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Christian1977
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Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2021
Das Gedächtnis des Baumes
Vallès, Tina

Das Gedächtnis des Baumes


ausgezeichnet

Der zehnjährige Jan ist sich unsicher: "Darf ich mich freuen?", fragt er die Eltern, als sie ihm erzählen, dass seine Großeltern künftig gemeinsam mit ihnen in ihrer Wohnung in Barcelona leben werden. Jan ist ein empathischer, feinfühliger kleiner Junge, der spürt, dass etwas Größeres hinter diesem Umzug stecken muss. Nach und nach stellt sich heraus: Großvater Joan, dessen Verbundenheit zu seinem Enkel nur durch das "O" im Vornamen getrennt wird, leidet an Demenz. Wie geht ein Kind damit um, wenn es Schritt für Schritt einen geliebten Menschen verliert? Darüber schreibt Tina Vallès in ihrem kleinen Roman "Das Gedächtnis des Baumes".

Es ist ein in Form und Inhalt bemerkenswerter Roman geworden - und nicht überraschend, dass das katalanische Original mit dem "Anagram Award" ausgezeichnet und in acht Sprachen übersetzt wurde. Die deutsche Version verströmt in der Übersetzung von Ursula Bachhausen eine Wärme, der man sich schwer entziehen kann.

Zunächst einmal sollte man sich nicht durch den auf dem Cover etwas irritierenden Zusatz "Inspirierender Roman" verunsichern lassen, der mich zunächst an eine gewisse Esoterik glauben ließ. "Das Gedächtnis des Baumes" ist weit entfernt von irgendwelchen Engeln oder Lebensratgebern. Dennoch ist es ein Buch, das Trost spendet und Mut macht. Besonders Leser:innen, die Erfahrungen mit demenzkranken Verwandten oder Bekannten gemacht haben oder machen, werden sich von der Empathie der Figuren angesprochen fühlen.

Allen voran ist da der kleine Ich-Erzähler Jan, auf dessen Perspektive sich Tina Vallès voll und ganz einlässt und trotz vieler philosophischer und auch erwachsener Gedanken eben so erzählt, wie ein Kind vielleicht erzählen würde: in kurzen Miniaturen. Jeweils elf kleine Abschnitte bilden zusammen ein Kapitel, von denen der Roman zehn aufweist. Ein Abschnitt geht vielleicht über nur ein paar Zeilen, ein längerer mal über eine Seite hinaus. Eine ungewöhnliche Erzählform, für die ich anfangs eine gewisse Zeit brauchte, um mich im Buch zurechtzufinden und einen Lesefluss aufkommen zu lassen.

Doch je weiter der Roman - und die Krankheit des Großvaters - voranschreiten, desto intensiver empfand ich den Inhalt und die bisweilen poetische Sprache. Der Zusammenhalt der Familie, die gegenseitige Liebe und Wärme, insbesondere aber die wirklich tiefgründige und ernste Beziehung zwischen Jan und seinem Großvater machen "Das Gedächtnis des Baumes" zu einem unvergesslichen kleinen Juwel.

Überhaupt nimmt Vallès ihre Figuren so ernst wie sie es verdienen. Die Sorgen des Jungen, die Ängste des Großvaters (oder andersherum) - egal, wie groß oder klein sie sein mögen, die Autorin schenkt ihnen Beachtung und geht gut mit den Charakteren um.

Insbesondere die Bäume spielen in der Beziehung zwischen den Joans (einer mit, einer ohne "O") eine bewegende und große Rolle. Und so darf man als Leser:in Jan begleiten auf einem langen, schmerzhaften, aber auch tröstlichen Weg, um seinem Großvater endlich das Geheimnis der Trauerweide zu entlocken, die Joan immer und immer wieder erwähnt...

"Das Gedächtnis des Baumes" ist ein bewegender und äußerst lesenswerter Roman, der einmal mehr die Kreativität der katalanischen Literaturszene unter Beweis stellt. Er bleibt in meinem Gedächtnis.

Bewertung vom 06.10.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


gut

Südengland, 1989: Die beiden Außenseiter Redbone und Calvert haben das Ziel, am Ende des Sommers den perfekten Kreis zu erstellen. Was niemand weiß: Die Männer sind verantwortlich für das Phänomen der "Kornkreise", die damals weltweit für Aufsehen sorgten...

"Der perfekte Kreis" von Benjamin Myers ist ein knapper Roman, der sich in zehn Kapiteln mit der Arbeit der beiden Männer beschäftigt. Vor allem sprachlich überzeugt er, während er auf der Handlungsebene selbst mir zu langsam war, obwohl ich ein Freund des langsamen Erzählens bin.

Myers findet berührende und philosophische Metaphern, die Beschreibungen der Natur wirken zum Teil kontemplativ. Redbone und Calvert sind empathische Beobachter, ihnen geht es darum, die Natur zu wahren und auch keinen der Weizenhalme zu zerstören, die sie für ihre Kreise auf den Boden falten. Sie sind auf Suche nach der vollkommenen Schönheit, nach dem Höhepunkt ihres Schaffens.

Dennoch erfährt man über die Protagonisten zu wenig, um eine echte Bindung zu ihnen aufbauen zu können. Zwar unterhalten sich die beiden, während sie nachts in den Feldern unterwegs sind, doch der Funke wollte auf mich nicht überspringen.

Am gelungensten sind die Momente, in denen die Männer durch andere auftauchende Nebenfiguren gestört werden. Gemeinsam suchen sie in einer wirklich berührenden Szene nach dem vor 80 Jahren entlaufenen Hund einer demenzkranken Frau. In einer weiteren Situation verwechselt der Gutsbesitzer Redbone mit einem Feldarbeiter, was zu einem kuriosen und komischen Dialog führt.

Doch insgesamt stellte sich über weite Strecken eine gewisse Eintönigkeit ein, weil die Handlung eben sehr stark auf das Erstellen der Kornkreise beschränkt ist. Dabei hätten die Figuren durchaus Potenzial gehabt, stärker entwickelt zu werden. Und auch die Grundidee, über die Kornkreise einen philosophischen Roman zu schreiben, halte ich für wirklich gelungen.

Bewertung vom 02.10.2021
Die tristen Tage von Coney Island
Crane, Stephen

Die tristen Tage von Coney Island


ausgezeichnet

Der "Pendragon Verlag", der in diesem Jahr selbst sein 40-jähriges Bestehen feiert, gratuliert kurz vor dessen 150. Geburtstag einem Autoren, der in letzter Zeit wohl so etwas wie das Lieblingskind des Verlags geworden ist: Stephen Crane, dem "James Dean der amerikanischen Literatur", wie es im Klappentext heißt. Das Geschenk: "Die tristen Tage von Coney Island", ein Buch, das 13 der wichtigsten Erzählungen Cranes und ein informatives und lehrreiches Nachwort enthält. Ich gratuliere ebenfalls - zu einem wunderbaren Band, der dazu beiträgt, Crane unvergessen zu machen...

Cranes Roman "Die rote Tapferkeitsmedaille" und Andreas Kollenders literarische Verbeugung "Mr. Crane" sind letztes Jahr im Verlag mit dem liebenswerten kleinen Drachen bereits erschienen, nun hat Herausgeber Wolfgang Hochbruck 13 Geschichten des mit 28 Jahren viel zu früh verstorbenen Schriftstellers zusammengestellt.

Es ist eine bemerkenswerte Sammlung geworden. Insbesondere sprachlich brilliert Crane. In oftmals lakonischen Sätzen schafft er es dennoch, eine ganz eigene und besondere Atmosphäre heraufzubeschwören. Sehr oft arbeitet er mit Lichtern und Farben, mit Naturschauspielen und persönlichen Schicksalen und entfachte bei mir dadurch wohlige Schauder der Melancholie. Verlassene Jahrmarktattraktionen in der Titelgeschichte, die auch auf dem Buchcover sehr schön festgehalten werden, vom Mond beleuchtete unruhige Wellen, die schwer wogten "wie ein längst in der Erinnerung entschwundener Busen, in dem das junge, unschuldige Herz noch vor Wonne rast" (aus "Seefahrer wider Willen", S. 31) - solche eindringlichen und wunderbaren Sätze bekommt man heute leider nur noch selten zu lesen.

Zudem entpuppt sich Crane als ironischer Gesellschaftsbeobachter mit spitzer Zunge, der sich auch einmal über seine Figuren lustig macht. Menschen, die sich "selbst im Angesicht des unerwarteten Todes" an das klammern, "was ihnen besonders wichtig war" - dem Programmheft des brennenden Theaters im kurzen unkonventionellen "Gefesselt" (S. 56) sind genauso Opfer seines feinen Spotts wie ein frisch verheiratetes Paar in "Die Braut kommt nach Yellow Sky", das am Ende genau wegen seines zuvor belächelten Verhaltens zum großen Gewinner der Geschichte wird.

Wenn die Menschen sich nicht selbst richten und bedrohen, sind es vor allem die Elemente, die ihnen bei Crane zu schaffen machen. Insbesondere Feuer und Wasser entpuppen sich als schwer besiegbare Gegner, doch auch eiskalte Blizzards machen es den Figuren des Buches nicht leicht. Dabei hat man das Gefühl, dass Crane selbst immer auf der Seite der Schwachen und Kranken steht - was wohl auch auf dessen eigene Biografie zurückzuführen ist. Crane lebte zeitweise "auf der Straße unter Bettlern und Kriegsveteranen", erfahren wir vom Verlag.

Mit den oftmals überraschenden Schlusspointen hält Crane den Leser:innen nicht selten den Spiegel vor. Ich fühlte mich ertappt, das Opfer einer Geschichte selbst vorschnell verurteilt zu haben, bevor das Finale eine ganz neue Sichtweise auf den Mann hervorbringt. In der Titelgeschichte schmunzelte ich am Ende über mich selbst, da Crane hier nicht nur den Protagonisten, sondern auch die Leser:innen ein wenig vorführt.

Und auch wenn das Buch mit drei Kriegserzählungen endet, die an die Zeit Cranes als Kriegsberichterstatter erinnern und vielleicht nicht die stärksten des Bandes sind, bleibt unter dem Strich ein wunderbares Denkmal an einen Autoren, der nicht in Vergessenheit geraten darf. Crane und den Literaturliebhaber:innen ist zu wünschen, dass der "Pendragon Verlag" seine ehrenwerte Arbeit daran in den nächsten Jahren fortführt.

Meine persönlichen Favoriten eines insgesamt beeindruckenden Buches: "Die tristen Tage von Coney Island", "Männer im Sturm", "Das blaue Hotel" und "Das offene Boot".

Bewertung vom 29.09.2021
2001
Lehner, Angela

2001


ausgezeichnet

Die 15-jährige Hauptschülerin Julia hat es nicht leicht. In der österreichischen Provinz hat sie nur ihre Freund:innen der "Crew", aber keine Perspektive. In einem Experiment im Geschichtsunterricht soll sie die UNO spielen. Doch während ihre Mitschüler:innen immer stärker in ihren Rollen aufgehen, bleibt Julia tatenlos - und gerät mehr und mehr ins Abseits.

"2001" von Angela Lehner ist ein außergewöhnlicher Coming-of-Age-Roman mit einer liebenswerten (Anti-)Heldin, die man so schnell nicht vergisst. Der Roman erzählt - eben im Jahr 2001 - von Julias letztem Jahr in der Schule und ganz nebenbei vom politischen Weltgeschehen dieses so unvergessenen Jahres. Doch im Vordergrund steht ganz klar Julias Entwicklung. Ihre zunächst so intensiven Freundschaften mit der "Crew", verbunden durch die gemeinsame Liebe zum Hip-Hop, zarte Liebesbemühungen auf der Suche nach dem ersten Freund oder auch die gegenseitige Unterstützung mit ihrem großen Bruder Michael - Angela Lehner konzentriert sich ganz auf die Perspektive ihrer jungen Erzählerin.

Dies ist zugleich Stärke und Schwäche des Romans, denn einerseits kommt man Julia dadurch als Leser:in sehr nah, andererseits sieht man eben nur das, was auch Julia sieht. Und das ist in einigen Momenten sehr wenig. Geschickt spielt die Autorin hier mit den Erwartungen der Leser:innen. Wird das Geschichts-Experiment ausarten wie einst "Die Welle"? Wie verhält sich Julia hinsichtlich des aufkommenden Rechtsradikalismus in ihrer Heimatstadt, dem Tal? Und was ist eigentlich mit ihren Eltern los?

Nach und nach werden diese Fragen beantwortet. Erstaunlich dabei ist, dass an einigen Stellen von "2001" sehr wenig passiert und ich mich trotzdem nie langweilte. Denn gerade diese Tatenlosigkeit Julias und ihre fehlende Perspektive werden zu den zentralen Themen der Geschichte.

Angela Lehner schaffte es, mich zum Weinen und zum Lachen zu bringen. Berührt schlug ich mich bedingungslos auf Julias Seite und hoffte ein ums andere Mal, es möge gut für sie ausgehen. Bei aller Ernsthaftigkeit und Tragik vergessen Lehner und Julia aber nie ihren Humor, der oftmals ein wenig melancholisch, aber immer ehrlich wirkt.

Zudem überzeugt "2001" mit seiner eindringlichen und authentischen Figurenzeichnung, auch in den Nebenfiguren. Nicht nur in den Rollen im Geschichtsunterricht, sondern vor allem im "wahren Leben" stimmt diese Mischung aus Langeweile, Planlosigkeit, einem derben jugendlichen Slang und einem großen Herzen.

So ist "2001" ein Roman, der lange nachwirkt und im Gedächtnis bleibt. Mit Traurigkeit und Humor, mit zahlreichen Überraschungen - und mit Julia, einer der bemerkenswertesten und liebenswertesten Figuren, die mir in diesem Literaturjahr begegnet sind.

Bewertung vom 24.09.2021
Wenn wir heimkehren
Heuser, Andrea

Wenn wir heimkehren


gut

Köln, 1952: Handwerker Willi soll in der Wohnung der etwa gleichaltrigen Margot und deren Sohn Fred eine Wand einziehen, um den beiden mehr Privatsphäre zu ermöglichen. Unverständlich für Willi, denn die Wand würde der Wohnung so viel Licht nehmen. Trotzdem strahlt Margot eine gewisse Magie aus, so dass sie Willi fortan nicht aus dem Kopf gehen mag. Ist das der Beginn einer großen Liebesgeschichte?

"Wenn wir heimkehren" von Andrea Heuser ist eine Mischung aus Familienroman, Generationenporträt und Liebesroman fast epischen Ausmaßes. Über 600 Seiten und mehr als 80 Jahre spannt sich die Handlung. Hervorzuheben ist die große Empathie, die Heuser ihren Figuren gegenüber zeigt. Mit viel Wärme und Liebe werden die drei Protagonist:innen Margot, Willi und Fred porträtiert und es gelingt der Autorin spielend leicht, die Leser:innen auf deren Seite zu ziehen. Vor allem der kleine Fred wuchs mir schnell ans Herz, doch auch die sich anbahnende Beziehung zwischen Margot und Willi ist berührend. Hoch anzurechnen ist Andrea Heuser, dass sie dabei nie zu sentimental wird und eine durchaus drohende Kitschgefahr souverän umgeht.

Auch der Aufbau der Geschichte hat mich durchaus überzeugt. Die Rückblicke, die sich von 1952 aus vor allem auf die Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs erstrecken, sind originell und ermöglichen ein besseres Verständnis der Figuren und ihrer Geheimnisse. Schön auch, wie Heuser verschiedene Sprachen einfließen lässt, vor allem in der luxemburgischen Familie Margots.

Leider hat mir jedoch der Schreibstil mit zunehmender Dauer des Romans immer weniger gefallen, streckenweise musste ich das Buch gar ein wenig entnervt zur Seite legen. Vor allem lag das an den Momenten, in denen "Wenn wir heimkehren" auch ein Generationenporträt sein will. Ständig werden Lieder der jeweiligen Zeit wie aus dem Nichts in den Text geworfen, die die Figuren mal mehr, mal weniger fröhlich mitsingen. Das störte nicht nur den Lesefluss, sondern wird auch viel zu häufig eingesetzt. Vollends kurios wird es, wenn ein Lied eingebunden wird, das überhaupt nicht aus dieser Zeit stammt. So singt die Familie 1982 im Auto das Lied "Lemon Tree" von Fool's Garden - aus dem Jahre 1995. Da hätte zumindest das Lektorat drüber stolpern können.

Neben der hohen Dialogdichte fand ich es außerdem ebenfalls enervierend, dass vorangegangene Zitate ständig wiederholt werden. Das mag bei einem so umfangreichen Roman manchmal sinnvoll sein, doch als so oft eingesetztes Stilmittel störte es mich und zog das ohnehin sehr dicke Buch doch arg in die Länge. Auch die häufig ausformulierten Laute wie "kling kling kling", "tock tock tock", "tuuuut tuuuut" hätte ich nicht benötigt.

Im kürzeren zweiten Teil des Romans verlor ich zudem die Bindung an die Figuren ein wenig. Der Grund dafür sind doch ziemlich große Zeitsprünge, bei denen man die Entwicklung der Charaktere aus den Augen verliert. Andererseits kann ich die Autorin natürlich verstehen, dass "Wenn wir heimkehren" nicht noch länger werden sollte. Tatsächlich hätte ich es am besten gefunden, wenn die Geschichte nach dem ersten Teil des Romans beendet worden wäre.

Ich habe es bedauert, den Roman nicht mehr gemocht zu haben, denn das Potenzial ist durchaus groß und die Hauptfiguren sind wirkliche Sympathieträger:innen. Schon wegen Fred, Margot und Willi und weil man in jedem Moment spürt, wie wichtig der Autorin diese autobiografische Geschichte ist, wünsche ich "Wenn wir heimkehren" trotz aller Kritik viele Leser:innen.

Bewertung vom 20.09.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Die Brüder Benjamin, Nils und Pierre kehren zum Sommerhaus ihrer Kindheit zurück, um den letzten Wunsch ihrer verstorbenen Mutter zu erfüllen. Ihre Asche soll dort verstreut werden. Doch die Zusammenkunft ist geprägt von Tränen und Gewalt. Was geschah vor gut 20 Jahren wirklich im Sommerhaus - und wie lässt sich damit leben?

"Die Überlebenden" ist der Debütroman des schwedischen Autors Alex Schulman. Es ist in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes Debüt. Aufregend und klug ist die Komposition des Textes. In abwechselnden Kapiteln berichtet Schulman über die Vergangenheit und die Gegenwart, wobei die gegenwärtigen Kapitel zeitlich rückwärts erzählt werden. Komplex und herausfordernd, aber sehr gelungen, denn so gelingt es Schulman, nach und nach ein Bild aus allen kleinen Puzzleteilen zusammenzusetzen, dessen Wahrheit den Leser:innen durch Mark und Bein geht.

Gleichzeitig entwickelt sich so beinahe ein zweigleisiger psychologischer Spannungsroman mit Cliffhangern, die erst klar werden, wenn man das nächste oder übernächste Kapitel gelesen hat.

Genauso stark sind die Worte, die Schulman findet. Insbesondere in den Kindheitsepisoden entfalten sie eine enorme Kraft, die mich sehr berührt hat und für eine permanente Gänsehaut sorgte. Ob es die Naturbeschreibungen sind oder insbesondere die Gefühle der Jungen, die permanent zwischen Liebe und Hass, zwischen Zusammenhalt und Ablehnung changieren - Schulman kreiert hier einen Höhepunkt der Coming-of-Age-Literatur und Szenen, die man schwer vergisst und in ihrer Melancholie ein wenig an Stephen Kings "Die Leiche" (Film: "Stand By Me") erinnern.

Auch die Figurenentwicklung überzeugte mich. Nicht nur die Brüder, auch die über weite Strecken versagenden Eltern sind fein und ambivalent gezeichnet. Wobei sich Schulman in erster Linie auf Protagonist Benjamin konzentriert und seine Empathie für diese Figur sich nahtlos auf mich übertrug. Nicht nur altersmäßig in der Mitte der Brüder, ist er es, der es sich zur Aufgabe macht, die Familie zusammenzuhalten. Und Benjamin ist es auch, der zwischen dem aufgeregt-aggressiven, vernachlässigten kleinen Pierre und dem desinteressiert-klugen großen Bruder Nils vermittelt.

Seine erste kleine Schwäche zeigt der Roman ausgerechnet im Finale mit einer völlig unerwarteten Wendung, die ein wenig plötzlich und überkonstruiert wirkt. Dennoch schmälerte diese für mich nicht die herausragende Gesamtqualität des Buches.

Für mich ist "Die Überlebenden" eines meiner Lesehighlights des Jahres - und ein sehr kluger und neuer Beitrag zur Coming-of-Age-Literatur.

Bewertung vom 20.09.2021
Liebe / Liebe
Pelny, Marlen

Liebe / Liebe


sehr gut

Als die zwölfjährige Sascha von ihren Eltern zum Großvater gefahren wird, ahnt sie noch nicht, dass sie dort ihre Heimat finden wird. Fernab vom sexuellen Missbrauch des Vaters und der lieb- und freudlosen Mutter lernt Sascha mit Charlie nicht nur eine Freundin kennen, sondern darf sich mit Rosa sogar erstmals in ihrem Leben einen Hund zulegen - eine folgenreiche Entscheidung, die den Zusammenhalt ihrer neuen Familie auf die Probe stellt...

"Liebe/Liebe" ist der Debütroman Marlen Pelnys, die bislang - so verrät es der Klappentext - vor allem für ihre Lyrik bekannt war. Und so lassen sich diese lyrischen Wurzeln auch nicht verhehlen. "Liebe/Liebe" ist trotz der Traurigkeit und Härte, die über weite Strecken den Roman dominieren, sehr poetisch geworden. "Der Zug rollte im selben Moment los wie meine Tränen", heißt es gleich im emotional so wuchtigen ersten Satz, später wird die Fahrt der Familie von einem Schatten begleitet, der "wie eine Regenwolke über unserem Auto schwebte." Es ist gerade die Sprache, die den Roman zu einer Besonderheit in der umfangreichen Coming-of-Age-Literatur macht. Denn Pelny, die sich ganz auf die Emotionen und Sicht ihrer jungen Heldin Sascha einlässt, gelingt es mit dieser Poesie, zu berühren und gleichzeitig aufzurütteln.

Es ist keine leichte Kost, die die Leser:innen von "Liebe/Liebe" erwartet, nicht umsonst enhält das Buch eine Triggerwarnung. Sexueller Kindesmissbrauch, Selbstverletzung - Marlen Pelny schont weder ihre Figuren noch die Leserschaft. Dennoch gelingt es ihr auch immer wieder, Momente der Zärtlichkeit in den Text einfließen zu lassen. Saschas Großvater, ihre Hündin Rosa und insbesondere die zarte Queerness, die der Roman im Verhältnis zwischen Sascha und Charlie entwickelt, sind nicht nur für die Protagonistin Balsam.

Während ich die Sprache Pelnys sehr genoss, konnte ich der Figurenentwicklung nicht immer folgen. So wird der Großvater vom Saulus zum Paulus, wobei ich nur erahnen konnte, wie es zu dieser 360-Grad-Drehung kam. Die Jugendjahre Saschas wurden mir zu schnell abgehandelt, da gerade die Pubertät des Mädchens sicherlich für weitere intensive Momente und auch für mehr Verständnis für die Figur gesorgt hätte. Zwischen Sascha und Charlie werden über Jahre Dinge verschwiegen, obwohl dieses Verhältnis ansonsten von großem Vertrauen geprägt ist. Und selbst Hündin Rosa entwickelt Charakterzüge, die ich unter keinen Umständen von ihr erwartet hatte...

Kleinere Wermutstropfen eines ansonsten intensiven und lesenswerten Romans, der es trotz aller Brutalität und Härte schafft, Hoffnung und Empathie zu erzeugen - für Sascha und Charlie, aber auch für alle anderen Kinder und Jugendliche, die sich in ähnlichen Situationen befinden. Unbequem, mutig und zärtlich!

Bewertung vom 15.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

In einer nicht näher benannten Zeit lebt der elfjährige Waisenjunge Martin in einem Dorf als Ausgestoßener. Die Menschen fürchten seine Klugheit mindestens genauso sehr wie seinen ewigen Begleiter: einen schwarzen Hahn. Erst als ein Maler das Dorf betritt, wittert der Junge die Möglichkeit, seine Heimat zu verlassen - und sich auf die Suche nach den verlorenen Kindern zu machen, die jedes Jahr von einem mysteriösen Reiter entführt werden...

"Junge mit schwarzem Hahn" ist der in jeder Hinsicht überraschende und aufregende Debütroman von Stefanie vor Schulte. In so kurzen wie poetischen Sätzen entführt uns die Autorin in eine dunkelromantische Welt voller skurriler Figuren, düsterer Vorboten und tyrannischer Herrscher. Während die Handlung in einer spannenden, doch recht klassischen Mischung aus Schauergeschichte, Dystopie und Märchen voranschreitet, ist es vor allem die Sprache, die das Besondere dieses Buches ausmacht. Mal schaurig-morbide, im nächsten Moment mit lakonischem Witz findet vor Schulte eine wirklich innovative Mischung, die wunderbar funktioniert. Dadurch entwickelt "Junge mit schwarzem Hahn" eine ganz eigene Atmosphäre, die ich so zuvor tatsächlich noch nicht kennengelernt hatte.

Ein "Frauenbaum", der Leichen an seinen Ästen trägt, eine unerträgliche kinderliebe (?) Gewaltherrscherin und nicht zuletzt - ein sprechender schwarzer Hahn, der Martin nicht von der Seite weicht und gleichzeitig seine Rettung und sein Verderben ist. Der Fantasie der Autorin sind keine Grenzen gesetzt und so fliegt die Lektüre dahin wie die Kraniche, die den Herbst ankündigen - und eine grauenvolle Zeit des Hungers.

Auch die Figuren sind der Autorin hervorragend gelungen. Einzig Martin, ein ganz und gar reines und liebevolles Kind, nimmt die klassische Heldenrolle ein. Doch auch die ambivalten Nebenfiguren sind bis ins Kleinste durchdacht und überraschend, wanken irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Ein Gaukler, der gleichzeitig Henker ist, repräsentiert die Beschaffenheit dieses Romans vielleicht am besten, denn genau wie diese Figur chargiert auch das Buch zwischen morbider Todesromantik und wahrlich komischen Momenten hin und her. Und auch ein "grässlicher Junge", der wie ein Engel singt und erstaunlich schnell altert, der mysteriöse reitende Kindesentführer und der Maler mit seiner Empathie für den Jungen machen in diesem bunten Potpourri die Stärke des Romans aus.

Einerseits wirkt "Junge mit schwarzem Hahn" ein wenig wie aus der Zeit gefallen, andererseits sehr modern, denn bei aller Vergangenheit und Vergänglichkeit lassen sich durchaus Parallelen zur Gegenwart erkennen. Der Umgang mit gesellschaftlichen Außenseitern, mit Gewaltherrschern, Kriege, Morde - blickt man in die Welt, so könnte man in irgendeinem Land vielleicht auch gerade einen Martin entdecken.

Stefanie vor Schulte schafft es, mit ihrem Debütroman ganz neue Akzente in der deutschsprachigen Literatur zu setzen. Ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Buch mit einem äußerst liebenswerten Protagonisten und einer schier unglaublicher Kreativität.

Bewertung vom 13.09.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


sehr gut

Im Glasgow der 1980er-Jahre wächst der kleine Shuggie Bain in einer Arbeitersiedlung auf, in die er nicht hineinpasst. Er hasst Fußball, liebt das Tanzen - und seine Mutter Agnes, die dem Alkohol verfallen ist. Mit unbändigem Willen versucht er, sie zu retten und scheitert doch immer wieder. Erst nach und nach wird ihm klar, dass offenbar alle Mühe umsonst ist...

"Shuggie Bain" ist der Debütroman von Douglas Stuart, der dafür im Jahr 2020 den Bookerpreis gewann. Es ist ein in allen Belangen unbequemer, stark autobiografisch geprägter Roman. Die Leser:innen begleiten Shuggie auf dem Weg zum Erwachsenwerden und müssen dabei einiges erdulden. Doch wie mag es erst dem kleinen Jungen dabei ergehen? Von den Kindern seiner Siedlung als "Schwuchtel" angefeindet, von der trinkenden Mutter vernachlässigt, vom abwesenden Vater ignoriert - Shuggie ist nahezu auf sich allein gestellt, würde es nicht noch seinen älteren Bruder Leek geben, der ihm zumindest zeitweise eine Stütze ist.

Dennoch liegt die Hauptlast beim kleinen Bruder. Shuggie macht es sich zur Lebensaufgabe, die Mutter vor dem Alkohol und allem Bösen zu retten und verliert dabei vor allem sich selbst und seine Kindheit. Es ist eine einseitige und schmerzhafte Liebe. Während der Junge alles investiert, ist Agnes nur in äußerst seltenen Momenten ein Rückhalt für ihn. Ansonsten liebt sie vor allem sich und den Alkohol und manchmal noch Männer, die sich jedoch allesamt als gnadenlose Enttäuschung für Agnes und die Leser:innen entpuppen.

Mit zunehmender Romandauer verlässt sich Stuart immer stärker auf die Perspektive des titelgebenden kleinen Helden. Während gerade zu Beginn Agnes doch sehr im Mittelpunkt steht, verlagert sich dieses Gewicht fast unmerklich in Richtung des Kindes. "Shuggie Bain" macht es einem nicht leicht, gemocht zu werden. Die Erwachsenenfiguren sind grausam, gemein und nahezu unerträglich. Die Kinder sind mit wenigen Ausnahmen kaum besser. Einzig Shuggie selbst bringt den Roman immer wieder zum Leuchten. Und ein paar vereinzelte komische Momente.

Dennoch herrscht über weite Strecken eine große Trostlosigkeit vor. Die Ereignisse, die Shuggie erlebt, sind dabei so schrecklich und traurig, dass ich mich von ihrer Fülle zeitweise fast erschlagen fühlte und sich dadurch eine gewisse Abstumpfung bei mir entwickelte. Ich haderte mit mir selbst, konnte diese "ergreifende Zärtlichkeit", die der Klappentext verspricht, gar nicht entdecken. Auch der - mit Sicherheit schwer zu übersetzende - schottische Arbeiterslang trug dazu bei, dessen Lektüre gerade zu Beginn des Buches doch eine ganz schöne Herausforderung ist. Zwischenzeitlich sehnte ich sogar das Ende des Romans herbei.

Nur um nach der letzten Seite des Buches eine plötzliche Leere zu spüren und eine Traurigkeit, die mir sagte, dass der gemeinsame Weg mit Shuggie nun tatsächlich beendet ist. Einen großen Anteil daran hatten die letzten beiden Teile des Romans, die voller bewegender Momente sind und einen Shuggie noch stärker ins Herz schließen lassen. Daran erkannte ich, dass Douglas Stuart doch nicht so viel falsch gemacht haben kann. Denn so unbequem, trostlos und schrecklich "Shuggie Bain" zwischenzeitlich ist - es ist ein Roman, den man genauso wenig vergisst wie die Figur Shuggie selbst.

Bewertung vom 06.09.2021
Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein
Matthiessen, Jakob

Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein


sehr gut

Mainz, 1096: Während Rabbi Chaim und Domdekan Raimund trotz aller Glaubensunterschiede freundschaftlich miteinander verbunden sind, droht von außen eine große Gefahr für die Mainzer Juden. Vor den Toren der Stadt stehen die Kreuzfahrer, angeführt von Emicho von Flonheim und dem charismatischen Priester Rotkutte. Ihr Ziel: die Auslöschung des jüdischen Glaubens. Nach dem gewaltsamen Eindringen in die Stadt scheint sich für die bedrohte jüdische Minderheit nur noch eine Frage zu stellen: Tod oder Taufe?

"Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein" ist der Debütroman von Jakob Matthiessen. Es ist ein historischer Roman fast epischen Ausmaßes, deren Handlung sich auf etwa 600 Seiten erstreckt. Die eigentliche Handlung untermalt der Autor mit einem bemerkenswert ausführlichen und informativen Nachwort, nach dessen Lektüre man nicht nur die Motive der einzelnen Figuren und die historischen Hintergründe besser versteht, sondern auch die persönlichen Beweggründe des Autors wunderbar nachvollziehen kann.

Ohnehin wirkt "Tod oder Taufe" nicht wie ein Debütroman. Matthiessen schreibt federleicht und doch mit großer Ernsthaftigkeit. Man spürt auf jeder Seite die Empathie für seine Figuren, der Autor verurteilt deren zahlreiche Fehler nicht, sondern zeigt sich verständnisvoll. Ein Gefühl, das sich mit wenigen Ausnahmen auf mich übertrug. Besonders gut gelingt es ihm bei der Figur "Peter", einem Bauernjungen, der sich von Rotkutte blenden lässt und voller Euphorie an den Kreuzzügen teilnehmen möchte. Doch nach und nach werden Peters Zweifel immer größer, während die Gewaltbereitschaft der Kreuzfahrer ins Unermessliche wächst. Peter, irgendwo an der Grenze zwischen Kind und Jugendlichem, war die Figur, mit der ich von Beginn an mitfieberte, litt und mich freute, wenn ihr etwas gelang. Die anderen Protagonisten, Chaim und Raimund, entwickeln erst mit fortschreitender Romandauer eine ähnliche Tiefe und wuchsen mir dann aber mehr und mehr ans Herz.

Die erste Hälfte des Romans, die sich auf die vier Tage vor dem furchtbaren Überfall beschränkt, ist für mich der eindeutig stärkste Teil dieses Buches. Matthiessen bereichert die eigentliche Handlung immer wieder mit der Verwendung von Originalzitaten, die nie deplatziert wirken, sondern sich hervorragend in das Geschehen fügen. Das ist, auch sprachlich, ein Hochgenuss. Ganz nebenbei erhält man auf unterhaltsame und fundierte Weise zudem einen reichhaltigen Überblick über das jüdische Leben im Hochmittelalter mit all seinen Vorzügen und Nachteilen.

Leider kann die zweite Hälfte des Buches die hohe Qualität in meinen Augen nicht ganz halten. Das liegt vor allem daran, dass sich der eigentliche Tag des Pogroms und dessen Vorbereitungen auf fast 250 Seiten ausdehnen, die sich durchaus kürzer hätten gestalten lassen, ohne an Intensität zu verlieren. Fast quälend empfand ich in diesem Zusammenhang die wirklich drastische Darstellung der Gewalt, die ich in diesem Ausmaß nach der ersten Hälfte und dem Tonfall des Romans so nicht erwartet hätte. Da rollen Köpfe, bohren sich Pfeile in die Hinterköpfe von Jugendlichen und da wird - besonders grausam - eine Kindstötung äußerst detailliert beschrieben. Hier musste ich den Roman stellenweise beiseite legen und hätte mir gewünscht, dass der Autor stärker mit Andeutungen gearbeitet und das Grauen der Imagination seiner Leser:innen überlassen hätte.

Im letzten Kapitel kehrt der Autor glücklicherweise zur Erzählform der ersten Hälfte des Buches zurück und hinterließ so nicht nur bei mir ein Gefühl der Versöhnung, sondern kümmert sich auch darum, dass es seinen Hauptfiguren nicht allzu schlecht ergeht.

Insgesamt ist "Tod oder Taufe" ein wichtiges und authentisches Buch, das für die Leser:innen gleichermaßen berührend, spannend, unterhaltend und lehrreich sein sollte. Gerade für die zweite Hälfte benötigt man aber durchaus starke Nerven.