaney Wells has done a lot to become a part of The Every, yet not out of fascination for the company but because she is seeking revenge. The company is too strong to be attacked from the outside, she needs to get inside to destroy it. Together with her roommate Wes, she develops a strategy: making more and more absurd suggestions for apps so that people see what the company is really after. However, their idea does not work, instead of being repelled, people eagerly embrace the new ideas which limit their lives increasingly.

I was fascinated by Dave Egger’s novel “The Circle” a couple of years ago. “The Every”, the second instalment, shows the mission to destroy what he has created. Delaney Wells is a clever and courageous protagonist who consistently follows her goal. Yet, the novel could not fully meet my expectations, it was a bit lengthy at times and the developments were quite foreseeable.

Delaney’s strategy of proposing ever more absurd apps to control people – which words they use, rating their interaction with others and their capacity of being a “friend” – push the development further and further. The line of argumentation that The Every uses is quite convincing: who wouldn’t prefer to live in a safe place where people use words which do not create bad feelings in others, who wouldn’t like to be a better person and most of all, who wouldn’t be willing to abstain from harming behaviour to protect nature?

Eggers just goes one step further and shows how the characters fall prey to the traps which actually are quite obvious. However, this is what they want since it makes life easier. They do not have to make decisions anymore, everything is foreseeable and in good order. Thinking for yourself is exhausting, so why not hand it over do the company? Even though this aspect is well established, I could have done with less apps, the twentieth invention does not add any new aspect to the plot.

A small group of anarchists tries to resist, yet they are too weak and the intellectuals are not heard. Wes’ development throughout the plot, unfortunately, is also very predictable, I would have preferred some surprises here. Eggers certainly can to better than just use well-known set pieces.

The idea is great and the protagonist is well-created but the author could have made more out of it. Some scenes – Delaney’s trip to the ocean and the aftermaths – are brilliant as is the line of argumentation that the company uses to manipulate. Yet, it is a bit lengthy and unoriginal in its progress.

Bewertung vom 16.11.2021
The Sentence (eBook, ePUB)
Erdrich, Louise

The Sentence (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

It is just a favour that Tookie wants to do for her grieving friend, admittedly, a well-paid favour since stealing the body of the lately deceased boyfriend can solve all of Tookie's financial problems. Of course, things turn out as they always do and the young woman is sentenced to sixty years of prison. A good lawyer can bring her out after only a couple of them and as she spent most of her time reading, she starts to work in a bookshop. With her partner Pollox, she seems to be back on the good track of life, but sorting out her personal life does not sort out the world around her. And when simultaneously the pandemic hits, when police violence against people of colour escalates and becomes a public issue and, additionally, when the bookshop is haunted by the ghost of a former customer, Tookie has to handle a lot which threatens to bring back the angry young woman she once was.

Louise Erdrich has written maybe THE novel of the moment. "The Sentence" not only integrates several current events such as the pandemic, the Black Lives Matter movement and America's fragile state before the 2020 election, or questions of identity, but also mythological aspects, old stories told over generations and over continents, stories which have been around as long a mankind itself. It is also the account of one woman, a woman who made mistakes, who has not always been fair since she is strong-minded, but a woman who has the heart on the right side.

It is not easy to determine where to put the focus on when talking about the novel. It seems to be eclectic, yet, this is just like life itself. It feels overwhelming at times with all the things happening at the same time, conflicting narratives which make it hard to make sense of all around you.

What I liked best was how the pandemic was integrated into the story. The author well incorporated everyday questions - why are people bulk buying? how dangerous will the virus be? what will happen to the bookstore? - into the plot, not giving it too much room but authentically showing how it affected life. This is also where we see Tookie's good heart when she worries about her customers and tries to find ways of providing them with further reading material.

The side line of the ghost was first a kind of gothic element but it ultimately triggers the question of identity. Tookie belongs to the indigenous population, which is simply a fact, yet, one that has a huge impact on the way her life went. With it comes the big question of racial appropriation which seems so easy to answer but actually isn't always.

The protagonist craves normal in a time when nothing is normal. It is a year of a chain of nightmares that finally closes. “The Sentence” is also a book about how literature can provide an escape and possibly also answers when reality does not anymore.

Towards the end of a year, an absolute literary gem with a wonderful annexe.

Bewertung vom 12.11.2021
Silverview
Le Carré, John

Silverview


ausgezeichnet

Julian Lawndsley hat seinen stressigen Job in London aufgegeben, um in einem kleinen englischen Küstenort eine Buchhandlung zu eröffnen, auch wenn er bislang nur wenig Erfahrung in diesem Bereich hat. Eines Abends kommt ein ungewöhnlicher Kunde in seinen Laden, der auf dem nahegelegenen Herrschaftssitz Silverview wohnt und sich als Jugendfreund von Julians Vater vorstellt. Mit Ratschlägen will er den Neubuchhändler unterstützen, der nicht sicher ist, was er von Edward Avon halten soll. Sein Vater hatte ihn nie erwähnt, aber er scheint bestens informiert über Julians Familie und da Edwards Frau schwerkrank ist, will er den älteren Herren auch nicht gleich der Lüge bezichtigen. Zur selben Zeit klingeln bei den Geheimdiensten alle Alarmglocken, eine undichte Stelle weist auf den kleinen Küstenort und setzt eine Maschinerie von Agenten in Gang.

„Silverview“ ist der letzte Roman des großen britischen Krimiautors, der selbst für die Geheimdienste gearbeitet hat und immer wieder sein Insiderwissen geschickt für seine Romane einsetzte. John le Carré bleibt auch in diesem Krimi dem Stil treu, den man von seinen letzten Geschichten kennt. Es ist nicht mehr der Agent in Action, der zwischen die Fronten gerät und selbst den eigenen Leuten nicht trauen kann, sondern eine komplexe Hintergrundgeschichte, die sich erst langsam enthüllt und vor allem von dem erzählerischen Geschickt des Autors lebt.

Julian ist offenkundig ein unschuldiger Zivilist, der die Bitten des älteren Herren nicht wirklich abschlagen kann und so in die Handlungen verstrickt wird, die er nicht mehr abschätzen oder gar stoppen kann. Dass er sich in Edwards Tochter verliebt, ist geradezu klassisch und geschieht dezent nebenbei. Man hat es mit distinguierten und höchst zivilisierten Menschen zu tun, deren kriminelles Potenzial woanders liegt.

Als geübter le Carré Leser weiß man, dass man den harmlosen Figuren genauso wenig trauen darf wie den offenkundig verdächtigen. Mit feinem Humor präsentiert der Brite dann auch eine Spionagegeschichte in Reinform, die sich vor aller Augen und doch im Verborgenen abspielt und aus dem netten, freundlichen Nachbarn plötzlich einen ganz großen Player im globalen Spiel der Mächte macht. All das geschieht ohne moderne Technik auf herrlich klassische Weise mit Briefen, die heimlich überbracht werden, und konspirativen Verabredungen an öffentlichen Orten.

Mit dem Roman taucht man ein wenig ab in eine längst vergangene Zeit und kann noch einmal einen großen Autor erleben. Und wieder einmal reißt dieser die großen Fragen auf, nämlich danach, wo letztlich die Loyalitäten liegen, wie weit Integrität geht und wo schlicht Menschlichkeit über strategische Überlegungen siegt. Vielleicht nicht der größte Roman le Carrés, aber auf jeden Fall ein würdiger Abschied.