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LichtundSchatten

Bewertungen

Insgesamt 241 Bewertungen
Bewertung vom 25.06.2023
Am Anfang war der Knoten
Karg, Michael Simon

Am Anfang war der Knoten


ausgezeichnet

Er war die Verbindung vom Steinkeil zum Stiel, er machte die Axt möglich. Der Knoten wiederum basierte auf einem stabilen Seil. Die Entwicklung von Seil und Knoten dauerte Jahrmillionen, so simpel uns das Ganze heute anmuten mag. Wir hinterfragen es nicht mehr. Die unglaubliche Geschichte dahinter ist in diesem Buch spannend aufbereitet und man gewinnt Interesse vom Schnüren des eigenen Schuhknotens weit zurück in unsere eigene Geschichte.

Die Entwicklung von Sprache und Knoten gingen Hand in Hand, von Mund zu Mund. „Wer einige Knoten beherrscht und anwendet, beginnt, seine Umgebung anders zu betrachten und zu beschreiben.“ Tatsächlich steckt hinter den Knoten und Seilen Raffinesse, Vielschichtigkeit und Nachhaltigkeit.

Knoten sind im Lauf der Geschichte verrottet, sie sind kein primärer Bestandteil der Archäologie. Kurz: man weiß zu wenig darüber und so gibt es, wie immer im Blick zurück, hier große Unsicherheiten, ja Unwissen und gegensätzliche Standpunkte. Diese Aspekte werden von Michael S. Karg anschaulich vermittelt.

Es gibt heute keine Knoten-Wissenschaft (Hammatologie), sie würde unterschiedliche Aspekte umfassen wie Kraft, Zug, Belastbarkeit, also Physik, aber auch Kunstgeschichte, Medizin, Heraldik, Ethnologie, Mode, Nautik, Alpinistik, Forensik etc.
Die Entwicklung des ganzen Lebens wird in Knoten erfasst, sie erst machten höheres Leben möglich, ein unentbehrliches Hilfsmittel der Menschwerdung.

Dieses Buch versucht diese Lücke sehr umfassend zu schließen, es bietet Sichtweisen auf die Entwicklung und Anwendung von Knoten in der Geschichte und erklärt, warum diese Aspekte für die Zukunft bzw. mögliche Lösungen in anderen Zusammenhängen wichtig sind.

Nicht zuletzt werden die wichtigsten Knoten am Ende des Buches vorgestellt, auch visuell, so dass ein eigenes Verknoten, eine Art Rückschau und Anwendung möglich wird. Sich an diesen Lösungen hindurchzuwinden kann durchaus Knoten im Gehirn verursachen, die Umsetzungen, aber sind verblüffend, ein Wissen, das in uns allen schlummert. Zum Anwenden empfehle ich die Hilfestellung durch YouTube.

Zum Einstieg versuche man den Palsteck, den unbestrittenen König der Knoten. „Er hat eine feste Schlaufe, zieht sich aber im Gegensatz zur Schlinge nicht zusammen. Er hält sicher und kann jederzeit gelöst werden.“

Bewertung vom 24.06.2023
Der ewige Brunnen

Der ewige Brunnen


gut

Gute Auswahl, mein Favorit:

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich "Euer Gnaden"

Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.

Joachim Ringelnatz

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Hatte einen Spruch für eine Hochzeit gesucht, leider nichts gefunden. Die Ehe ist aus dem Buch verschwunden, leider. Es gibt auch kein Stichwortverzeichnis, schade.

Der Vorgänger dieses Buches hat uns immer begleitet, hier die neue Gliederung:

Kindheit
Jugend
Höhen und Tiefen der Liebe
Frau sein, Mann sein?
In der Lebensmitte
Aufbrüche, Umbrüche
Ermutigung und Trost
Aus dem Alltag
Das Alter
Gedanken an den Tod
Natur erfahren
Stadt, Land, Fluss
Mythen und Legenden
In der Einsamkeit
Lebenskunst
Essen und Trinken
Zum Lachen
Feste feiern
Auf dem Feld der Politik
Krieg, Flucht, Vernichtung
Heimweh oder Fernweh
Über die Dichter
Vergänglichkeit
Glaube und Zweifen

------------------------Alte Gliederung: ------------------------------

Buch der Kindheit
Jugend und Freundschaft
Buch der Liebe
Buch der Ehe
Alter und Vergänglichkeit
Buch des Abschieds und des Todes
Buch der Natur
Mythen, Sagen und Legenden
Aus der Geschichte
Kennst du das Land?
Buch des Mutes und der Tapferkeit
Stimme des Schicksals
Lebensalltag
Vom Essen und Trinken
Mensch, Unmensch, Übermensch
Einsamkeit und Schwermut
Ein Buch Sprüche
Buch der Heiterkeit und des Unsinns
Komische Begebenheiten
Ein wenig Spott
Buch der Rätsel
Buch der Lebenskunst
Symbole und Träume
Buch des Glaubens
Buch des Dichters

Bewertung vom 04.06.2023
Mindset
Hotz, Sebastian

Mindset


schlecht

"Reich wird man durch die Ausbeutung anderer." Tatsächlich ist das die Meinung des Autors und so entwickelt sich ein Buch über den Mind-Coach Maximilian Krach wie es phrasenhafter nicht sein könnte.

"Die Wertschöpfung anderer abgreifen", der zweite Gedankensprung in diesem Phantasiewerk zeigt, wohin die Reise geht. Der Autor greift nichts als die Aufmerksamkeit des Lesers ab, ohne ihm irgendwas zurückzugeben.

Holtz ist genau die Person, die hier als Krach agiert. Mit zu viel Eigengroßartigkeit ausgestattet, eine Generation, die rumböhmert statt etwas leisten wollen.

Um reich zu werden, muss man Ideen haben und darf vor allem sich selbst ausbeuten. Aber Social Media macht heute die merkwürdigsten Karrieren möglich.

Von Murx her losdenken, ab- und zuschreiben, das reicht heute.

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Bewertung vom 28.05.2023
Ich war BILD
Diekmann, Kai

Ich war BILD


ausgezeichnet

BILD habe ich erst verstanden, nachdem ich die Biografie von Axel Springer und Friede Springer gelesen habe. Diese Art von Journalismus gefällt wenigen, und doch lesen sie so viele. Ganze Zeitungen gründeten ihr Dasein auf Unglücken! Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Warum lache ich bei den Filmen, wenn anderen etwas Dummes passiert? Warum interessieren sich Menschen für Menschen, und vor allem für ihr Unglück? Journalismus ist die Umsetzung funktionierender Mechanismen des schadenfrohen Interesses für andere. Wie entstand das Lachen? Von 10 Menschen am Ufer ergriff der Bär einen und tötete ihn. Neun rannten davon und lachten wie irre!

Und genau so funktioniert der Boulevard-Journalismus. Lachen über andere tut gut, Unglücke angstlustig und mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen lässt einen beschützt im eigenen Umfeld zurück: Gott sei Dank, so schlecht geht es uns / mir nicht. Man kann darüber lamentieren oder zur Kenntnis nehmen, dass man selbst nicht frei von solchen Mechanismen ist. Über andere(s) zu berichten wurde zu einer machtvollen Industrie, die heute mitbestimmt, wohin Politikerkarrieren gehen. Kai Diekmann erzählt zu Beginn dieses sehr lesenswerten Buches über den tiefen Fall des Herrn Wulff, Bundespräsident a.D., dessen Anruf beim damaligen Chefredakteur bzw. die Nachricht auf der Sprachbox der Beginn seines Endes wurde.

Das Buch verdeutlicht, wie eng Journalisten und Politiker verwoben sind. Der Bundespräsident besucht wie selbstverständlich den Chefredakteur und plaudert mit ihm, auch die Gattinnen sind dabei. Man hofft auf den Goodwill des jeweils anderen. Der eine will Geschichten, der andere gute Presse, eigentlich ein perfektes Win-Win-Geschäft. Wären da nicht, wie immer im Leben, die persönlichen Vorlieben und Animositäten. Wir erleben, wie Wulff und seine damalige neue Partnerin durch BILD verständnisvoll begleitet werden, ja richtiggehend abgefedert wolkensanft gebettet. Und wir erkennen die Veränderung, die ein Mensch erleben muss, wenn er ganz oben angekommen ist. Bei Wulff scheint eine Einstellung gewachsen zu sein, die ihm ein Motto unterschiebt, das wir vom royalen Mittelalter kennen: L'etat, c'est moi!

Die idyllische Atmosphäre in Hannover, wo sich alle kannten und Wulff wohl mit allen Journalisten bestens zurecht kam, war aber nicht auf Berlin übertragbar. Für einen Bundespräsidenten gelten andere moralische Gesetze. Wir erleben mit, wie Wulff Diekmann befragt, ob er den Satz vom Islam, der zu Deutschland gehöre, in seiner Rede unterbringen soll. Sogar Wulff's Frau, aber vor allem Diekmann raten ab. Geht Politik und Journalismus noch enger? Das fällt mir beim Lesen dieser Passagen ein. Müssten wir nicht dringend eine strikte Trennung zwischen Politik und Journalismus anstreben? Wie kann es sein, dass ganze Zeitungen zu einer Partei gehören? Welche Rolle spielen in einem über-versorgenden Staat die öffentlich rechtlichen Sender, deren Mitglieder zu fast 90% einer politischen Richtung angehören?

Journalisten und Politiker wechseln häufig zwischen ihren Bereichen hin und her. Dieses Geflecht nimmt immer problematischere Züge an und müsste dringend reformiert werden. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen zu den sozialen Medien abwandern und lieber selber etwas beitragen. Klassische Journalisten unterschätzen den Leser-Kommentar immer noch, der ihren Berufsstand dramatisch unter Beschuss setzt. Ich lese oft nur noch Kommentare von Lesern, der eigentliche Artikel ist lediglich der Start zu einer Diskussion.

Kai Diekmann hat die wesentliche Bedingung für ein gutes Buch (nach Reich-Ranicki) erfüllt, er kann wirklich unterhaltsam erzählen. Ich habe die 544 Seiten in 2 Tagen gelesen und viel Neues erfahren. Es sind durchaus selbstkritische Einsichten eines Insiders dabei, die in weiten Teilen zudem wirklich überraschend sind. Die Sache mit Wallraff (Abhöraffäre) war mir nicht bewusst, ebenso wenig die Frontgestaltung der TAZ in der Rudi-Dutschke-Straße.

Bei Helmut Kohl hat sich für mich ein Puzzle geschlossen, nachdem ich schon die Bücher seiner Söhne gelesen hatte, und natürlich die Kohl-Biografien. Ich freue mich im Nachhinein, dass Helmut Kohl trotz allem Unglück in der neuen Partnerschaft großes Glück und Zuneigung gefunden hat. Dass Kai Diekmann auch in schweren linken Gewässern konservativ blieb, wider alle Zeitgeistanfeindungen, zeugt von echten Nehmerqualitäten. Dabei bot er sich der Gegenseite immer als Mittler an und versuchte, mit allen zu reden, egal ob links oder rechts, auf kreative, intelligente Weise.

Dass er am Ende des Buches den Vergleich 6 und 9 brachte, den auch die aktuelle Außenministerin im Repertoire hat, schmälerte dieses echte Stück Zeit-Geschichte(n) nur minimal. Besonders lesenswert seine Briefe an bekannte und unbekannte Personen, die im Anhang eingefügt sind. Dass er mit Scharping Freundschaft schloss, eine echte Überraschung. Wobei man Scharping für seine Gemütsruhe bei allen Turbulenzen um ihn tatsächlich aufrichtig bewundern muss.

Bewertung vom 26.05.2023
Gehirnwäsche trage ich nicht
Sprenger, Reinhard K.

Gehirnwäsche trage ich nicht


ausgezeichnet

Ein gelungenes Manifest zum selbstständigen Denken und Handeln.

“Es gibt unendlich viele öffentliche Instanzen, die die gelernte Hilflosigkeit der Menschen ausbeutet, um sich unersetzlich zu machen. Je hilfloser die Menschen, desto mehr können Politiker verteilen und regulieren.”

"In der Abenddämmerung der Sozialdemokratie hat dagegen Rousseau noch einmal gesiegt. Sie haben nicht die Produktionsmittel, sondern die Therapie verstaatlicht. Dass der Mensch von Natur aus gut sei, diese merkwürdige Idee hat in der Sozialarbeit ihr letztes Reservat. Pastorale Motive gehen dabei eine seltsame Mischung ein mit angejahrten Milieu- und Sozialisationstheorien und mit einer entkernten Version der Psychoanalyse. Solche Vormünder nehmen in ihrer grenzenlosen Gutmütigkeit den Verirrten jede Verantwortung für ihr Handeln ab.“ („Aussichten auf den Bürgerkrieg“, 1994, S. 37)

Der demokratische Sklave wird aus den Fängen einer überwölbten Bürokratie, öffentlich-lobhudelnder Medien und korrupter Politiker entlassen und muss wieder selbstständig handeln. Der Nanny- und Angstmacherstaat kommt an seine Grenzen, sein Ende wird nicht nur Bürgerkriege auslösen.

Reinhard K. Sprenger schreibt an der Nahtstelle der Risse, die unserer Demokratie aktuell zu schaffen machen. Seine Aussagen sind für Unternehmen, Institutionen, politische Parteien, Universitäten ebenso relevant wie für Privatpersonen.

Mitarbeiter sind keine Adresse zur Pflichterfüllung moralischer Ziele (oder der Sinnstiftung, engl. Purpose), sondern selbstständige autonome Wesen, die in Freiheit leben und arbeiten wollen. "Fürsorgliches Verhalten hat immer einen Zug der Entmündigung."

Heute wird umfassend angeklagt und Angst gemacht, vorrangig geführt von Menschen, "deren Moral über die ökonomische Urteilskraft triumphiert."

Selten habe ich in einem Buch so viele Sätze unterstrichen. Reinhard K. Sprenger bietet eine höchst aufschlussreiche Textsammlung, deren Ziel es ist, persönliche Freiheit und Eigenständigkeit zu erreichen und einem überversorgenden Staat / Unternehmen entgegenzuwirken. Natürlich wird dies nicht alle erreichen, denn viele arbeiten lieber nach dieser Maxime: "Es ist auch heute noch sicher einigen Mitarbeitern rechte, unter dem Regenschirm des Vorgesetzten die behütete Sicherheit des Kindes zu genießen."

Wer klein bleiben will, wählt beschützende Parteien oder Vorgesetzte, wer aber etwas erreichen will, muss dies in Freiheit und Eigenverantwortung tun. Für ihn ist dieses Buch geschrieben, er / sie wird nicht im distanzlosen Du weitermachen, sondern respektvollen Abstand halten zu allen, um sich in den Tsunamis der Konflikte flexibel und eigeninitiativ zu bewähren. Dabei gelten wenig Regeln und die Tatsache eines immer schnelleren Wandels fordert alle täglich neu heraus. "Nur der Konflikt löst von den Fesseln vergangener Erfolge."

Reinhard K. Sprenger blickt pessimistisch in die Zukunft. Er ist der Meinung, dass wir in naiver Weise unsere Freiheit verspielen. "Auch unsere Geistige." Trotzdem, wer bestehen will in härteren Zeiten, ist mit dem Buch "Magie des Konflikts" sehr gut beraten.

Bewertung vom 22.05.2023
Think Again - Die Kraft des flexiblen Denkens
Grant, Adam

Think Again - Die Kraft des flexiblen Denkens


ausgezeichnet

Ein wirklich beeindruckendes Buch, das mir ermöglicht hat, kreativer und flexibler zu denken. An konkreten Beispielen fächert der Autor auf, wie man heute auf Veränderungen reagieren und besser vorankommen kann.

Einser Uni-Abschlüsse garantieren nicht den Karriere Erfolg, sondern Flexibilität und schnelles Umdenken.

Lernen muss intrinsisch sein, Herausforderungen bieten, die den Lernenden in die Lehr-Funktion ver-setzen, um selbstständig agieren zu können. Nicht pauken, sondern selbst denken und handeln sind Kern dieser Denkweise.

Ich irre, also lerne ich.

„Menschen, die sich rühmen, ihre Ansichten niemals zu wechseln, sind Toren, die an ihre Unfehlbarkeit glauben.“ (Balzac)

Bewertung vom 19.05.2023
Die Welt verdient keinen Weltuntergang
Hamm, Peter

Die Welt verdient keinen Weltuntergang


ausgezeichnet

Peter Hamm stand nie in der ersten Reihe bekannter Kritiker. Er wollte sogar nie ein Literaturkritiker sein, die Bezeichnung Großkritiker stammt gleichwohl von ihm (aus dem Buch "Kritik - von wem, für wen, wie?") wohl als Pfeil gegen allzu laute Töne des damit Adressierten abgeschossen. Reich-Ranicki hat dann mit scharfem Geschütz zurückgeschossen, das Gedicht "Niederlegen" des Lyrikers Peter Hamm hatte für ihn nun überhaupt nichts.

Umso wohltuender und besser sind die Kommentare und Einordnungen von Peter Hamm in dieser von Michael Krüger zusammengestellten Anthologie.

In diesem Band von Aufsätzen und Kritiken ist insbesondere der erste Artikel: "Goethe's Nöte – Nöte mit Goethe" hervorzuheben, er zeigt, "wie Peter Hamm sich über Jahre hinweg mit dem Werk eines Autors auseinandergesetzt hat." (aus dem Nachwort von Michael Krüger).

Peter Hamm schreibt: "Die Widersprüchlichkeit Goethes entspricht genau seiner Größe." Bei ihm findet sich Negatives und Positives eng beisammen, vor allem eine Verachtung der Masse. "Zur Popularität gehört Eindeutigkeit, die Eindeutigkeit Schillers etwa." Goethe selbst sagte zu Eckermann: "Meine Sachen sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen." Trotzdem versuchte Eckermann ihn populär zu machen, was ihm in Teilen auch gelang.

Der Tod Goethes wurde 1832 fast nicht zur Kenntnis genommen, die führende deutsche Literaturzeitschrift, das "Stuttgarter Literaturblatt", in dessen Verlag Goethe's Bücher veröffentlicht wurden, brachte keine Meldung darüber. Damals war Schiller der Mann der Stunde, ihm wurde 1837 in Stuttgart ein Denkmal gesetzt, das ihn als Schriftsteller zeigt. 1849 blieb der 100 Jährige Geburtstag Goethes fast unbemerkt, während Deutschland beim 100-jährigen von Schiller in ein Begeisterungstaumel geriet. "Das sich emanzipierende deutsche Bürgertum verzieh Goethe den Höfling nicht, den Fürstendiener, sein Ausweichen vor der Politik und der Revolution."

Beethoven schrieb über Goethe: "Ihm behagt die Hofluft sehr, mehr als einem Dichter ziemt." Aber Goethe dachte nicht in solchen Kategorien, Polarität bedeutete ihm mehr als Parteinahme: "Mir scheint, dass sich alles gut verbindet, wenn man den Begriff der Polarität zum Leitfaden nimmt." Er schrieb dies zur Erläuterung der Farbenlehre und zielte damit auf die Einheit der Gegensätze wie von Hegel formuliert.

Ein schöner Satz von Goethe fasst das alles zusammen: "Willst Du ins Unendliche schreiten, geh im Endlichen nach allen Seiten." Peter Hamm ging ebenfalls nach allen Seiten, er analysierte fein und wog ab. Eindeutigkeit zeigte er aber auch, wenn ihm etwas nicht gefiel, vor allem zu Beginn seiner Tätigkeit. Später analysierte er stärker über die Zeitachse, übergreifender, die Einheit hinter den Gegensätzen greifen wollend.

Das Nachwort von Michael Krüger skizziert die Person Peter Hamm aus der Erinnerung und mit großer Empathie. Er beschreibt vor allem auch die Inhalte, die nicht mehr Platz fanden in diesem Buch, allen voran die Ausführungen über Musik, die bei Peter Hamm eine zentrale Stellung einnahmen. Darüber habe ich die Ballade von den Säckeschmeißern wiederentdeckt, ein zweifellos linkes Lied. Peter Hamm war links, zweifellos, aber seine Kritiken waren frei von seichtem Populismus, sie hatten andere Horizonte.

Bewertung vom 19.05.2023
Das Schaltbild
Engell, Lorenz

Das Schaltbild


ausgezeichnet

Ich musste mehrere Anläufe nehmen, um in dieses Buch zu kommen. Es ist herausfordernd geschrieben, auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau. Also stellte ich zunächst einige Fragen an den Autor - über Tante Google. Und siehe da, Professor Engell spricht mündlich klar und verständlich, ein sympathischer Mensch mit dem lustvollen Zwang, Dinge wirklich erklären zu wollen. Besonders das FAZ Interview auf der Buchmesse Frankfurt ist zu empfehlen. Zudem gibt es eine Vorlesungsreihe auf radiolotte, ganz hervorragend.

In diesem Buch wird die Philosophie des Fernsehens in seinem Bezug zur Welt und der menschlichen Existenz ergründet, seine Geschichte erzählt, um die Absichten und Beziehungen zwischen Absender und Empfänger zu deuten und zu verstehen. Um den häufigen Ansprache-Stil zu verdeutlichen, hier zwei Saetze von Seite 11: „Das Einschalten jedoch lässt das Gerät „zuhanden“ sein: Es ist handhabbar und mit uns verbunden. Es bindet uns jetzt in die Welt ein, sodass unser Dasein als ein „In-der-Welt-Sein“ hervortritt.“

Abstrahiert man von diesen Heidegger-Texten, die in sich durchaus gelungen sind, und konzentriert sich auf Zentrales (im Verbund mit dem FAZ Interview und radiolotte Vorlesungen) entfaltet das Buch erst seine Stärke.

Mir war z.B. nicht klar, dass Fernsehen zu Beginn immer live war, es zeichnete nichts auf, es war ein reines Übertragungsmedium und wurde sozusagen von einer Bühne gesendet, bei der es unterschiedliche Unter-Bühnen gab: z.B. drei Handlungsbühnen und eine Werbeecke, in denen live gesendet und zwischen diesen hin- und her geschaltet wurde.

Es war dies das Goldene Zeitalter des Fernsehens in den USA und reichte von ca. 1948 bis 1960. Damals wurde also auch Werbung live aufgeführt. Der Billy Wilder Film „Das verflixte siebte Jahr“ enthält eine Parodie auf diese Art der Reklame: Marylin Monroe nutzte darin ihren Zahnpasta Auftritt, um vor einem angeblichen Sex-Unhold zu warnen.

Aber man wollte dieses Live-Fernsehen aussehen lassen wie aufgezeichnet, alles war genau geprobt und musste 100% sitzen! „Die Zuschauer sollten denken, es handele sich eben um die Aufzeichnung eine eingespielten , in seinem Verlauf bereits feststehenden und prinzipiell so auch wiederholbaren Geschehens.“

Daneben gab es aber auch echte Live-Events, die als solche so angekündigt wurden. Man konnte also dabei sein, fern sehen, während irgendwo anders etwas geschieht, vor allem Sport-, aber auch Staatsakte, royale Hochzeiten und Konzerte etc. Das Fernsehen zeigt diese Veranstaltungen im Stil des „Instant Composing des Jazz“ (nach Umberto Ecco) mit einer Vielzahl von Perspektiven, der Zuschauer nimmt so strukturiert und kunstvoll in Szene gesetzt Teil an einer Welt-Erfahrung. „Sie ist ein gewisses Analogon zur Erschlosssenheit der Welt in Heideggers Daseinsanalyse.“

Wir schreiten mit diesem Buch durch die Möglichkeiten des Fernsehens, z.B. Serien, Instant Replay, All-Bild, Remote Control, Flow, Second Screens, Reality, History zu den Abschaltbildern. Tatsächlich macht es das Fernsehen dem Zuschauer schwer, wieder abzuschalten, schreibt Lorenz Engell. Mag sein, die Techniken dafür sind raffiniert. Und doch habe ich Fernsehen weitgehend ausgeblendet, oftmals ist es für uns nur noch ein Hintergrundrauschen zum Einschlafen und die Nachrichten oder den hundersten hochmoralisch aufgeladenen Krimi NICHT zu sehen, ist das beste Anti-Depressiva. Das schnellste Medium zu meiden, also das Fernsehen, lässt die innere Welt wieder auferstehen, jene, die man mit Büchern genießen kann.

Bewertung vom 18.05.2023
Radiozeiten
Krass, Stephan

Radiozeiten


ausgezeichnet

Der Rundfunk startete 1923 und wir sind mit diesem Buch live dabei, an verschiedenen Stationen & Entwicklungen dieses Mediums, dem ersten breit streuenden Kommunikations-Mittel.
„Das Radio versammelte Abwesende in einem imaginären Raum.“

Am 29.10.1923 meldete sich aus dem Himmel über Berlin eine Stimme: „Achtung, hier ist die Sende Stelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter .“ Die Stimme gehörte Friedrich Georg Knöpfke, der damit einen neuen Beruf aus der Taufe gehoben hatte, den Radiosprecher. Hinter dieser ersten Stunde stand die 1922 gegründete, privatwirtschaftliche „Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH“ mit dem Namen Deutsche Stunde.

Der Flug von Charles Lindbergh und der Absturz des Zeppelins Hindenburg waren erste Stationen des neuen Mediums, das begann Millionen von Menschen zu faszinieren, bevor Joseph Goebbels mit ihm neue, engere Wege ging.

Das Radio belehrt, unterhält und informiert, bis heute, für viele ein unverzichtbarer Teil ihres Alltags. Für mich begann nach 99 Jahren die zweite Revolution, mit dem Internet-Radio und einem Sender der sich Kontrafunk nennt. Ich kann diesen Sender inzwischen überall mit dem Mobilfunk hören, aber auch Podcasts und Dinge, die mich interessieren.

Stephan Krass hat mit diesem Buch spannende Episoden aufgefächert, die mir Radio noch näher brachten als es sowie schon war. Ganz hervorragend. Immer wieder wundert mich bis zum heutigen Tag, dass der Hörer immer noch kein gleichberechtigter Partner ist, der mitmachen, mitreden kann. Aber Influencer - Podcasts sind inzwischen möglich, jeder kann seine Sprache, Ideen und Einstellungen hinzufügen.

Bewertung vom 18.05.2023
Von anderer Hand
Barner, Ines

Von anderer Hand


ausgezeichnet

Wenig ist wirklich bekannt aus der Zusammenarbeit zwischen Autor und Lektor, also einem Mitarbeiter, besonders bei einem Verlag, der Manuskripte prüft und bearbeitet, Projekte vorschlägt und Kontakt mit Autoren aufnimmt bzw. unterhält.

Schreiben ist tatsächlich ein fortlaufender Revisionsprozess, „welcher darin besteht, die Nähe zum Geschriebenen immer wieder zu durchbrechen, indem die Position des Schreibenden mit derjenigen des Lesenden vertauscht wird.“

Der Lektor ist also die Simulation eines Lesers, ein Kritiker, der Autoren immer wieder auf ihre ureigene Klasse zurückbringt, auf seine eigentlichen Fähigkeiten. Weit mehr als ein Korrektor ist ein Lektor ein zuarbeitender, mit-helfender, korrigierende Kritiker, der um- und hinzuschreibt, ändert, mit-um-denkt und filtert.

Ich antizipiere Texte in ihrer Schreibweise rasch und be-merke bei Frau Barner einen hoch-abstrakten, aber höchst-interessanten Duktus, der mir sehr gefällt. Das Ganze entspricht literaturwissenschaftlichen Weihen, die ich von den Publikationen des Deutschen Literaturarchivs kenne. Man muss es nicht mögen, aber kann es bewundern. Und tatsächlich Nutzen daraus ziehen.

Besonders spannend für mich war das Kapitel 3. Anleiten, begradigen: Christian Morgenstern und Robert Walser überarbeiten Geschwister Tanner (1907). Morgenstern war Spürhund und Lektor beim Berliner Verlag Bruno Cassirer, der allerdings die Vorschläge bzw. neue Autoren nur zögerlich annahm. Morgenstern als ein Meister der kurzen Sätze bemängelte bei Robert Walser folgende Sünden: „das ohne Not Weitschweifige, das Saloppe des Satzbaus, die zur Trivialität führende Selbstgefälligkeit, die grammatikalische Unsicherheit, die Schiefe und mangelhafte Durchführung eines gewählten Bildes.“

Wer solche Lektoren hat, braucht wohl sonst keine Kritiker mehr. Wie weit darf er / sie gehen, das ist die Frage in diesem Buch und die Problemkreise, wie man Optimierungen möglichst nett und höflich einbauen kann.

Meister Morgenstern möchte Walser zu einer generellen Umkehr bewegen: „Im Augenblick des Hinschreibens mag man in einen Satz verliebt sein, hinterher aber muss diese „Affenliebe“ des Verfassers der anspruchsvollen und verwöhnten Strenge des Lesers weichen. Nicht nur aber sein erster und sein bester sondern auch sein unnachsichtigster Leser zu seine, halte ich für ein Grundprinzip jeder Schriftstellerei.“

Morgenstern selbst erkennt, dass seine Ausführungen pedantisch und magistral sind, aber doch ist es an ihm, den kritik-empfindlichen Walser zu erziehen, auch in der Nutzung korrekter Korrekturzeichen. Am nächsten Tag schreibt Morgenstern gleich noch etwas Lobhudelei hinterher, weil er fürchtet zu kritisch gewesen zu sein. Sie arrangieren sich und Geschwister Banner habe ich vor diesem Hintergrund gleich nochmals gelesen. Ein echtes Erlebnis.

Ebenso lehr- und kenntnisreich sind die anderen 3 Lektorats-Mitarbeiten: 1. bei Rainer M. Rilke (Lektor Fritz A Hünich für Duineser Elegien), 2. Peter Handke (Lektorin Elisabeth Büchers für Langsame Heimkehr) und 3. Marcel Beyer (Lektor Christian Döring für Flughunde).

Alles an diesem Buch ist gelungen, der Umschlag, der Rücken, der Rücken ohne Umschlag, die Kennzeichnung, farbliche Hintergründe, bei mir sehr wichtig in der Bibliothek, erkennbar, ich nehme es oft und gerne zur Hand, ein Lichtblick und textlich inhaltlicher Genuss. Vor allem auch für mich als Rezensent.