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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 25.01.2021
Olympia / Kommissar Gereon Rath Bd.8
Kutscher, Volker

Olympia / Kommissar Gereon Rath Bd.8


ausgezeichnet

REZENSION – Nach zweijähriger Pause erschien mit „Olympia“ der achte Band der historischen Krimireihe von Volker Kutscher (58) um den inzwischen zum Oberkommissar beförderten Gereon Rath, die vor 13 Jahren mit „Der nasse Fisch“ im Berlin des Jahres 1929 begann. Von Band zu Band, deren chronologische Lektüre zu empfehlen ist, zeigt Kutscher in atmosphärischer Dichte und zunehmend beängstigend die schleichende politische und damit einhergehende gesellschaftliche Veränderung durch die Nazis in der einst so lebensfrohen Reichshauptstadt. Der Autor macht an den Schicksalen seiner Figuren deutlich, wie der Einzelne, sofern er nicht dem Jubel der Massen erliegt, sich diesem Wandel nur schwer zu erwehren vermag, ohne in die innere Emigration oder in den stillen Widerstand zu gehen, anderenfalls er Schaden an Leib und Leben nehmen würde.
In Kutschers achtem Band „Olympia“ sind wir im Jahr 1936 angelangt, dem Jahr der Sommerolympiade in Berlin. Die Stadt ist festlich geschmückt, alle Nazi-Parolen und Zeichen antisemitischer Hetze und Diskriminierung sind verschwunden. Die Stadt „täuschte eine Weltoffenheit vor, die [ihr] in den letzten Jahren abhandengekommen war“. Doch während die bunte Kulisse die Weltöffentlichkeit zu täuschen versucht, verfängt sich Gereon Rath, ein vom SS-Obersturmbannführer Sebastian Tornow erpresster „Kriminalbeamter vom alten Schlage“, immer tiefer in den Machenschaften der Staatspolizei. Um nicht behelligt zu werden und sich einen kläglichen Rest persönlicher Freiheit zu wahren, spielt Rath das gehorsame, sich in sein Schicksal fügendes Werkzeug des NS-Sicherheitsdienstes, während Ehefrau Charlotte, „die sturste Frau des Universums“, ohne Gereons Wissen Fluchtwilligen mit gefälschten Pässen zur Ausreise verhilft.
Beide gelten als politisch unzuverlässig, weshalb sie ihren Pflegesohn, den 15-jährigen Fritze, an den SA-Funktionär Rademann abgeben mussten, um ihn dort zu einem „ordentlichen Deutschen“ erziehen zu lassen. Fritze, begeistert von der Hitlerjugend, ist als Mitglied des Jungehrendienstes im Olympischen Dorf zur Betreuung amerikanischer Sportler eingeteilt. Ausgerechnet dort muss nun Gereon Rath, zu dem Fritze keinen Kontakt aufnehmen darf, in einem Mordfall ermitteln: Der US-Funktionär Walter Morgan wurde vergiftet. SD und SS befürchten dahinter den Versuch von Kommunisten, die Spiele sabotieren zu wollen. Rath hat als erfahrener Mordermittler seine Zweifel. Doch dann findet sich tatsächlich im olympischen Dorf ein Zeuge mit kommunistischer Vergangenheit. Weitere Todesfälle geschehen, alle als Unfälle getarnt, deren Opfer sämtlich einen Bezug zu einem Fall aus 1935 haben, in dem Rath eine Schlüsselrolle spielte.
Wieder ist es diese Authentizität seines Romans, die Volker Kutschers „Olympia“ von anderen Autoren spürbar abhebt. Als Leser wird man dadurch in die Handlung förmlich reingezogen und vermag man sich der beängstigenden und bedrohlichen Atmosphäre kaum zu entziehen. Man durchlebt mit den Protagonisten deren Alltag, fühlt und leidet mit ihnen, lernt Regime-Mitläufer zu verstehen, skrupellose Nazis zu verachten, fürchtet um das Leben Unschuldiger – und vergisst fast, dass diese Zeit zum Glück schon Jahrzehnte zurückliegt.
In diesem achten Band lassen die Fanfaren zur Eröffnung der Spiele einen außerordentlichen Höhepunkt erwarten. Und „Olympia“ ist zweifellos – sowohl inhaltlich als auch in seiner Dramatik – ein Höhepunkt dieser ohnehin schon besonderen Krimireihe. Dieser Band könnte sogar – der überraschende Schluss trägt seinen Teil dazu bei – das ergreifende Finale dieser historischen Reihe sein. Doch Volker Kutscher hat uns zehn Bände versprochen. Da fragt man sich zwangsläufig, was denn jetzt noch kommen kann.

Bewertung vom 23.01.2021
Der Buchspazierer
Henn, Carsten Sebastian

Der Buchspazierer


sehr gut

REZENSION – „Der Buchspazierer“, der neue Roman von Autor Carsten Henn (47), im November erschienen im Pendo Verlag, liest sich wie ein modernes Märchen und ist eine Hommage an die Welt der Bücher. Doch ist das Buch nicht nur eine Liebeserklärung an die bunte Vielfalt der Literatur, denn deutlich wird in der Geschichte auch die Kritik an der Kommerzialisierung des Buchhandels und dem gelegentlich zu vermissenden Fachwissen dortiger Mitarbeiter.
Im Zentrum der Handlung steht die alte Buchhandlung am Stadttor in einer kleinen Altstadt, Hauptperson ist deren langjähriger, inzwischen im Ruhestand lebender Fachhändler Kollhoff – ein Buchhändler aus vergangener Zeit. Er kannte nicht nur den Inhalt der Bücher, die zum Verkauf standen, sondern auch die literarischen Vorlieben seiner Stammkunden. „Ist Herr Kollhoff vielleicht da? Er weiß immer, was mir gefällt. Er weiß immer, was allen gefällt.“ Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Kohlhoffs einstiger Chef und Freund lebt im Seniorenheim, die Tochter – sicher eine gute Kauffrau, aber offensichtlich keine Fachfrau – führt jetzt die Buchhandlung, deren Sortiment nicht nur um DVDs und CDs, sondern zum Entsetzen Kohlhoffs auch um Gesellschaftsspiele, Tee und Schokolade erweitert wurde. Der altgediente Buchhändler genießt bei der jungen Inhaberin nur noch sein „Gnadenbrot“: Er darf langjährigen Stammkunden die bestellten Bücher ins Haus bringen. „Auf dem Rücken trug er einen abgescheuerten alten Lederrucksack, prall gefüllt mit Büchern, jedes davon in Packpapier und Kordel gehüllt, damit es keinen Schaden nahm, als wäre es ein Geschenk. Alle nannten ihn nur den Buchspazierer.“
Im weiteren Verlauf der Handlung lernen wir die neunjährige, sehr aufgeweckte Charlotte kennen, die in den kommenden Tagen den Buchspazierer zu seinen Kunden begleiten und ihm später nach Verlust dieser letzten Aufgabe aus seiner Not heraushelfen wird. Es waren „Menschen, die …. ihre Augen gerne über die Buchrücken streifen ließen, weil in den Büchern Menschen lebten, denen sie sich verbunden fühlen, weil sich dort Schicksale ereigneten, die sie teilten.“ Beiläufig charakterisiert der Autor auch uns Leser. Er kennt die Hasen, die Bücher mit Rekordgeschwindigkeit lesen, dass sie zwar Wörter, nicht aber den Gehalt eines Buches aufnehmen. Da ist der Kiebitz, der immer erst das Ende eines Romans kennen muss, bevor er vorn zu lesen beginnt, oder auch der Schildkröten-Typ, der allabendlich vor Müdigkeit nicht über ein Kapitel hinauskommt und dieses am nächsten Abend nochmals liest, weil er das Gelesene schon wieder vergessen hat.
„Der Buchspazierer“ ist nicht nur eine warmherzige, fast poetische Geschichte über den Zauber der Literatur. Henn beschreibt seine Figuren voller Zuneigung. Es geht in seinem Roman nicht nur um Bücher und ihre Leser, sondern auch um Freundschaft und Achtsamkeit und um die kleinen Dinge des Lebens. Mag sich unsere Gesellschaft auch ständig wandeln, tröstet der Autor uns Bücherfreunde: „Das geschriebene Wort wird immer bleiben, weil es Dinge gibt, die auf keine Art besser ausgedrückt werden können.Und der Buchdruck ist die beste Konservierungsmethode für Gedanken und Geschichten.“
Der zauberhafte Roman „Der Buchspazierer“ mag vielleicht nicht höchsten literarischen Ansprüchen genügen. Die kleine Geschichte ist dafür doch zu märchenhaft und die Figuren sind zu seicht gezeichnet. Eher scheint es, als hätte sich der Autor hier etwas von der Seele geschrieben: seine sehr persönliche Meinung über den Wandel des deutschen Buchmarktes und Buchhandels. Dennoch – oder gerade deshalb! – ist „Der Buchspazierer“ ein charmanter, empathischer Wohlfühlroman für Buchliebhaber und ein ideales Geschenk für jeden Bücherfreund.

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.01.2021
Vergeltung
Harris, Robert

Vergeltung


gut

REZENSION – Der Name des britischen Schriftstellers Robert Harris (63) verspricht üblicherweise Spannung. Doch sein im November auf Deutsch veröffentlichter Roman „Vergeltung“ erreicht leider nicht jenes Niveau, das wir von seinen Bestsellern „Vaterland“ (1992), „Enigma“ (1995) oder zuletzt „München“ (2017) gewohnt sind. Zwar widmet sich der Autor auch in seinem neuen Roman wieder einem bedeutenden Kapitel des Zweiten Weltkriegs, doch plätschert die Rahmenhandlung um den deutschen Ingenieur Dr. Rudi Graf und die britische Offizierin Kay Caton-Walsh, die der Autor um das eigentliche Thema des Einsatzes der deutschen Vergeltungswaffe V2 gesponnen hat, nur mäßig dahin und gewinnt erst ab Mitte des Buches etwas mehr an Dramatik.
Wir befinden uns im November 1944, nur sechs Monate vor Kriegsende. Das Deutsche Reich scheint besiegt, die Alliierten sind auf dem Vormarsch. Doch Hitler setzt alles auf seine „Wunderwaffe“, die von Wernher von Braun und seinen Ingenieuren in Peenemünde gebaute V2-Rakete – V wie Vergeltung. Rudi Graf, ein Freund Brauns seit Jugendzeiten, ist verantwortlicher Ingenieur im besetzten Holland, wo aus den Wäldern bei Scheveningen die ballistischen Flugkörper täglich von mobilen Abschussrampen in Richtung London gestartet werden. Die britischen Aufklärer können die in Überschallgeschwindigkeit fliegenden Raketen nicht orten, weshalb Kay Caton-Walsh und andere Soldatinnen des Frauenhilfsdienstes der Air Force im befreiten Belgien abgesetzt werden, um aus dortiger Nähe zur holländischen Grenze den Raketenstart zu beobachten, die Standorte der mobilen Startplätze zu berechnen und sie durch britische Bomber zerstören zu lassen.
Auch in „Vergeltung“ verbindet Robert Harris historisches Geschehen und real existierende Personen wie den deutschen Raketenbauer Wernher von Braun (1912-1977) und SS-General Hans Kammler (1901-1945) mit fiktiven Helden seines Romans, dessen Handlung zeitlich parallel und kapitelweise im Wechsel deren Geschichte erzählt. Zusätzlich erfahren wir aus Rudi Grafs Erinnerungen episodenhaft die Entwicklung des Raketenbaues seit 1928.
Wie Robert Harris im Nachwort schreibt, hat er sein Buch in den Wochen des ersten Corona-Lockdowns verfasst. Dies mag ein Grund sein, weshalb der Roman etwas lustlos aus Fakten und Fiktion zusammengeschrieben scheint. „Vergeltung“ lässt vor allem deshalb Spannung vermissen, da man hierzulande vielleicht genauer über Wernher von Braun und die V2 informiert ist, als es britische Leser sein mögen, weshalb diese Abschnitte des Romans eher langweilen. Bleibt die eigentliche Handlung um Rudi Graf und Kay Caton-Walsh. Doch deren Charaktere bleiben blass und wirken mit dem desillusionierten deutschen Ingenieur und der einsatzfreudigen britischen Offizierin, die zur Verteidigung ihrer Heimat „mit Rechenschieber und Logarithmentafeln“ gegen Deutschland kämpft, leider allzu klischeehaft. Da sind doch die Charaktere des von der Raumfahrt besessenen opportunistischen Wernher von Braun und des fanatischen SS-Generals Kammler, die beide im Roman nur als Randfiguren auftreten, wesentlich interessanter.
Robert Harris vermag mit seinem Roman kaum zu fesseln, wirkt die Handlung doch gelegentlich sogar unglaubwürdig. Wenn zum Beispiel Wernher von Braun als uniformierter SS-Sturmbannführer seinen unter Sabotageverdacht stehenden Freund Graf aus dem Verhör der SS befreit und ihn zurück nach Deutschland nimmt, als wäre der Verdächtige dort vor den Fängen der SS sicher. So bleibt „Vergeltung“ ein nur mäßig spannender, aber noch gut lesbarer Roman über ein interessantes Kapitel des Zweiten Weltkriegs. Mehr aber auch nicht.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.01.2021
Im schwarzen Wasser / Rosina Bd.11
Oelker, Petra

Im schwarzen Wasser / Rosina Bd.11


sehr gut

REZENSION – Vor einem Jahrzehnt hatte Petra Oelker (73) ihre um das Jahr 1770 in der Hansestadt spielende Kriminalreihe mit dem zehnten Band „Die Nacht des Schierlings“ abgeschlossen. Nun folgte doch noch mit „Im schwarzen Wasser“ ein elfter Band, der trotz zehnjähriger Schreibpause chronologisch an den Vorgängerband anschließt und wieder mit einem Mord beginnt.
Im Mai 1774 wird in der Gerberei an der Kleinen Alster – damals ein See südlich der Binnenalster, heute nur noch ein schmaler Fleet am Rathausmarkt – der Leichnam eines jungen Mannes in der Lohebrühe gefunden. Niemand kennt den Fremden, der sich erst seit wenigen Tagen in der Stadt aufhielt und sich als Erfinder ausgab. Wem mag dieser Unbekannte nach nur wenigen Tagen schon im Weg gewesen sein? Weddemeister Wagner kommt bei der Aufklärung dieses geheimnisvollen Falles nicht voran.
Wer nun in Oelkers Roman einen echten Krimi erwartet, dürfte bald enttäuscht sein. Denn spannend ist „Im schwarzen Wasser“ nicht unbedingt. Der Weddemeister, den man als Vorgänger heutiger Kriminalkommissare sehen kann, geht seiner Arbeit eher lustlos nach, und die Ermittlung tritt in der nachfolgenden Handlung fast völlig in den Hintergrund. Erst im letzten Fünftel dieses 400-Seiten-Romans nimmt der Kriminalfall wieder Fahrt auf, endet dann aber unerwartet. Die eigentlichen Hintergründe, die letztlich zur Lösung des Falles geführt haben, erfahren wir von der Autorin, fast als seien sie Nebensache, in einem kurzen, abschließenden Rückblick. Dieser Roman ist also keineswegs, wie vom Verlag irreführend angegeben, ein Krimi, stattdessen aber eine lebensechte Alltagsschilderung des Lebens und Arbeitens im aufstrebenden Hamburg zur Zeit des Wandels von der mittelalterlichen Hansestadt in die neuzeitliche vorindustrielle Handels- und Hafenstadt.
So gesehen, ist der Autorin eine faszinierende historische Abhandlung gelungen, die vor allem jenen Lesern gefallen dürfte, die der Stadt Hamburg eng verbunden sind. Aber auch alle anderen geschichtlich interessierte Leser kommen auf ihre Kosten. Oelker beschreibt die Arbeit eines Gerbers und der Stadtleichenfrau ebenso wie die eines Stadtphysikus. Wir erfahren viel über das noch kleine Hamburg mit seinen engen und schmutzigen Gassen, bemerkenswerten Gebäuden und Institutionen, das außerhalb seiner kreisförmigen Stadtmauer im Osten noch von riesigen Gärten und Äcker (heute St. Georg) umgeben ist, im Westen von innerstädtisch störendem Gewerbe wie Tran-Brennereien und Bordellen (heute St. Pauli). Neben fiktiven Figuren begegnen uns, geschickt in die Handlung eingebunden, reale Persönlichkeiten jener Zeit.
Reine Krimi-Leser werden bei „Im schwarzen Wasser“ kaum auf ihre Kosten kommen, dient der Mordfall doch nur als Auftakt zu einer interessanten Alltagsschilderung Hamburgs im Jahr 1774. Manche Seite überliest man vielleicht auch etwas schneller, wenn die Autorin in ihrer Beschreibung allzu kleinteilig wird. Doch überwiegend beschreibt Petra Oelkers dieses alltägliche, eigentlich unspektakuläre Leben der Hamburger Arbeiter und Bürger sowie die Atmosphäre und Stimmung jener Zeit so wirklichkeitsnah sowie ihre so verschiedenen Figuren und deren Hausgemeinschaften so bezaubernd, dass man bei der Lektüre dieses leicht lesbaren und gut unterhaltenden Romans fast glauben könnte, selbst durch die nächtliche Mattentwiete zu laufen, dem Stadtphysikus beim Sezieren im Anatomischen Theater zuzuschauen oder inmitten der Arbeiter beim Bier im Eschenkrug oder der Kaufleute beim Mocca in Jensens Kaffeehaus zu sitzen.

Bewertung vom 02.01.2021
Das Flüstern der Bäume
Christie, Michael

Das Flüstern der Bäume


sehr gut

REZENSION – Nach seinem gleich für den kanadischen Giller Prize nominierten Romandebüt „If I fall, if I die“ (2015) wurde nun mit „Das Flüstern der Bäume“ der zweite, ebenfalls für den höchstdotierten Literaturpreis Kanadas nominierte Roman von Michael Christie verdient auf Deutsch übersetzt. Es ist die über vier Generationen überaus spannend erzählte Familiengeschichte der Greenwoods, die im Zukunftsjahr 2038 beginnend bis ins Jahr 1908 zurückreicht. Doch im Kern dieser ungewöhnlichen Familiensaga mit ihren problematischen Schicksalen geht es eigentlich um Umweltschutz, um die Ausbeutung der Natur durch den Menschen, den Klimawandel und das aktuelle Baumsterben.
Christie vergleicht die Familie mit einem Wald. Ähnlich solcher Ansammlung von Bäumen, die durch Wurzelwerk miteinander verbunden sind, ist für den Autor auch die Familie ein Verbund von Einzelwesen wie „im Wind hilflos kreiselnde Samen“ - hilflos kreiselnd wie jeder Greenwood zu seiner Zeit, doch alle schicksalshaft verbunden mit den Wäldern Kanadas. Christies Geschichte beginnt in nicht allzu ferner Zukunft des Jahres 2038. Papier ist schon Mangelware und Bücher sind wertvolle Raritäten. Die junge Botanikerin Jacinda Greenwood arbeitet als Naturführerin auf Greenwood Island, einer wegen ihrer jahrhundertealten Bäume geschützten Insel, „der höchsten Konzentration von Biomasse auf dem gesamten Planeten“. Reiche Festlandbewohner pilgern zur Erholung in diese Oase, denn auf dem Festland sind „so viele der großen Bäume nun verschwunden, ersetzt durch vollklimatisierte Türme aus Glas und Stahl“. Der Sandstaub über dem dürren, ausgetrockneten Festlandboden macht das Leben im Freien fast unmöglich, viele Bewohner leiden an Asthma. Doch selbst diese sauerstoffreiche Insel dient unter dem täuschenden Etikett des Umweltschutzes mit dem Angebot des „Waldbadens“ als Pilgerstätte der „Baumunterhaltungsbranche“ längst der kommerziellen Nutzung durch die Großindustrie.
Jacinda Greenwood ist vaterlos aufgewachsen, weiß nichts von ihren Vorfahren. Erst das kürzlich aufgefundene Tagebuch ihrer Urgroßmutter ist für sie Auslöser, sich intensiver mit der Familiengeschichte zu befassen. Wie an den Jahresringen einer Baumscheibe von außen zum innersten Kern führt uns der Autor aus dem Jahr 2038 generationsweise zurück in die schicksalshaften Zeiten des umweltzerstörenden „großen Welkens“ (2008), weiter durch die Hippie-Ära und Zeit der Protestbewegung (1974) sowie die Jahre der Weltwirtschaftskrise (1934) bis ins Jahr 1908. Damals wurden zwei Waisenjungen kurzerhand zu Brüdern erklärt, denen man den Namen Greenwood gab. Über die Jahresringe geht es dann wieder von innen nach außen zurück ins Jahr 2038. Wir lernen die Vertreter der Greenwood-Generationen – die junge Jacinda, ihren Vater Liam, Großmutter Willow bis zu Harris und Everett kennen – und für jeden ist der Wald auf Greenwood Island bedeutsam als Ort des Überlebens, als Versteck, für das persönliche Glück oder Unglück. Autor Michael Christie, der selbst mit seiner Familie auf einer kanadischen Insel in einem selbst gezimmerten Holzhaus lebt, schildert anhand der teilweise ergreifenden Schicksale seiner Protagonisten den noch vor Jahrzehnten als selbstverständlich hingenommenen Raubbau an der Natur und das viel zu spät einsetzende Umdenken bis auch die letzten Oasen gesunder Natur zu schwinden scheinen.
„Das Flüstern der Bäume“ ist eine empfehlenswerte, packend geschriebene Familiensaga mit äußerlich stark erscheinenden, doch in ihren verborgenen Schwächen berührenden Charakteren. Michael Christie weiß trotz seiner ängstigenden Botschaft mit seinem Roman durchaus auch zu unterhalten. Nur am Ende bleibt ein mulmiges Gefühl zurück: Kann das Baumsterben noch aufgehalten und die Natur gerettet werden? Der Autor bleibt uns die Antwort schuldig.

Bewertung vom 25.12.2020
Final Control
Etzold, Veit

Final Control


sehr gut

REZENSION – Die heftige Debatte um den Einsatz chinesischer Technologie beim Ausbau des deutschen 5G-Mobilfunknetzes oder der drohende Austritt des bankrotten Staates Italien aus der Europäischen Union sind nur zwei Themen, die in dem im Oktober im Droemer-Taschenbuchverlag veröffentlichten Politthriller „Final Control“ des deutschen Bestseller-Autors Veit Etzold (47) behandelt werden. Es geht um Datenschutz, Datenkontrolle und digitale Überwachung, um die globale Vernetzung, die Lenkung des internationalen Finanzmarktes durch legalen Einsatz ebenso wie durch Missbrauch digitaler Technik sowie um die technologische Vormachtstellung in der Welt. Dabei sieht der Autor die Volksrepublik China zweifelsfrei als Gewinner, die USA als Mitbewerber, Europa als Verlierer und Deutschland auf der Stufe eines Entwicklungslandes.
Veit Etzold stellt die mögliche Nutzung digitaler Technik in allen Lebens- und Arbeitsbereichen in das Spannungsfeld zwischen den Extremen der totalen Überwachung und des totalen Chaos. Sein junger Protagonist Tom, ein deutscher Start-Up-Unternehmer mit Firmensitz in der chinesischen Stadt Shenzhen, braucht dringend einen Investor und gerät an den Milliardär Dairon Arakis. Zu spät erkennt Tom, welche Rolle Arkadis spielt, und gerät schnell zwischen die Fronten. Über ein Hedge-Fonds-Konsortium treibt Arkadis italienische Banken und letztlich auch den italienischen Staat in den Bankrott und schürt bürgerkriegsähnliche Unruhen nicht nur in Italien, da die anderen europäischen Staaten über den Europäischen Ausgleichsfonds gleichfalls betroffen sind und in den finanziellen und wirtschaftlichen Abgrund zu stürzen drohen. Unruhen in der Bevölkerung lassen sich nur durch totale Überwachung verhindern, wie China schon seit Jahren mittels seines Social Credit Systems über die eigene Bevölkerung und vor allem über seine Provinz Xinjiang mit der Bevölkerungsgruppe der islamistischen Uiguren wacht. In dieser chaotischen Situation bietet nun ausgerechnet Arakis den Einsatz chinesischer Sicherheitstechnologie zur Überwachung und Kontrolle an.
Als internationaler Unternehmensberater und Mitglied der Atlantik-Brücke und der Global Bridges verfügt Veit Etzold über das für diese Themen erforderliche Fachwissen. Doch birgt eben diese Detailkenntnis auch Gefahren für den Autor, der sein komplexes Wissen im Roman unterbringen will, und für die im Detail überforderte Leserschaft. So ist der Roman eineseits spannend zu lesen und durch seine kurzen, an wechselnden Schauplätzen der Welt spielenden Kapitel ein echter Pageturner, den man kaum aus der Hand legen mag, da immer wieder das nächste Kapitel lockt. Doch ist die Handlung andererseits an manchen Stellen auch unglaubwürdig, wenn ausgewiesene Experten ihrer Branche sich in Dialogen gegenseitig fachspezifische Zusammenhänge erklären, die sie doch vor allen anderen kennen sollten. Hier erweist sich der Autor gegenüber seinen Lesern zu sehr als „Oberlehrer“. Auch sind Wiederholungen einzelner Aspekte in wechselnden Dialogen ebenso überflüssig wie die wiederholte Aussage, dass Deutschland auf der Stufe eines digitalen Entwicklungslandes steht. Traut der Autor uns nicht zu, dies schon beim ersten Mal verstanden zu haben?
Sieht man allerdings von derlei Schwächen ab, ist Etzolds Roman ein durchaus spannender, für Laien sogar informativer Thriller über die objektiven Vorteile, aber eben auch über die Möglichkeiten des Missbrauchs digitaler Technik. „Final Control“ warnt vor totaler Datenkontrolle und Überwachung der Menschen. War dies in George Orwells bereits 1948 veröffentlichtem Roman „1984“ noch eine dystopische Vision, ist totale Überwachung in Etzolds Politthriller schon Realität. Wir sind uns dessen nur noch nicht bewusst.

Bewertung vom 21.12.2020
Barbarotti und der schwermütige Busfahrer / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.6
Nesser, Håkan

Barbarotti und der schwermütige Busfahrer / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.6


sehr gut

REZENSION – Eigentlich hatte der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser (70) seine erfolgreiche Reihe um Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti mit dessen fünftem Fall „Am Abend des Mordes“ (2012) abschließen wollen. Doch nach vier anderen Romanen und einem Gastspiel Barbarottis in Nessers Krimi „Der Verein der Linkshänder“ (2018) aus seiner Van-Veeteren-Reihe veröffentlichte er mit „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“, im September im btb-Verlag erschienen, nun doch nach acht Jahren noch einen weiteren Band. War es der Zwang des Erfolges oder die Liebe des Autors zu seinem liebenswerten Protagonisten?
Fast möchte man Letzteres vermuten. Der Tod seiner Frau und einige Jahre erfolglos verheimlichter Liaison mit seiner Kollegen Eva Backman – beide um die 50 Jahre alt, er etwas drüber, sie etwas jünger – liegen schon länger zurück. Beide leben seit drei Jahren in seiner Villa in Kymlinge zusammen. Nach einem missglückten Einsatz, bei dem Eva einen Jugendlichen erschoss, hat sich das Paar während der internen Ermittlung eine zweimonatige Auszeit in der herbstlichen Abgeschiedenheit der Insel Gotland genommen, um seelischen Abstand zu gewinnen. Doch selbst in dieser Einöde werden Barbarottis kriminalistischen Instinkte geweckt, als er eines Abends in einem Fahrradfahrer jenen rätselhaften Busfahrer Albin Runge zu erkennen glaubt, der fünf Jahre nach seinem Verkehrsunfall im Januar 2007, bei dem 17 Schüler und eine Mutter starben, nach mehrwöchiger Erpressung das Opfer eines Verbrechens wurde. Barbarotti und Backman rollen diesen geheimnisvollen Mordfall des Jahres 2012 nun erneut auf, um nach möglichen Ermittlungsfehlern zu suchen.
Ist es die Abgeklärtheit seines Alters? Im sechsten Barbarotti-Band des mittlerweile 70-jährigen Håkan Nesser spielt jedenfalls der eigentliche, irgendwann vom Leser sogar durchschaubare Kriminalfall eine eher hintergründige Rolle. Wichtiger scheint dem Autor sein Protagonist zu sein – der inzwischen zum Kommissar beförderte Gunnar Barbarotti, den Nesser mit liebevollen und gelegentlich auch ironischen Charakterisierungen bei seinen Ermittlungen auf Gotland mit Rückblenden ins Jahr 2012 begleitet. Nessers Barbarotti ist keineswegs der knallharte Ermittler, sondern „das blinde Huhn, das links und rechts und wo kein anderer sie wahrnahm wertvolle Körner findet“, und manchmal auch hilfloser Mann, der hin und wieder mit Gott spricht. Denn „wenn die Körner weit auseinanderliegen, braucht auch ein blindes Huhn Verbündete“. Barbarotti ist ein durch den Tod seiner geliebten Ehefrau ein vom Leben geprüfter, im Leben erfahrener und nachdenklich gewordener Mann geworden.
Wer also in „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“ einen spannungsgeladenen Krimi erwartet, wird enttäuscht. Aber gerade die scheinbar leichten und leisen Töne in Barbarottis philosophischen Betrachtungen und der mal fast albern klingende, mal lebenskluge Humor in den Zwiegesprächen mit Eva Backman machen diesen Roman so lesenswert, wenn Barbarotti zum Beispiel überlegt: „Die eigene Bestattung erlebt man ja nicht so wirklich, was wahrscheinlich ganz gut ist.“
Für diese feinen, ironischen Töne muss man als Leser offen sein, um Håkan Nessers Roman richtig wertschätzen zu können. Wobei sogar der Autor sich selbst nicht schont, wenn zum Beispiel sein Protagonist fragt, wieso und wovon Menschen auf Gotland das ganze Jahr über lebten, „wenn sie nicht schon das Rentenalter erreicht hatten oder gut verkäufliche Kriminalromane schrieben“. Denn auch der schriftstellernde Rentner Håkan Nesser gehört mit zweitem Wohnsitz zu diesen Menschen auf Gotland.

Bewertung vom 18.12.2020
Die Krieger / Nick Marzek ermittelt Bd.1
Maurer, Martin

Die Krieger / Nick Marzek ermittelt Bd.1


sehr gut

REZENSION – Der Brandanschlag auf die Münchner Diskothek „Liverpool“ am 7. Januar 1984 mit anschließenden Ermittlungen liefern den Hintergrund zu dem im November im Dumont Buchverlag veröffentlichten Krimi „Die Krieger“ des deutschen Schriftstellers und Drehbuch-Autors Martin Maurer (52). Es ist der Auftakt einer Krimireihe um den verwitweten 43-jährigen Kommissar Nick Marzek, der kürzlich aus Berlin zur Münchner Mordkommission versetzt wurde.
Der Diskotheken-Brand im Münchner Bahnhofsviertel forderte Verletzte und eine Tote. Erste Indizien deuten auf einen Revierkampf im Rotlicht-Milieu hin. Doch dann wird den Ermittlern von italienischen Kollegen ein Bekennerschreiben mit Runen und Hakenkreuz einer bislang unbekannten „Gruppe Ludwig“ übermittelt. Nick Marzek wird zu weiteren Nachforschungen nach Norditalien geschickt. Als Dolmetscherin muss er mit Graziella Altieri vorliebnehmen, der Reinigungskraft des Kommissariats.
In seinem Krimi bindet der Autor die bis in kleinste Einzelheiten reichenden Fakten und Hintergründe des realen Kriminalfalles in eine teils spannende, teils auch amüsante Rahmenhandlung um Kommissar Nick Marzek und Putzfrau Graziella ein. „Ich soll mit unserer Putzfrau nach Mailand fahren?“, ist der Ermittler anfangs entsetzt. Sein Entsetzen steigert sich sogar noch, als er feststellen muss, dass Graziella kaum lesen und schreiben kann. Doch schnell spürt er, dass sie ihm mit ihrer Lebenserfahrung, ihrer Kenntnis italienischer Mentalität sowie ihrem Ehrgeiz, sich nun beweisen zu müssen, eine wertvolle Stütze in der Ermittlungsarbeit ist. Dass Nick und Graziella während ihres Italien-Aufenthalts auch im Doppelbett landen – beide allerdings eher zwangsläufig als freiwillig –, ihre kurze Affäre jedoch vor der Rückkehr in München zu beenden scheinen, lässt Raum für Spekulation und eine Fortsetzung.
Raum für Spekulation lässt auch das bisher gesammelte Wissen um die Terrorgruppe Ludwig. Es ist zwar erwiesen, dass die beiden etwa 25-jährigen Wolfgang Abel und Marco Furlan den Brandanschlag in der Münchner Diskothek tatsächlich verübt haben, und dass in den zehn Jahren zuvor in Italien mindestens zehn Mordanschläge auf Personen aus der Rotlicht- und Drogenszene auf das Konto der Terrorgruppe gehen. Doch bis heute sind die mutmaßlichen Hintermänner unbekannt.
Maurers Krimi beginnt in seiner Rahmenhandlung etwas langsam und klischeehaft: Berliner Kommissar versinkt nach dem Freitod seiner Frau im Alkoholsumpf, beginnt dank eines befreundeten Kollegen in München ein neues Leben und trifft in seiner Einsamkeit auf burschikose Italienerin. Doch dann wird es spannend, kommt immer mehr Tempo auf. Der Autor versteht es, die nackten Fakten der zurückliegenden Mordfälle in Italien sowie die komplexen Hintergründe zur Gruppe Ludwig verständlich aufzubereiten und lesbar zu machen, ohne zu langweilen oder durch die Vielzahl an Fakten zu verwirren.
Wie schon in seinem ersten Politthriller „Terror“ (2011) entwickelt sich auch Maurers neuer Krimi „Die Krieger“ gegen Ende zu einem Politthriller. Wieder geht es um reale Fälle terroristischer und politischer Netzwerke in Italien, deren Spuren vereinzelt bis nach Deutschland reichen – ein Thema, in dem sich der Autor, der wechselnd in beiden Ländern lebt, auszukennen scheint. Ob dies allerdings für eine geplante Krimireihe ausreicht, bleibt abzuwarten. Als Einzelwerk ist Maurers Krimi „Die Krieger“ jedenfalls eine spannende Lektüre, die nicht wenige Leser zu weiteren Nachforschungen über die Gruppe Ludwig im Internet verleiten dürfte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.12.2020
Das Meer der Libellen
Owuor, Yvonne Adhiambo

Das Meer der Libellen


ausgezeichnet

REZENSION – In ihrem preisgekrönten Debütroman „Der Ort, an dem die Reise endet“ (2016) beschäftigte sich die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor (52) mit den Auswirkungen kolonialer Gewaltherrschaft und der Unabhängigkeitskämpfe ihres Landes. In ihrem zweiten, im September im Dumont-Verlag veröffentlichten Roman „Das Meer der Libellen“ schildert sie nun politisch aktuell am Lebensweg ihrer jungen Protagonistin Ayaana den nicht minder katastrophalen Fortgang der Entwicklung Kenias, das sich unter unfähigen und korrupten Regierungen von ausländischen Wirtschaftsmächten ausbeuten lässt.
Der Roman beginnt in den 1990er Jahren. Ayaana wächst als kleines Mädchen auf der dem Festland vorgelagerten Mangroven-Insel Pate auf - einem Ort, „der alle räumlichen und zeitlichen Verbindungen mit dem Rest der Welt ignorierte“. Die Bewohner leben noch immer von Fischfang oder Seefahrt. Handy und Tablet sind einzige Zugeständnisse an die industrielle Neuzeit. Auf Pate bleibt man gern unter sich, lebt in alter Tradition mit und von der Natur. Im umgebenden Meer, wohin die bunten Libellen alljährlich zurückkehren, fühlt sich Ayaana wohl: „Ein weiches, heiteres Sinken, eine vertraute Ruhe erfüllte sie, in der sich die Zeit und all ihre Probleme im Nichts auflösten.“
Jahre später, Ayaana ist inzwischen eine junge Frau, drängt das Weltgeschehen auch nach Pate durch. Wir hören vom Islamischen Staat und vom Tsunami. Die Chinesen beginnen, sich für Kenia zu interessieren. Unter dem Deckmantel freundschaftlicher Beziehungen und vermeintlicher Wirtschaftshilfe erweitert China sein Einflussgebiet und beutet die Rohstoffe Kenias aus. „Wie wir gehört haben, will China einen neuen Hafen bauen. Eine Ölpipeline soll quer über die Insel verlaufen. Wir haben gehört, dass eine ganze Stadt im Meer entstehen soll. All das wissen wir nur vom Hörensagen. Mit uns spricht China nicht.“
Im Rahmen diplomatischer Beziehungen erhält Ayaana ein Stipendium, um in China traditionelle Heilkunde zu studieren. Doch bald wechselt sie zur Schifffahrtskunde. „Was bedeutet das?“, wird sie von ihren Leuten auf Pate gefragt. „Dass ich ein Schiff nach Hause bringen kann.“ Voller Sehnsucht kehrt Ayaana tatsächlich nach Studienabschluss aus der chinesischen Millionen-Metropole enttäuscht auf ihre kleine Insel vor der kenianischen Küste zurück. „Ihre Generation hatte angeblich Geschmack an einer Welt gefunden, die anderswo hergestellt wurde. Sie hatte darin nichts gefunden, das zu besitzen sich lohnte. Je mehr sie in dieser Welt erlebt hatte, desto unsicherer war sie geworden.“ Trotz aller Verlockungen der großen weiten Welt vermisste Ayaana ihre Heimat, die kleine Insel ihrer Kindheit, ihr vertrautes Meer der Libellen: „Das Einzige, das ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, war das Meer. Dem Meer war sie immer willkommen.“
„Das Meer der Libellen“ überzeugt in inhaltlicher Tiefe und gewaltiger Ausdruckskraft. Der Roman aus Kenia begeistert durch seine atmosphärische, fast poetische Sprache voller Farben, Klänge und Düfte eines fernen Landes, wobei hier der Übersetzerin Simone Jakob ein besonderes Lob gebührt. Einerseits ist der Roman eine gefühlvolle Geschichte über das Erwachsenwerden einer jungen Kenianerin, der der Verlust ihrer geliebten Heimat droht – sei es durch Unfähigkeit der eigenen Regierung oder durch Einfluss ausländischer Mächte. Andererseits ist es gerade deshalb auch ein äußerst politischer Roman. Doch das politische Zeitgeschehen bindet Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor derart geschickt in die Geschichte Ayaanas und ihrer Freunde ein, dass man, fasziniert von den so unterschiedlichen Lebenswegen der Romanfiguren, Gefahr läuft, die harsche Kritik der Autorin am politischen System Kenias und dessen industrieller Abhängigkeit von China fast überliest.

Bewertung vom 29.11.2020
Mord in Highgate / Hawthorne ermittelt Bd.2
Horowitz, Anthony

Mord in Highgate / Hawthorne ermittelt Bd.2


sehr gut

REZENSION – Mit seinen eigenwilligen Krimis um den unsympathischen, aber als Privatdetektiv unschlagbaren Daniel Hawthorne hat der britische Schriftsteller Anthony Horowitz (64) eine Romanreihe geschaffen, die mit ihrer geschickten Verbindung von Realität und Fiktion unvergleichlich ist. Nach „Ein perfekter Plan“ (2019) fühlt man sich auch beim zweiten Band, „Mord in Highgate“, als Leser gedrängt, immer wieder im Internet zu prüfen, was oder wer nun echt oder nur erdacht ist.
Mitten in die Außenaufnahmen zur siebten Staffel der tatsächlich von Horowitz geschriebenen TV-Serie „Foyle's War“ platzt sein fiktiver Detektiv Hawthorne, um den Autor zur Aufklärung eines zweiten Mordfalles mitzunehmen. Horowitz hat eigentlich keine Lust, zumal er den oft überheblichen Hawthorne nicht leiden kann. Doch er hat – und dies ist Fakt – mit dem britischen Penguin-Verlag einen Vertrag über drei Bücher abgeschlossen, in denen er über die Arbeit seines Detektivs berichten soll.
Das Mordopfer ist der der Promi-Anwalt Richard Price, der in seinem Haus mit einer wertvollen Flasche Château Lafite Rothschild erschlagen wurde. Verdächtigt wird die feministische Schriftstellerin Akira Anno, die ihm wenige Tage zuvor in einem Restaurant ein Glas Rotwein ins Gesicht geschüttet und gedroht hatte, beim nächsten Mal eine ganze Flasche zu nehmen. Doch dann gibt es einen zweiten Toten. Beide Opfer verbindet ein Jahre zurückliegender Todesfall. Ist Rache das Motiv des Täters?
Der Reiz auch dieses zweiten Bandes um Daniel Hawthorne besteht in dem schnellen Wechsel von Fakten und Fiktion. Da ist Anthony Horowitz, in Deutschland vor allem durch seine verfilmte Jugendbuchreihe „Alex Rider“ bekannt, aber auch durch seine Sherlock-Holmes-Reihe, auf die in „Mord in Highgate“ häufig Bezug genommen wird. In diesem Krimi wird der Autor nun selbst zur Figur in einer fiktiven Handlung, in der er dem Privatermittler bei dessen Arbeit assistiert. Ähnlich wie bei Holmes und Watson bleibt dem berühmten Romancier aber zum eigenen Leidwesen nur die nachrangige Rolle des Protokollanten, der, ohne als Autor Einfluss nehmen zu können, ausnahmslos das Geschehen seinem fiktiven Protagonisten überlassen muss. Zwar versucht auch Horowitz, den Täter zu ermitteln, doch Hawthorne ist ihm und Scotland Yard immer einen Schritt voraus, weshalb der Autor eingesteht: „Das war mir jetzt peinlich. Ich war der Literat, ich hätte den Hintergrund dieser Geschichte erkennen sollen, nicht Hawthorne.“
Der Kriminalfall ist spannend, wenn auch dessen Auflösung geübte Leser britischer Krimi-Klassiker nicht überraschen mag. Wichtiger ist ohnehin die Rahmenhandlung: Da wechseln Fiktion und Realität in einem Tempo, dass beides kaum noch zu unterscheiden ist. Ganz verrückt wird es, wenn der fiktive Detektiv schließlich dem Autor empfiehlt: „Sie brauchen mich doch gar nicht. Sie können mich doch einfach erfinden.“ So wirkt es fast selbstverständlich, wenn Horowitz seine Danksagung beginnt: „Eine der Merkwürdigkeiten [….] besteht darin, dass ich am Ende Leuten zu danken habe, die selbst als Figuren im Buch auftreten.“ Und wieder wechseln dann reale mit fiktiven Personen. „Vielleicht war es ja doch keine so schlechte Idee“, meint der Autor im letzten Satz. Dem stimme ich zu: Die Romanreihe um Detektiv Daniel Hawthorne war eine gute Idee von Anthony Horowitz. Das eigenwillige Spiel in der engen Verbindung von Fakten und Fiktion ist ihm auch in „Mord in Highgate“ wieder ausgezeichnet gelungen, und der Krimi ist nach bester britischer Manier voller Ironie und Sarkasmus geschrieben. Wer sich gut unterhalten lassen will und auch bei Krimis gern schmunzelt, wird sicher seine Freude haben.