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Winfried Stanzick

Bewertungen

Insgesamt 2354 Bewertungen
Bewertung vom 22.03.2018
Am Ende der Reise
Docx, Edward

Am Ende der Reise


ausgezeichnet

Edward Docx, Am Ende der Reise, Kein & Aber 2017, ISBN 978-3- 0369-5765-4

Es ist eine Situation, in die man selbst niemals kommen möchte, die der britisch-russische Schriftsteller Edward Docx in seinem neuen Roman seinen Ich-Erzähler Lou schildern lässt. Er fährt zusammen mit seinem todkranken Vater Larry, seines Zeichens Literaturprofessor, der unter der unheilbaren Krankheit ALS leidet, die ihn bald bewegungsunfähig machen wird, in einem alten VW-Bus von England aus quer durch Europa nach Zürich, wo der Vater die lange von ihm geplante und vorbereitete Sterbehilfe bei Dignitas in Anspruch nehmen will.

Auch die Reise selbst hat der Vater minutiös vorbereitet und alle Stationen genauestens geplant. Orte, die er vor seinem Tod noch einmal sehen, Dinge, die er noch einmal machen möchte. Über eine lange Zeit hat Larry mit Lou Gespräche geführt, und es scheint zunächst so, dass der Sohn mit der Entscheidung seines Vaters einverstanden ist. Und irgendwann dazwischen wird ihm Folgendes klar: „Erstens: Der Tod macht die Liebe stärker. Das Unterbewusstsein (das weiß, dass es nicht ewig leben wird) nährt das Bewusstsein (das weiß, dass es im Moment noch am Leben ist). Zweitens: Im Leben geht es darum, seinen Frieden mit der beständig wachsenden Liste der erlittenen Verluste zu machen. Drittens: Intellektuelles Verständnis hat praktisch keinen Einfluss auf die Gefühle, die dabei mit im Spiel sind.“

Die Erfahrung machen mehr oder weniger auch die beiden Stiefbrüder von Lou, die im Laufe der Reise zu den beiden stoßen und sofort nicht nur in die immer nur angedeuteten Gespräche über das, was bevorsteht hineingezogen werden, sondern mit immer mehr innerfamiliären Befindlichkeiten und Erinnerungen sich konfrontiert sehen.

In zahlreichen Rückblenden lässt Docx nicht nur seine Figuren, sondern auf eine berührende Art auch seine Leser die Familiengeschichte der vier Protagonisten erleben, überraschend lustige Momente werden da beschrieben, die Fehler kommen zur schmerzhaften Sprache, die Versäumnisse werden spürbar. Und die tiefe Liebe, die alle füreinander empfinden. Und die Angst vor einer Entscheidung. Sie kommen schlussendlich ans „Ende der Reise“, nach Zürich. Welches Ende aber die Geschichte der vier nimmt, soll hier offen bleiben. Lesen Sie selbst diesen Roadtrip zwischen Weinen und Lachen, dieses gefühlvolle, witzige, hintergründige Buch voll wunderbarer Formulierungen mit einem Thema , das keinen Leser kalt lassen wird, weil er sich konfrontiert sieht mit der eigenen Endlichkeit.,

7 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.03.2018
Die Geschichte des verlorenen Kindes / Neapolitanische Saga Bd.4
Ferrante, Elena

Die Geschichte des verlorenen Kindes / Neapolitanische Saga Bd.4


ausgezeichnet

Elena Ferrante, Die Geschichte des verlorenen Kindes, Suhrkamp 2018, ISBN 978-3-518-42576-3

Der lange von einer immer größeren Fangemeinde erwartete Abschluss einer literarisch einzigartigen Tetralogie einer sich immer noch erfolgreich in der Anonymität haltenden italienischen Autorin liegt nun vor und ich nehme an, zehntausende von Lesern haben in den letzten Tagen so wie der Rezensent kaum etwas anderes getan, als die letzten 600 Seiten dieses monumentalen Werkes über eine absolut ungewöhnliche lebenslange Frauenfreundschaft zu verschlingen und zu erfahren, wie sich das im ersten Band als Grund für dieses Werk genannte plötzliche Verschwinden von Lila im Alter von 66 Jahren erklärt.

Zunächst blendet Elena Ferrante zurück in die Zeit Mitte der siebziger Jahre, als Elena, eine mittlerweile auch in anderen Ländern bekannte Schriftstellerin jeglichen Kontakt zu ihrer lebenslangen Freundin Lila vermeidet. Doch 1979 zieht sie, offiziell um authentischer schreiben zu können, wieder in den Rione in Neapel zurück und die alte Nähe zu Lila wird neu belebt. Die ist mittlerweile zusammen mit ihrem Partner eine erfolgreiche Unternehmerin geworden. Beide Freundinnen erfolgreich und reif geworden – das hätte normalerweise die Grundlage sein können für eine Abkehr von der jahrzehntealten Konkurrenz, die sie beide pflegen bis hin zur Grenze der Selbstzerstörung.

Mir ist gerade in diesem letzten vierten Band, der das Verhältnis der beiden Frauen und ihr jeweiliges unruhiges Leben von Mitte der siebziger Jahre bis hin zu ihrem Alter und Lilas mysteriösem Verschwinden beschreibt, nachdem sie unter ähnlich ungeklärten Umständen lange Zeit vorher ihre Tochter verlor (beide Freundinnen waren etwa zeitgleich von den Männern, die sie am meisten liebten, mit denen sie aber kein Glück finden konnten, schwanger geworden – Grund und Ursache für erneute Konkurrenz und permanente Vergleiche), nicht wirklich klar geworden, von wem diese lebenslange Feindschaft und Missgunst innerhalb einer stellenweise idealen Freundschaft tatsächlich ursächlich ausgegangen ist.

Die im vorliegenden abschließenden Band mehr als in den drei vorherigen sehr selbstkritische Einsicht und Lebensbilanz der ich-erzählenden Elena lässt vermuten, dass ihr eigener Anteil daran nicht gering zu schätzen ist. War man in den ersten Bänden noch relativ sicher, dass es sich bei den vier Romanen um so etwas wie eine Autobiographie handelt, halte ich es mittlerweile für denkbar, das Elena Ferrante, ihr Bekanntes und von ihr in Neapel und anderswo Erlebtes integrierend, die Handlung und die Personen der Tetralogie erfunden hat.

So oder so, die „Neapolitanische Saga“, wie sie nach dem ersten Band schon genannt wurde, ist eine der besten und literarisch beeindruckendsten Romanserien, die ich jemals gelesen habe. Ob das große Geheimnis um Lila gelüftet wird, soll hier an dieser Stelle offen bleiben. Bleiben Sie gespannt, auch auf ihr im Sommer 2018 erscheinendes Buch „Frantumiglia: Mein geschriebenes Leben“.

6 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.03.2018
Neues ABC-Buch
Moritz, Karl Philipp

Neues ABC-Buch


ausgezeichnet

Karl Philip Moritz, Neues ABC –Buch. Illustriert von Wolf Erlbruch, Kunstmann 2018, ISBN 978-3-95614-225-3


Lange war es nach seinem ersten Erscheinen im Jahr 2000 vergriffen, nun hat es der Antje Kunstmann Verlag wieder aufgelegt. Die vor langer Zeit Ende des 18. Jahrhunderts erschienene ABC-Fibel von Karl Philipp Moritz in der genialen Übertragung von Wolf Erlbruch, der auch mit den für ihn typischen Foto-Bild-Collagen, das für Erwachsene und Kinder geeignete Buch illustriert hat. Nach wie vor will dieses Buch zum Lesen und zum Schreiben anregen, und daneben grundsätzliche Fragen des Menschseins ansprechen.
Die Beschreibung wichtiger gesellschaftlicher, alltäglicher und moralischer Grundsätze und Erklärungen neben dem Jahres-Kreislauf der Natur, Arbeit, Leben und Tod, die Vergänglichkeit menschlicher und dinglicher Existenz, die Bedeutung von Verstand, Tugend, Genügsamkeit und Bildung werden eindrücklich durch kurze logische Texte nahegebracht.

Auf den letzten vier Seiten kann man erfahren, wer Karl Philipp Moritz war, welche Philosophie ihn bewegte. Und bei vielleicht gemeinsamen Lektüre von Erwachsenen und Kindern lernen beide miteinander, was den besonderen pädagogischen Wert dieser Einheit von Wort und Bild ausmacht: der permanente Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Menschen, die Aufforderung, sich der Natur anzupassen, sich gegenseitig zu helfen. Bescheidenheit und Demut, in unseren Tagen nahezu abhanden gekommene Qualitäten, hatten zu Moritz´ Zeit einen hohen Stellenwert.

An sie zu erinnern ist der Hauptsinn dieses preiswürdigen Buches.

7 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.03.2018
Judas
Oz, Amos

Judas


ausgezeichnet

Der neue Roman von Amos Oz ist, obwohl er seine Handlung unverdächtig in das Jahr 1959 verlegt hat, von hoher Aktualität und steckt voller Anspielungen auf die gegenwärtige Politik in Israel und den Zustand seiner zerrissenen Gesellschaft. Gleichzeitig ist es ein Liebesroman und eine theologisch spannende Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Verrats im Allgemeinen und mit der Figur Jesusjüngers Judas im Besonderen.

Wir befinden uns zu Beginn des Romans in Jerusalem, Ende 1959. Der junge Schmuel Asch ist an einen vorläufigen Tiefpunkt seines Lebens gekommen. Seine Verlobte hat ihn verlassen und einen anderen Mann geheiratet. Sein Vater ist in Konkurs gegangen und kann ihm sein Studium nicht mehr finanzieren. Und mit seiner Magisterarbeit über "Jesus in den Augen der Juden" steckt er auch fest - je tiefer er in die Materie eindringt, desto klarer wird ihm, dass zwei Jahrtausende völlig gereicht haben, zu diesem Thema alles zu sagen. Er beschließt alles, was er hat zu verkaufen und in die Wüste zu gehen. Er will dort bei einem Siedlungsprojekt als Hilfskraft arbeiten. Da entdeckt er am Schwarzen Brett der Universität ein Stellenangebot: Gesucht wird ein Gesprächspartner für einen gebildeten, gehbehinderten alten Mann; geboten wird etwas Geld sowie freie Kost und Logis.


Der alte Mann, er heißt Gerschom Wald, lebt nicht allein. Mit im Haus wohnt seine schöne Schwiegertochter Atalja, in die sich Schmuel schnell verliebt. Sie jedoch ist sehr zurückhaltend mi ihrer Zuneigung, genauso wie mit Informationen über ihre Geschichte und ihr Leben. Erst im langen Verlauf des Romans offenbaren sich die Geheimnisse ihrer Vergangenheit sowie der ihres Vaters. Er war einer der führenden Persönlichkeiten bei der Gründung des Staates Israel. Seine idealistischen Vorstellungen vom künftigen Zusammenleben von Juden und Arabern hatten zum Zerwürfnis mit denen geführt, die dann die Teilung Palästinas durchsetzten, z. B. David Ben Gurion und damit zum unrühmlichen Ende seiner politischen Karriere. Fortan galt er als Verräter.

Als Verräter gilt auch seit 2000 Jahren im ganzen christlichen Abendland der Jesusjünger Judas Ischarioth. Schmuel fragt sich im Rahmen seiner Forschungen immer wieder, wieso der wohlhabende Judas seinen Herrn für dreißig Silberlinge an die Römer ausliefert und er (respektive Amos Oz) entwickelt eine Theorie, die Judas und seine Motivationen in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Judas war wohl von Jesus als dem Messias so überzeugt, dass er mit der Verhaftung Jesus dazu bringen wollte, sich nun endlich zu offenbaren und sozusagen als glorreicher Retter vom Kreuz zu steigen. Und sein Selbstmord ist demnach nicht Ausdruck von Schuldgefühlen, sondern von endloser Enttäuschung über seinen theologischen Irrtum.

Lizzie Doron hat in ihrem etwa zeitgleich mit Oz` Buch „Judas“ in Deutschland erschienenem Roman „Who The Fuck Is Kafka“ die Überzeugung vertreten, dass die beiden verfeindeten Völker, wollen sie eine Chance haben zu überleben, das Unverständnis füreinander überwinden müssen. Gleichzeitig ist sie sich mit David Grossmann und vielen anderen einig, dass ohne die israelische Armee das Land schon längst nicht mehr existieren würde, und die Juden, wie es Nasser zuerst formulierte, von den Arabern ins Meer getrieben worden wären.
Amos Oz lässt den greisen Gerschom Wald, den er mit dem jungen Schmuel unzählige Gespräche über die Geschichte Israels führen lässt, im Jahr 1959 etwas sagen, was in der Gegenwart nach wie gültig ist:
„Die Wahrheit ist, dass alle Macht der Welt den Feind nicht in einen Freund verwandeln kann. Man kann den Feind zum Sklaven machen, aber nicht zu einem Liebenden. Mit aller Macht der Welt kann man einen Fanatiker nicht zu einem aufgeklärten Menschen machen. Und mit aller Macht der Welt kann man aus einem Rachedurstigen keinen Freund machen. Und genau da liegen die existentiellen Probleme des Staates Israel: einen Feind zum Liebenden zu machen

Bewertung vom 22.03.2018
Mercy Seat
Winthrop, Elizabeth Hartley

Mercy Seat


ausgezeichnet

Elizabeth H. Winthrop, Mercy Seat, C.H. Beck Verlag 2018, ISBN 978-3-40671904-2

Dem Lektorat des literarischen Teils des C.H. Becks Verlags ist wieder einmal eine wunderbare Entdeckung gelungen. Die 1979 geborene und mit ihrer Familie in Massachusetts lebende Schriftstellerin Elizabeth H. Winthrop ist hierzulande noch unbekannt. Nun hat C.H. Beck ihren dritten Roman „Mercy Seat“, der zeitgleich in den USA erscheint, von dem Schriftsteller Hansjörg Schertenleib, dessen letzten Romane bei Aufbau in Berlin erschienen sind, ins Deutsche übersetzen lassen, was ihm hervorragend gelungen ist.

Inspiriert von dem Song „Mercy Seat“ von Nick Cave & The Bad Seeds und einer wahren Begebenheit hat Elizabeth H. Winthrop eine Geschichte erzählt, die einen, hat man den Roman erst einmal begonnen, nicht mehr los lässt. Eine Geschichte von Rassismus und Unterdrückung, die dem Leser unter die Haut geht und ihn lange weiter beschäftigen wird.

Die Handlung spielt im Jahr 1943 in Louisiana. Ein junger Schwarzer namens Will ist in dem kleinen Ort St. Martinsville zum Tode verurteilt worden, weil er angeblich ein weißes Mädchen, die Tochter eines ortsansässigen Ladenbesitzers, vergewaltigt haben soll. Tatsächlich aber haben sich die beiden geliebt und das Mädchen hat sich aus Verzweiflung über die Verhaftung und Verurteilung von Will umgebracht.

Alle im Ort wissen ganz genau, dass das Todesurteil ein Skandal ist, doch Kritik gibt es nur hinter vorgehaltener Hand. Selbst der neu ernannte Staatsanwalt, der sich doch so viel vorgenommen hatte, um in einer von Rassismus und „white supremecy“ geprägten Gesellschaft für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, hat , obwohl er von Wills Unschuld überzeugt ist, das Urteil verlangt, weil eine Gruppe von Klan-Anhängern gedroht hat, seinen Sohn erneut zu entführen und dieses Mal zu töten.

Will selbst hat im Gefängnis sich mit seinem Schicksal abgefunden und aus großer Trauer und Schuldgefühlen seiner Freundin gegenüber in seinen bevorstehenden Tod eingewilligt. Der ist in Gestalt eines mobilen elektrischen Stuhls schon nach St. Martinsville unterwegs. Es sind die letzten Stunden, bevor um Mitternacht der elektrische Stuhl zum Einsatz kommen soll und Elizabeth H. Winthrop begleitet verschiedene Personen, die abwechselnd zu Wort kommen. Da ist neben Will und seinem Vater Frank, der auf dem Weg ins Gefängnis ist, um nach der Hinrichtung seinen Sohn mit einem richtigen Sarg, den er auf Kredit gekauft hat, zu beerdigen.

Da ist der verzweifelte und in seiner Berufsehre zerstörte Staatsanwalt, sein Sohn Gabe und seine Frau Polly, die ihm schwere Vorwürfe macht. Der an seinem Glauben zweifelnde Priester Hannigan, der Will über lange Zeit im Gefängnis seelsorgerlich betreut hat, und an seiner Aufgabe fast zerbricht. Der Tankwart Dale, und seine Frau Nell, die für Will eine letzte Mahlzeit kochen wird.

Feinfühlig erzählt die Autorin, wie die einzelnen Personen mit dem Urteil und ihrem jeweils eigenen Gewissen umgehen. Spannend entwickelt sie eine Handlung, bei der alles auf die entscheidende nächtliche Stunde der Hinrichtung zuläuft, die auf jeden von ihnen eine ganz besondere persönliche Anziehung ausübt. Natürlich versammelt sich vor dem Gefängnis auch der rechte rassistische Mob, doch die Menschen, die Winthrop zu Wort kommen lässt, sind Menschen, aus deren mutiger Haltung sich zwanzig Jahre später die schwarze Bürgerrechtsbewegung entwickeln wird.

Die Ereignisse überschlagen sich bis zu einem überraschenden Ende, das aber nur einen Aufschub gewährt. Das Buch lebt von seiner Multiperspektive, die Winthrop geschickt zu einem Gesamtbild zusammenfügt, das den Leser gefangen nimmt und ihn gleichermaßen empört.

Und zu der Erkenntnis bringt, dass sich im Wesentlichen in den USA nicht viel verändert hat, was den Rassismus betrifft. Es ist zu wünschen dass C.H. Beck weitere Romane dieser beeindruckenden Schriftstellerin verlegen wird.

7 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.02.2018
1968
Frei, Norbert

1968


ausgezeichnet

Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, DTV 2017, ISBN 978-3-423-34920-8

Unter den zahlreichen Büchern, die in diesem Frühjahr, 50 Jahre nach den Ereignissen von 1968, auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen, ragt das vorliegende Buch des renommierten Zeithistorikers Norbert Frei auf unterschiedliche Weise heraus. Zum einen ist es ein Buch, das geschrieben wurde von einem Geschichtswissenschaftler, der, 1955 geboren, an den damaligen Ereignissen nicht persönlich beteiligt war. Schon von daher hat er, anders als etwa Götz Aly, Peter Schneider, Gerd Koenen oder Wolfgang Kraushaar, die allesamt mit zum Teil umfangreichen Büchern ebenfalls in den letzten Wochen auf dem Buchmarkt erschienen sind, nicht das Problem, zu erklären, wie er aus heutiger Sicht bestimmte, nach 50 Jahren teilweise totalitär anmutende Erscheinungsformen der "Bewegung" sieht, und vor allen Dingen seine eigenen Reden und Haltungen damals zu rechtfertigen oder sich von ihnen zu distanzieren.

Zum anderen geht es Norbert Frei darum zu zeigen, dass es eine weltweite Entwicklung gewesen ist, die um das Jahr 1968 herum nicht nur jungen Menschen und vor allen Dingen nicht nur Studenten bewegte. Er beschreibt die Anfänge in den USA und widmet sich dann unter der Überschrift "Ein deutscher Sonderweg ?" der Entwicklung in Deutschland. In diesem Kapitel ist besonders der Abschnitt "Kinder der Verdrängung: Die Geburt einer Generation aus dem Geist der NS-Kritik" lesenswert, in der der ausgewiesene NS-Forscher Frei beschreibt, mit welchen aus heutiger Sicht teilweise abstrusen Thesen damals operiert wurde. Vor allen Dingen ist dieses Kapitel wichtig, wenn man sich mit den Thesen Götz Alys auseinandersetzen will, der in seinem Buch "Unser Kampf" geistige Verbindungen zwischen 1933 und 1968 zieht.

Weitere Kapitel befassen sich mit der Entwicklung des Protestes in anderen westlichen Ländern, wie Japan und den Niederlanden zum Beispiel und auch mit der Entwicklung im Osten. Denn schon hier werden die ersten Samenkörner gelegt für einen Prozess, der 1989 seinen nur vorläufigen Abschluss fand.

"1968 war nicht das Jahr, das alles verändert hat, dazu war bereits zu viel im Gang. Aber nach '68' war fast nichts mehr wie vorher. Und in diesem Sinne war '68' überall".

Mit diesen Sätzen beschließt der Autor ein Buch, das besonders den jungen Lesern empfohlen werden kann und allen, die an den fortgesetzten ideologischen Auseinandersetzungen und den Vorwürfen und Rechtfertigungen, die die anderen erwähnten Bücher doch teilweise dominieren, kein Interesse haben, sondern sich einfach informieren wollen, wie es dazu kam, dass sie so leben und so leben können wie sie es heute tun.
Ein sehr empfehlenswertes Geschichtsbuch, übersichtlich, leicht verständlich und dennoch mit einem ausführlichen weiterführenden Apparat ausgestattet. Hier liegt es, 10 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, in einer aktualisierten und erweiterten Neu

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.02.2018
Es war einmal eine Familie
Doron, Lizzie

Es war einmal eine Familie


ausgezeichnet

Lizzie Doron, Es war einmal eine Familie, DTV 2017, ISBN 978-3-423-14602-9

Wie schon in Lizzie Dorons dritten ins Deutsche übersetzten Roman "Der Anfang von etwas Schönem" handelt auch dieser vorliegende, in Israel schon 2002, also vor ihren bisherigen Büchern veröffentlichte Roman verfremdet von ihrer Kindheit im Tel Aviver Viertel Yad Elijahu, einem kleinen, aber geschlossen wirkenden Viertel, in das damals fast nur Überlebende der Konzentrationslager zogen.
Schon in ihrer autobiographischen Novelle "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" hat die 1953 geborene Lizzie Doron von Yad Elijahu erzählt, von ihrer prinzipienfesten Mutter, die über ihre Vergangenheit in den Lagern der Nazis wie so viele andere beharrlich schwieg. Doron hat erzählt von den Aufträgen und Botschaften der Mutter, die wollte, dass die Tochter ihr Leben ganz auf die Zukunft ausrichtet. Dass ihre Tochter sich womöglich für ein Leben im Kibbuz entscheiden könnte, war ihr ein schrecklicher Gedanke. Und doch kam es genauso.

Dorons Figuren sitzen in ihren Büchern allesamt wie in einer Falle. So wie sie sie schildert, versucht sie nachzuweisen, dass es keinen "richtigen" Umgang mit dem Gedenken an die Shoa und ihre Opfer geben kann.
Die zweite Generation, aufgewachsen im auch aggressiv vorgetragenen Schweigen ihrer Eltern, hat für ihr ganzes Leben wirksame Beschädigungen erlitten, weil sie ihr Leben nur verstehen können als Trost für die Eltern.

Lizzie Doron versucht mit ihren Büchern das Schweigen zu brechen. Es gibt niemand sonst, der in der Lage ist, die widerstrebenden Gefühle der Nachkommen der Überlebenden tiefer und schmerzhafter auszuloten. Man spürt der sensiblen und gelungenen Übersetzung Mirjam Presslers ab, welche unsagbare Anstrengung das Schreiben dieser Bücher für Lizzie Doron bedeutet.

Das vorliegende Buch muss sie wohl ganz besonders viel Kraft gekostet haben. Es ist der durch mit vielen Erinnerungen durchtränkte Bericht einer Schiwa, der einwöchigen Trauerzeit der Juden. Elisabeth, das Alter Ego von Lizzie Doron kommt Anfang der neunziger Jahre nach Yad Elijahu zurück. Helena, ihre Mutter, die wir aus den bisher veröffentlichten Bücher im Jüdischen Verlag gut kennen, ist gestorben. Sie hat mit vielen alten Überlebenden der Shoah bis zu ihrem Tod in diesem Viertel gelebt, aus dem die Jungen früher oder später alle weggezogen sind, weil sie die Alpträume ihrer Eltern hinter sich lassen, endlich ein normales Leben führen wollten.

Doch viele dieser Kinder, mit denen Elisabeth damals aufgewachsen ist, haben im Jom-Kippur-Krieg ihr Leben verloren. Elisabeth will ihrer Mutter die letzte Ehre erweisen, und bleibt sieben Tage in ihrem Elternhaus. Die beiden uns ebenfalls schon aus den anderen Büchern bekannten Schiwa-Expertinnen Sonia und Genia unterstützen sie dabei.

Viele Nachbarn und Bekannte kommen ins Haus und bringen nicht nur Trost mit für Elisabeth, sondern auch ihre Geschichten und Erinnerungen. Indem sie, zunächst etwas widerwillig, dann aber mehr und mehr sich fallen lassend in die tröstende Hülle einer Schiwa, all diesen Menschen zuhört und ihren bewegenden Geschichten lauscht, kehrt die lange für Elisabeth versunkene und verdrängte Welt ihrer Kindheit wieder zurück.

Nach dem Ende der einwöchigen Trauerzeit hat Elisabeth eine für ihr weiteres Leben sehr wichtige Erkenntnis: sie, die nie eine andere Verwandte hatte als ihre Mutter, ist doch nicht ohne eine Familie aufgewachsen. Dieses Viertel, das in den fünfziger und sechziger Jahren für unzählige Überlebende eine neue Wohnstatt wurde, in dem sie mehr oder weniger erfolgreich versuchten, sich ein neues Leben aufzubauen, dieses Viertel war einmal ihre Familie. Das wird ihr Kraft geben für ihr weiteres Leben ( und auch für Dorons Bücher).

Sonia spürt etwas davon, wenn sie mit jüdischem Witz am Ende des Buches sagt: "Die Schiwa war wirklich sehr gelungen, nur schade, dass Helena nicht dabei war."

3 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.02.2018
Tiere! / Wieso? Weshalb? Warum?
Weinhold, Angela

Tiere! / Wieso? Weshalb? Warum?


ausgezeichnet

Angela Weinhold, Wieso.Weshalb.Warum., Tiere, Ravensburger Verlag 2018, ISBN 978-3-473-32681-5


Dieses Buch aus der durchweg empfehlenswerten Sachbuchreihe Wieso? Weshalb? Warum? für Kinder von vier bis sieben Jahren aus dem Ravensburger Verlag gibt auf insgesamt acht Doppelseiten mit vielen Klappen, die Einblicke ermöglichen und Bewegungen und Abläufe veranschaulichen, eine Einführung in das Leben vieler unterschiedlicher Tiere, ihre Lebensräume, ihre Fortpflanzung, ihr Verhalten. Immer wieder werden lustige Fragen gestellt, wie zum Beispiel, ob ein Faultier wirklich faul ist, ob Tiere lügen können und warum ein Zebra gestreift ist.

Ohne dass es in einem der vielen informativen Texte an irgendeiner Stelle ausdrücklich erwähnt würde, vermitteln das Buch und seine wunderbaren Illustrationen einen Eindruck von der Schönheit der Schöpfung und seiner tierischen Bewohner. Es ist eine von Angela Weinhold getroffene Auswahl von Tieren und Lebensräumen (etwa das Riff oder die Tiefsee).
Ein Sachbilderbuch für Kinder zwischen vier und sieben Jahren, dem es sehr gut gelungen ist, die Vielfalt des Themas altersgerecht darzustellen, das mit vielen Klappen zum Entdecken und Weiterfragen einlädt.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.02.2018
Cartoons für die moralische Elite mit Bildung, Geld & gutem Geschmack
Mette, Til

Cartoons für die moralische Elite mit Bildung, Geld & gutem Geschmack


ausgezeichnet

Auf 128 Seiten und edel aufgemacht zeigen die hier vorliegenden "Aufzeichnungen für die moralische Elite mit Geld und gutem Geschmack" das Beste aus seinem Schaffen der letzten Jahre. In etlichen Ausstellungen in diesem Frühjahr, werden Teile dieser Werke überall im Land gezeigt.
Was bewegt uns aufgeklärte Menschen, was treibt uns an? Und wo entstehen dabei die komischen Momente? Darum geht es Til Mette, der sich schon lange als ein hervorragender Beobachter des Alltags zeigt. Ein Chronist, der lustvoll die peinlichen Momente aufsucht und beleuchtet, der das Abstruse im gut situierten Leben goutiert und es in witzigen bis nachdenklichen Cartoons zu Papier bringt. Dabei sind seine Pointen weder höhnisch noch zynisch, mit feiner Ironie bringt er seine Leserschaft dazu, über sich selbst zu lachen, wenn er ihnen den Spiegel vorhält.

Absolut witzig und auf hohem Niveau. Cartoons vom Allerbesten. Wahre Kunst.