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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 29.09.2021
2001
Lehner, Angela

2001


ausgezeichnet

Die 15-jährige Hauptschülerin Julia hat es nicht leicht. In der österreichischen Provinz hat sie nur ihre Freund:innen der "Crew", aber keine Perspektive. In einem Experiment im Geschichtsunterricht soll sie die UNO spielen. Doch während ihre Mitschüler:innen immer stärker in ihren Rollen aufgehen, bleibt Julia tatenlos - und gerät mehr und mehr ins Abseits.

"2001" von Angela Lehner ist ein außergewöhnlicher Coming-of-Age-Roman mit einer liebenswerten (Anti-)Heldin, die man so schnell nicht vergisst. Der Roman erzählt - eben im Jahr 2001 - von Julias letztem Jahr in der Schule und ganz nebenbei vom politischen Weltgeschehen dieses so unvergessenen Jahres. Doch im Vordergrund steht ganz klar Julias Entwicklung. Ihre zunächst so intensiven Freundschaften mit der "Crew", verbunden durch die gemeinsame Liebe zum Hip-Hop, zarte Liebesbemühungen auf der Suche nach dem ersten Freund oder auch die gegenseitige Unterstützung mit ihrem großen Bruder Michael - Angela Lehner konzentriert sich ganz auf die Perspektive ihrer jungen Erzählerin.

Dies ist zugleich Stärke und Schwäche des Romans, denn einerseits kommt man Julia dadurch als Leser:in sehr nah, andererseits sieht man eben nur das, was auch Julia sieht. Und das ist in einigen Momenten sehr wenig. Geschickt spielt die Autorin hier mit den Erwartungen der Leser:innen. Wird das Geschichts-Experiment ausarten wie einst "Die Welle"? Wie verhält sich Julia hinsichtlich des aufkommenden Rechtsradikalismus in ihrer Heimatstadt, dem Tal? Und was ist eigentlich mit ihren Eltern los?

Nach und nach werden diese Fragen beantwortet. Erstaunlich dabei ist, dass an einigen Stellen von "2001" sehr wenig passiert und ich mich trotzdem nie langweilte. Denn gerade diese Tatenlosigkeit Julias und ihre fehlende Perspektive werden zu den zentralen Themen der Geschichte.

Angela Lehner schaffte es, mich zum Weinen und zum Lachen zu bringen. Berührt schlug ich mich bedingungslos auf Julias Seite und hoffte ein ums andere Mal, es möge gut für sie ausgehen. Bei aller Ernsthaftigkeit und Tragik vergessen Lehner und Julia aber nie ihren Humor, der oftmals ein wenig melancholisch, aber immer ehrlich wirkt.

Zudem überzeugt "2001" mit seiner eindringlichen und authentischen Figurenzeichnung, auch in den Nebenfiguren. Nicht nur in den Rollen im Geschichtsunterricht, sondern vor allem im "wahren Leben" stimmt diese Mischung aus Langeweile, Planlosigkeit, einem derben jugendlichen Slang und einem großen Herzen.

So ist "2001" ein Roman, der lange nachwirkt und im Gedächtnis bleibt. Mit Traurigkeit und Humor, mit zahlreichen Überraschungen - und mit Julia, einer der bemerkenswertesten und liebenswertesten Figuren, die mir in diesem Literaturjahr begegnet sind.

Bewertung vom 24.09.2021
Wenn wir heimkehren
Heuser, Andrea

Wenn wir heimkehren


gut

Köln, 1952: Handwerker Willi soll in der Wohnung der etwa gleichaltrigen Margot und deren Sohn Fred eine Wand einziehen, um den beiden mehr Privatsphäre zu ermöglichen. Unverständlich für Willi, denn die Wand würde der Wohnung so viel Licht nehmen. Trotzdem strahlt Margot eine gewisse Magie aus, so dass sie Willi fortan nicht aus dem Kopf gehen mag. Ist das der Beginn einer großen Liebesgeschichte?

"Wenn wir heimkehren" von Andrea Heuser ist eine Mischung aus Familienroman, Generationenporträt und Liebesroman fast epischen Ausmaßes. Über 600 Seiten und mehr als 80 Jahre spannt sich die Handlung. Hervorzuheben ist die große Empathie, die Heuser ihren Figuren gegenüber zeigt. Mit viel Wärme und Liebe werden die drei Protagonist:innen Margot, Willi und Fred porträtiert und es gelingt der Autorin spielend leicht, die Leser:innen auf deren Seite zu ziehen. Vor allem der kleine Fred wuchs mir schnell ans Herz, doch auch die sich anbahnende Beziehung zwischen Margot und Willi ist berührend. Hoch anzurechnen ist Andrea Heuser, dass sie dabei nie zu sentimental wird und eine durchaus drohende Kitschgefahr souverän umgeht.

Auch der Aufbau der Geschichte hat mich durchaus überzeugt. Die Rückblicke, die sich von 1952 aus vor allem auf die Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs erstrecken, sind originell und ermöglichen ein besseres Verständnis der Figuren und ihrer Geheimnisse. Schön auch, wie Heuser verschiedene Sprachen einfließen lässt, vor allem in der luxemburgischen Familie Margots.

Leider hat mir jedoch der Schreibstil mit zunehmender Dauer des Romans immer weniger gefallen, streckenweise musste ich das Buch gar ein wenig entnervt zur Seite legen. Vor allem lag das an den Momenten, in denen "Wenn wir heimkehren" auch ein Generationenporträt sein will. Ständig werden Lieder der jeweiligen Zeit wie aus dem Nichts in den Text geworfen, die die Figuren mal mehr, mal weniger fröhlich mitsingen. Das störte nicht nur den Lesefluss, sondern wird auch viel zu häufig eingesetzt. Vollends kurios wird es, wenn ein Lied eingebunden wird, das überhaupt nicht aus dieser Zeit stammt. So singt die Familie 1982 im Auto das Lied "Lemon Tree" von Fool's Garden - aus dem Jahre 1995. Da hätte zumindest das Lektorat drüber stolpern können.

Neben der hohen Dialogdichte fand ich es außerdem ebenfalls enervierend, dass vorangegangene Zitate ständig wiederholt werden. Das mag bei einem so umfangreichen Roman manchmal sinnvoll sein, doch als so oft eingesetztes Stilmittel störte es mich und zog das ohnehin sehr dicke Buch doch arg in die Länge. Auch die häufig ausformulierten Laute wie "kling kling kling", "tock tock tock", "tuuuut tuuuut" hätte ich nicht benötigt.

Im kürzeren zweiten Teil des Romans verlor ich zudem die Bindung an die Figuren ein wenig. Der Grund dafür sind doch ziemlich große Zeitsprünge, bei denen man die Entwicklung der Charaktere aus den Augen verliert. Andererseits kann ich die Autorin natürlich verstehen, dass "Wenn wir heimkehren" nicht noch länger werden sollte. Tatsächlich hätte ich es am besten gefunden, wenn die Geschichte nach dem ersten Teil des Romans beendet worden wäre.

Ich habe es bedauert, den Roman nicht mehr gemocht zu haben, denn das Potenzial ist durchaus groß und die Hauptfiguren sind wirkliche Sympathieträger:innen. Schon wegen Fred, Margot und Willi und weil man in jedem Moment spürt, wie wichtig der Autorin diese autobiografische Geschichte ist, wünsche ich "Wenn wir heimkehren" trotz aller Kritik viele Leser:innen.

Bewertung vom 20.09.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Die Brüder Benjamin, Nils und Pierre kehren zum Sommerhaus ihrer Kindheit zurück, um den letzten Wunsch ihrer verstorbenen Mutter zu erfüllen. Ihre Asche soll dort verstreut werden. Doch die Zusammenkunft ist geprägt von Tränen und Gewalt. Was geschah vor gut 20 Jahren wirklich im Sommerhaus - und wie lässt sich damit leben?

"Die Überlebenden" ist der Debütroman des schwedischen Autors Alex Schulman. Es ist in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes Debüt. Aufregend und klug ist die Komposition des Textes. In abwechselnden Kapiteln berichtet Schulman über die Vergangenheit und die Gegenwart, wobei die gegenwärtigen Kapitel zeitlich rückwärts erzählt werden. Komplex und herausfordernd, aber sehr gelungen, denn so gelingt es Schulman, nach und nach ein Bild aus allen kleinen Puzzleteilen zusammenzusetzen, dessen Wahrheit den Leser:innen durch Mark und Bein geht.

Gleichzeitig entwickelt sich so beinahe ein zweigleisiger psychologischer Spannungsroman mit Cliffhangern, die erst klar werden, wenn man das nächste oder übernächste Kapitel gelesen hat.

Genauso stark sind die Worte, die Schulman findet. Insbesondere in den Kindheitsepisoden entfalten sie eine enorme Kraft, die mich sehr berührt hat und für eine permanente Gänsehaut sorgte. Ob es die Naturbeschreibungen sind oder insbesondere die Gefühle der Jungen, die permanent zwischen Liebe und Hass, zwischen Zusammenhalt und Ablehnung changieren - Schulman kreiert hier einen Höhepunkt der Coming-of-Age-Literatur und Szenen, die man schwer vergisst und in ihrer Melancholie ein wenig an Stephen Kings "Die Leiche" (Film: "Stand By Me") erinnern.

Auch die Figurenentwicklung überzeugte mich. Nicht nur die Brüder, auch die über weite Strecken versagenden Eltern sind fein und ambivalent gezeichnet. Wobei sich Schulman in erster Linie auf Protagonist Benjamin konzentriert und seine Empathie für diese Figur sich nahtlos auf mich übertrug. Nicht nur altersmäßig in der Mitte der Brüder, ist er es, der es sich zur Aufgabe macht, die Familie zusammenzuhalten. Und Benjamin ist es auch, der zwischen dem aufgeregt-aggressiven, vernachlässigten kleinen Pierre und dem desinteressiert-klugen großen Bruder Nils vermittelt.

Seine erste kleine Schwäche zeigt der Roman ausgerechnet im Finale mit einer völlig unerwarteten Wendung, die ein wenig plötzlich und überkonstruiert wirkt. Dennoch schmälerte diese für mich nicht die herausragende Gesamtqualität des Buches.

Für mich ist "Die Überlebenden" eines meiner Lesehighlights des Jahres - und ein sehr kluger und neuer Beitrag zur Coming-of-Age-Literatur.

Bewertung vom 20.09.2021
Liebe / Liebe
Pelny, Marlen

Liebe / Liebe


sehr gut

Als die zwölfjährige Sascha von ihren Eltern zum Großvater gefahren wird, ahnt sie noch nicht, dass sie dort ihre Heimat finden wird. Fernab vom sexuellen Missbrauch des Vaters und der lieb- und freudlosen Mutter lernt Sascha mit Charlie nicht nur eine Freundin kennen, sondern darf sich mit Rosa sogar erstmals in ihrem Leben einen Hund zulegen - eine folgenreiche Entscheidung, die den Zusammenhalt ihrer neuen Familie auf die Probe stellt...

"Liebe/Liebe" ist der Debütroman Marlen Pelnys, die bislang - so verrät es der Klappentext - vor allem für ihre Lyrik bekannt war. Und so lassen sich diese lyrischen Wurzeln auch nicht verhehlen. "Liebe/Liebe" ist trotz der Traurigkeit und Härte, die über weite Strecken den Roman dominieren, sehr poetisch geworden. "Der Zug rollte im selben Moment los wie meine Tränen", heißt es gleich im emotional so wuchtigen ersten Satz, später wird die Fahrt der Familie von einem Schatten begleitet, der "wie eine Regenwolke über unserem Auto schwebte." Es ist gerade die Sprache, die den Roman zu einer Besonderheit in der umfangreichen Coming-of-Age-Literatur macht. Denn Pelny, die sich ganz auf die Emotionen und Sicht ihrer jungen Heldin Sascha einlässt, gelingt es mit dieser Poesie, zu berühren und gleichzeitig aufzurütteln.

Es ist keine leichte Kost, die die Leser:innen von "Liebe/Liebe" erwartet, nicht umsonst enhält das Buch eine Triggerwarnung. Sexueller Kindesmissbrauch, Selbstverletzung - Marlen Pelny schont weder ihre Figuren noch die Leserschaft. Dennoch gelingt es ihr auch immer wieder, Momente der Zärtlichkeit in den Text einfließen zu lassen. Saschas Großvater, ihre Hündin Rosa und insbesondere die zarte Queerness, die der Roman im Verhältnis zwischen Sascha und Charlie entwickelt, sind nicht nur für die Protagonistin Balsam.

Während ich die Sprache Pelnys sehr genoss, konnte ich der Figurenentwicklung nicht immer folgen. So wird der Großvater vom Saulus zum Paulus, wobei ich nur erahnen konnte, wie es zu dieser 360-Grad-Drehung kam. Die Jugendjahre Saschas wurden mir zu schnell abgehandelt, da gerade die Pubertät des Mädchens sicherlich für weitere intensive Momente und auch für mehr Verständnis für die Figur gesorgt hätte. Zwischen Sascha und Charlie werden über Jahre Dinge verschwiegen, obwohl dieses Verhältnis ansonsten von großem Vertrauen geprägt ist. Und selbst Hündin Rosa entwickelt Charakterzüge, die ich unter keinen Umständen von ihr erwartet hatte...

Kleinere Wermutstropfen eines ansonsten intensiven und lesenswerten Romans, der es trotz aller Brutalität und Härte schafft, Hoffnung und Empathie zu erzeugen - für Sascha und Charlie, aber auch für alle anderen Kinder und Jugendliche, die sich in ähnlichen Situationen befinden. Unbequem, mutig und zärtlich!

Bewertung vom 15.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

In einer nicht näher benannten Zeit lebt der elfjährige Waisenjunge Martin in einem Dorf als Ausgestoßener. Die Menschen fürchten seine Klugheit mindestens genauso sehr wie seinen ewigen Begleiter: einen schwarzen Hahn. Erst als ein Maler das Dorf betritt, wittert der Junge die Möglichkeit, seine Heimat zu verlassen - und sich auf die Suche nach den verlorenen Kindern zu machen, die jedes Jahr von einem mysteriösen Reiter entführt werden...

"Junge mit schwarzem Hahn" ist der in jeder Hinsicht überraschende und aufregende Debütroman von Stefanie vor Schulte. In so kurzen wie poetischen Sätzen entführt uns die Autorin in eine dunkelromantische Welt voller skurriler Figuren, düsterer Vorboten und tyrannischer Herrscher. Während die Handlung in einer spannenden, doch recht klassischen Mischung aus Schauergeschichte, Dystopie und Märchen voranschreitet, ist es vor allem die Sprache, die das Besondere dieses Buches ausmacht. Mal schaurig-morbide, im nächsten Moment mit lakonischem Witz findet vor Schulte eine wirklich innovative Mischung, die wunderbar funktioniert. Dadurch entwickelt "Junge mit schwarzem Hahn" eine ganz eigene Atmosphäre, die ich so zuvor tatsächlich noch nicht kennengelernt hatte.

Ein "Frauenbaum", der Leichen an seinen Ästen trägt, eine unerträgliche kinderliebe (?) Gewaltherrscherin und nicht zuletzt - ein sprechender schwarzer Hahn, der Martin nicht von der Seite weicht und gleichzeitig seine Rettung und sein Verderben ist. Der Fantasie der Autorin sind keine Grenzen gesetzt und so fliegt die Lektüre dahin wie die Kraniche, die den Herbst ankündigen - und eine grauenvolle Zeit des Hungers.

Auch die Figuren sind der Autorin hervorragend gelungen. Einzig Martin, ein ganz und gar reines und liebevolles Kind, nimmt die klassische Heldenrolle ein. Doch auch die ambivalten Nebenfiguren sind bis ins Kleinste durchdacht und überraschend, wanken irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Ein Gaukler, der gleichzeitig Henker ist, repräsentiert die Beschaffenheit dieses Romans vielleicht am besten, denn genau wie diese Figur chargiert auch das Buch zwischen morbider Todesromantik und wahrlich komischen Momenten hin und her. Und auch ein "grässlicher Junge", der wie ein Engel singt und erstaunlich schnell altert, der mysteriöse reitende Kindesentführer und der Maler mit seiner Empathie für den Jungen machen in diesem bunten Potpourri die Stärke des Romans aus.

Einerseits wirkt "Junge mit schwarzem Hahn" ein wenig wie aus der Zeit gefallen, andererseits sehr modern, denn bei aller Vergangenheit und Vergänglichkeit lassen sich durchaus Parallelen zur Gegenwart erkennen. Der Umgang mit gesellschaftlichen Außenseitern, mit Gewaltherrschern, Kriege, Morde - blickt man in die Welt, so könnte man in irgendeinem Land vielleicht auch gerade einen Martin entdecken.

Stefanie vor Schulte schafft es, mit ihrem Debütroman ganz neue Akzente in der deutschsprachigen Literatur zu setzen. Ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Buch mit einem äußerst liebenswerten Protagonisten und einer schier unglaublicher Kreativität.

Bewertung vom 13.09.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


sehr gut

Im Glasgow der 1980er-Jahre wächst der kleine Shuggie Bain in einer Arbeitersiedlung auf, in die er nicht hineinpasst. Er hasst Fußball, liebt das Tanzen - und seine Mutter Agnes, die dem Alkohol verfallen ist. Mit unbändigem Willen versucht er, sie zu retten und scheitert doch immer wieder. Erst nach und nach wird ihm klar, dass offenbar alle Mühe umsonst ist...

"Shuggie Bain" ist der Debütroman von Douglas Stuart, der dafür im Jahr 2020 den Bookerpreis gewann. Es ist ein in allen Belangen unbequemer, stark autobiografisch geprägter Roman. Die Leser:innen begleiten Shuggie auf dem Weg zum Erwachsenwerden und müssen dabei einiges erdulden. Doch wie mag es erst dem kleinen Jungen dabei ergehen? Von den Kindern seiner Siedlung als "Schwuchtel" angefeindet, von der trinkenden Mutter vernachlässigt, vom abwesenden Vater ignoriert - Shuggie ist nahezu auf sich allein gestellt, würde es nicht noch seinen älteren Bruder Leek geben, der ihm zumindest zeitweise eine Stütze ist.

Dennoch liegt die Hauptlast beim kleinen Bruder. Shuggie macht es sich zur Lebensaufgabe, die Mutter vor dem Alkohol und allem Bösen zu retten und verliert dabei vor allem sich selbst und seine Kindheit. Es ist eine einseitige und schmerzhafte Liebe. Während der Junge alles investiert, ist Agnes nur in äußerst seltenen Momenten ein Rückhalt für ihn. Ansonsten liebt sie vor allem sich und den Alkohol und manchmal noch Männer, die sich jedoch allesamt als gnadenlose Enttäuschung für Agnes und die Leser:innen entpuppen.

Mit zunehmender Romandauer verlässt sich Stuart immer stärker auf die Perspektive des titelgebenden kleinen Helden. Während gerade zu Beginn Agnes doch sehr im Mittelpunkt steht, verlagert sich dieses Gewicht fast unmerklich in Richtung des Kindes. "Shuggie Bain" macht es einem nicht leicht, gemocht zu werden. Die Erwachsenenfiguren sind grausam, gemein und nahezu unerträglich. Die Kinder sind mit wenigen Ausnahmen kaum besser. Einzig Shuggie selbst bringt den Roman immer wieder zum Leuchten. Und ein paar vereinzelte komische Momente.

Dennoch herrscht über weite Strecken eine große Trostlosigkeit vor. Die Ereignisse, die Shuggie erlebt, sind dabei so schrecklich und traurig, dass ich mich von ihrer Fülle zeitweise fast erschlagen fühlte und sich dadurch eine gewisse Abstumpfung bei mir entwickelte. Ich haderte mit mir selbst, konnte diese "ergreifende Zärtlichkeit", die der Klappentext verspricht, gar nicht entdecken. Auch der - mit Sicherheit schwer zu übersetzende - schottische Arbeiterslang trug dazu bei, dessen Lektüre gerade zu Beginn des Buches doch eine ganz schöne Herausforderung ist. Zwischenzeitlich sehnte ich sogar das Ende des Romans herbei.

Nur um nach der letzten Seite des Buches eine plötzliche Leere zu spüren und eine Traurigkeit, die mir sagte, dass der gemeinsame Weg mit Shuggie nun tatsächlich beendet ist. Einen großen Anteil daran hatten die letzten beiden Teile des Romans, die voller bewegender Momente sind und einen Shuggie noch stärker ins Herz schließen lassen. Daran erkannte ich, dass Douglas Stuart doch nicht so viel falsch gemacht haben kann. Denn so unbequem, trostlos und schrecklich "Shuggie Bain" zwischenzeitlich ist - es ist ein Roman, den man genauso wenig vergisst wie die Figur Shuggie selbst.

Bewertung vom 06.09.2021
Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein
Matthiessen, Jakob

Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein


sehr gut

Mainz, 1096: Während Rabbi Chaim und Domdekan Raimund trotz aller Glaubensunterschiede freundschaftlich miteinander verbunden sind, droht von außen eine große Gefahr für die Mainzer Juden. Vor den Toren der Stadt stehen die Kreuzfahrer, angeführt von Emicho von Flonheim und dem charismatischen Priester Rotkutte. Ihr Ziel: die Auslöschung des jüdischen Glaubens. Nach dem gewaltsamen Eindringen in die Stadt scheint sich für die bedrohte jüdische Minderheit nur noch eine Frage zu stellen: Tod oder Taufe?

"Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein" ist der Debütroman von Jakob Matthiessen. Es ist ein historischer Roman fast epischen Ausmaßes, deren Handlung sich auf etwa 600 Seiten erstreckt. Die eigentliche Handlung untermalt der Autor mit einem bemerkenswert ausführlichen und informativen Nachwort, nach dessen Lektüre man nicht nur die Motive der einzelnen Figuren und die historischen Hintergründe besser versteht, sondern auch die persönlichen Beweggründe des Autors wunderbar nachvollziehen kann.

Ohnehin wirkt "Tod oder Taufe" nicht wie ein Debütroman. Matthiessen schreibt federleicht und doch mit großer Ernsthaftigkeit. Man spürt auf jeder Seite die Empathie für seine Figuren, der Autor verurteilt deren zahlreiche Fehler nicht, sondern zeigt sich verständnisvoll. Ein Gefühl, das sich mit wenigen Ausnahmen auf mich übertrug. Besonders gut gelingt es ihm bei der Figur "Peter", einem Bauernjungen, der sich von Rotkutte blenden lässt und voller Euphorie an den Kreuzzügen teilnehmen möchte. Doch nach und nach werden Peters Zweifel immer größer, während die Gewaltbereitschaft der Kreuzfahrer ins Unermessliche wächst. Peter, irgendwo an der Grenze zwischen Kind und Jugendlichem, war die Figur, mit der ich von Beginn an mitfieberte, litt und mich freute, wenn ihr etwas gelang. Die anderen Protagonisten, Chaim und Raimund, entwickeln erst mit fortschreitender Romandauer eine ähnliche Tiefe und wuchsen mir dann aber mehr und mehr ans Herz.

Die erste Hälfte des Romans, die sich auf die vier Tage vor dem furchtbaren Überfall beschränkt, ist für mich der eindeutig stärkste Teil dieses Buches. Matthiessen bereichert die eigentliche Handlung immer wieder mit der Verwendung von Originalzitaten, die nie deplatziert wirken, sondern sich hervorragend in das Geschehen fügen. Das ist, auch sprachlich, ein Hochgenuss. Ganz nebenbei erhält man auf unterhaltsame und fundierte Weise zudem einen reichhaltigen Überblick über das jüdische Leben im Hochmittelalter mit all seinen Vorzügen und Nachteilen.

Leider kann die zweite Hälfte des Buches die hohe Qualität in meinen Augen nicht ganz halten. Das liegt vor allem daran, dass sich der eigentliche Tag des Pogroms und dessen Vorbereitungen auf fast 250 Seiten ausdehnen, die sich durchaus kürzer hätten gestalten lassen, ohne an Intensität zu verlieren. Fast quälend empfand ich in diesem Zusammenhang die wirklich drastische Darstellung der Gewalt, die ich in diesem Ausmaß nach der ersten Hälfte und dem Tonfall des Romans so nicht erwartet hätte. Da rollen Köpfe, bohren sich Pfeile in die Hinterköpfe von Jugendlichen und da wird - besonders grausam - eine Kindstötung äußerst detailliert beschrieben. Hier musste ich den Roman stellenweise beiseite legen und hätte mir gewünscht, dass der Autor stärker mit Andeutungen gearbeitet und das Grauen der Imagination seiner Leser:innen überlassen hätte.

Im letzten Kapitel kehrt der Autor glücklicherweise zur Erzählform der ersten Hälfte des Buches zurück und hinterließ so nicht nur bei mir ein Gefühl der Versöhnung, sondern kümmert sich auch darum, dass es seinen Hauptfiguren nicht allzu schlecht ergeht.

Insgesamt ist "Tod oder Taufe" ein wichtiges und authentisches Buch, das für die Leser:innen gleichermaßen berührend, spannend, unterhaltend und lehrreich sein sollte. Gerade für die zweite Hälfte benötigt man aber durchaus starke Nerven.

Bewertung vom 26.08.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Der 15-jährige Sam langweilt sich in seinen Sommerferien 1985 in der Kleinstadt Grady in Missouri - bis er die Möglichkeit erhält, für das vor der Schließung stehende Kino "Metropolis" zu arbeiten. Dort lernt er mit Cameron und Hightower nicht nur neue Freunde kennen, sondern auch Kirstie - und mit ihr die Liebe. Doch während die jugendlichen Abenteuer immer intensiver werden, kämpft Sams krebskranke Mutter zuhause um ihr Leben. Und so erlebt Sam einen Sommer, den er nie wieder vergessen wird...

Gleich im ersten Satz bereitet Benedict Wells in seinem neuen Roman "Hard Land" seine Leser:innen darauf vor, was sie erwartet: "In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb", heißt es dort aus Sicht des Ich-Erzählers Sam. Und auch wenn Wells später zugibt, sich dabei an "Salzwasser" von Charles Simmons orientiert zu haben, gibt es wohl kaum einen passenderen Einstieg in einen Roman, der die große Bandbreite der jugendlichen Gefühle auffährt - und ganz nebenbei auch noch berühmte erste Romansätze als Unterthema behandelt.

"Hard Land" kreiert eine Stimmung, die Protagonist Sam selbst wohl als "euphancholisch" - welch wunderbares Wort - bezeichnen würde. Da ist einerseits die Aufbruchstimmung Sams, der in diesem Sommer 1985 Schritt für Schritt erwachsen wird und bei dem durch seine neuen Freundschaften eine Euphorie entfacht wird, die sich auch auf die Leser:innen überträgt. Es überwiegen allerdings die melancholischen Momente. Etwa wenn die vier Hauptfiguren gemeinsam auf dem Dach des untergehenden Kinos sitzen und wissen, dass drei von ihnen schon bald Grady verlassen werden. Oder wenn Sam an seinem 16. Geburtstag drei ganz besondere Prüfungen bestehen muss.

In nahezu jedem Moment erkennt man die Liebe und Warmherzigkeit, die Benedict Wells seinen Figuren und auch der fiktiven Kleinstadt Grady zukommen lässt. Insbesondere Sam wächst den Leser:innen unmittelbar ans Herz. Man hofft, leidet, liebt und trauert mit ihm. Und auch dass "Hard Land" im Vergleich zu den von Wells im Nachwort gelobten Werken Joey Goebels ein ganzes Stück braver ausfällt, schadet der Qualität des Romans nicht. Im Gegenteil: Selten spürte ich beim Lesen eines Coming-of-Age-Romans diese allumfassende Wärme, die ganz ohne Zynismus auskommt.

Selbst die Zweifel, die ich vor dem Lesen hatte, ob ein deutschsprachiger Autor, der 1984 geboren wurde, wohl die Stimmung eines US-Nestes des Jahres 1985 einfangen kann - und warum der Roman in den USA und nicht in Deutschland spielt - verpufften ob der verblüffenden Nostalgie des Textes, der in seinen stärksten Momenten auch an Stephen Kings "Stand By Me" oder die wunderbare erste King-Verfilmung von "Es" erinnert.

So ist "Hard Land" ein Roman geworden, der mich mehrfach zum Lachen, doch genauso oft zum Weinen brachte. Eine Kunst, die Benedict Wells hier hervorragend beherrscht, und mich sehr berührt hat.

Bewertung vom 13.08.2021
Daddy
Cline, Emma

Daddy


sehr gut

2016 sorgte Emma Cline mit ihrem Debütroman "The Girls" auch in Deutschland für Aufsehen. Dass sie mit "Daddy" eine Sammlung von Erzählungen folgen lässt, ist eine mutige Entscheidung - die sich allerdings gelohnt hat. Sieben der zehn Storys sind in den vergangenen Jahren bereits in namhaften Magazinen wie dem "New Yorker" erschienen, doch den meisten deutschen Leser:innen vermutlich unbekannt.

Nicht umsonst heißt der Erzählband "Daddy", denn in den zehn "Storys", so der Untertitel des Verlags, spielen die Väter sehr oft eine zentrale Rolle. Nicht selten sind diese Väter von Ängsten geplagt: die Angst des übergriffigen Vaters vor der Vergangenheit, die Angst des gealterten Vaters vor der Bedeutungslosigkeit, die Angst des werdenden Vaters vor der Zukunft. Meisterlich beherrscht Emma Cline dabei das Spiel mit den Erwartungen und der Fantasie der Leser:innen. Vieles wird nur angedeutet, manchmal sogar nur zwischen den Zeilen. Längst hat sich der Leser sein Urteil gebildet, eine Figur vielleicht sogar schon verurteilt. Und selbst die Enden der Erzählungen sind häufig so offen, dass es einem selbst überlassen wird, die Geschichte im Kopf weiterzuspinnen.

Überrascht wird man durch feine Untertöne in den Dialogen und Beschreibungen, durch Figuren, deren Glück irgendwann verloren ging und die nun umso fester darum kämpfen, es zurückzuerobern: illusionslos und immer ein wenig an der Grenze zur Einsamkeit, manchmal sogar schon darüber hinweg.

Doch trotz der überwiegend traurigen Figuren gelingt es Emma Cline seltsamerweise nur manchmal, mich mit diesen zu berühren. Hervorheben möchte ich die Erzählungen "Sohn von Friedman" und "Marion", bei denen ich genau diesen Zugang zu den Charakteren fand und von denen gerade die letztgenannte mich auch atmosphärisch mitgerissen hat. Friedman, ein einsamer, gealterter Regisseur oder Produzent, dessen Sohn seinen ersten Film präsentiert, ist eine Figur, die mir naheging. Fast schon unsichtbar verschwindet er bei allen, die ihn umgeben, in der Bedeutungslosigkeit - tragisch. In "Marion" lernen wir ein elfjähriges Mädchen kennen, das sich in seiner Einsamkeit eine etwas ältere Freundin aussucht, die in einer Hippie-Kommune lebt - und scheitert, obwohl es sich so stark bemüht.

In einigen anderen Storys fehlte mir genau dieser Zugang zu den Figuren, sie blieben fremd und unnahbar, insbesondere wenn sie sich im Drogen- oder Alkoholrausch befanden.

Ein kleinerer Kritikpunkt, der nicht darüber hinwegtäuscht, dass es sich bei Emma Clines "Daddy" um eine lesenswerte Sammlung von Erzählungen handelt: überraschend, pointiert und mit viel Freiraum für die Fantasie der Leser:innen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.08.2021
Dresden
Göring, Michael

Dresden


sehr gut

Fabian ist 20, als er 1975 erstmals in die DDR reist, um die Brieffreundin seiner Tante und deren Familie in Dresden zu besuchen. Es entwickelt sich eine langjährige Freundschaft, in deren Verlauf Fabian merkt, wie sich die Hoffnungen und Wünsche der Familie Gersberger ändern. Und auch Fabian selbst verändert sich durch seine Erfahrungen in dieser Familie - und deren unerschütterlichen Zusammenhalt...

Von Michael Göring kannte ich bisher den wunderbaren Vorgängerroman "Hotel Dellbrück", und auch "Dresden - Roman einer Familie" hat mich überzeugt und berührt. Das Besondere ist vor allem die große Empathie, die der Autor seinen Figuren zukommen lässt. Ihre Ängste und Probleme nimmt er ernst, für ihre Fehler zeigt er Verständnis. Dadurch überträgt sich die familiäre Wärme des Romans fast zwangsläufig auf die Leser:innen. Zudem verurteilt er die DDR nicht, ist aber auch weit von einer "Ostalgie" entfernt.

In wechselnden Kapiteln begleitet man einerseits die Freundschaft Fabians zur Familie Gersberger in den Jahren 1975 bis 1989, während andererseits die Flucht Kais - des Sohns der Familie Gersberger - 1989 über die Prager Botschaft in den Westen geschildert wird. Diese Konstruktion gelingt Michael Göring sehr gut, sie sorgt für Abwechslung und spannende Momente. Gleichzeitig betrachtet man mit Faszination die Dialoge des Romans und Geschehnisse in der DDR, aus denen man fast beiläufig sehr viel Wissenswertes aus der finalen Phase des Staates erfährt. Gerade mit dem Wissen, dass einen Monat später die Mauer fallen sollte, erlebt man so fast ungläubig die Anstrengungen Kais auf seinem Weg in den Westen.

Die angesprochenen Dialoge sind dabei zugleich Stärke und Schwäche von "Dresden". Einerseits wirkt es ungemein authentisch, wenn sich die Figuren über ihre Nöte und Freuden austauschen, und lässt die Menschen zu Wort kommen, die diese Zeit wirklich miterlebt haben und oft ungehört bleiben. Auf der anderen Seite wird der Dialog als Stilmittel fast erschöpfend eingesetzt, so dass kaum Raum und Zeit für innere Monologe und Gedanken der Figuren bleiben.

Ein weiterer kleinerer Kritikpunkt ist die Schattierung der Charaktere. Zwar benötigt nicht jeder Roman einen klassischen (Anti-)Helden, doch bei "Dresden" hatte ich vor allem bei den Eltern Gersberger - Gabi und Ekki - das Gefühl, dass sie einfach zu gut sind, um wahr zu sein. Vielleicht ist das eine zynische oder abgeklärte Sicht, doch streckenweise fühlte ich mich durch die alles durchdringende Liebe der beiden ein wenig übersättigt.

Doch kann man das Michael Göring zum Vorwurf machen? Der Autor selbst hat seit mehr als 45 Jahren Freunde in Dresden, wie wir im Nachwort erfahren. Sollte er also eigene Erfahrungen dieser Freundschaft in die Romanhandlung eingeflossen haben lassen, so spürt man stark diese freundschaftlichen Gefühle - und die Liebe zu seinen Figuren.

Und letztlich ist diese Wärme, die der Roman von Beginn bis zum Ende ausströmt, auch das, was mich stark berührt hat. Der finale Kniff war da zwar keine große Überraschung mehr, ändert jedoch nichts an der Qualität dieses lesenswerten Buches. Michael Göring leistet mit ihm im Jahr, in dem wir auch dem Mauerbau vor 60 Jahren gedenken, einen wunderbaren Beitrag gegen das Vergessen, den ich dringend auch jüngeren Leser:innen empfehlen kann, die die DDR heutzutage vielleicht nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen.