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Bewertungen

Insgesamt 160 Bewertungen
Bewertung vom 11.10.2019
Vergessen & verdrängt
Lux, Georg

Vergessen & verdrängt


ausgezeichnet

Morbide Reiseziele mit Gruselfaktor im Alpen-Adria-Raum

In „Vergessen & Verdrängt – Dark Places im Alpen-Adria-Raum“ erzählen Georg Lux (Autor) und Helmuth Weichselbaum (Fotograf) spannende Ort und vergessene Geschichten. Ich habe das Buch gelesen, weil mich verlassene und dunkle Orte faszinieren. Es ist darüber hinaus ein gelungener Reiseführer, der sich über vier Länder erstreckt: Österreich, Italien, Slowenien und Kroatien.

Schon beim ersten Durchblättern war ich begeistert. Die Bilder und Texte bilden eine tolle Einheit und obwohl das Buchformat nicht groß ist, kommen die Bilder sehr gut zur Geltung. Die Bilder müssten sich auch in einem größeren Bildbandformat überhaupt nicht verstecken, aber das ist natürlich eine Preisfrage für den Verlag und für die Käufer*innen. Die Geschichten zu den verschiedenen Orte werden spannend erzählt, und daran schließlich sich noch Reisetipps an. Die stellen Restaurants und Übernachtungen vor und weitere Ziele zu Dark-, Lost- und ganz normalen Orten, die ebenfalls eine Visite wert sind. In der Innenklappe gibt es eine Übersichtskarte der beschriebenen „Dark Places“.
Die Texte finde ich meist sehr gelungen. Ab und an schweift Lux etwas ab und manche Formulierungen waren mir etwas zu flapsig. Bei manchen Orten hätte ich mir gerne noch ein, zwei weitere Bilder gewünscht (nochmal: ich hätte Autor und Fotograf wirklich einen Bildband gegönnt), aber mein Lesevergnügen schmälerte das nicht.
Dazu waren die Orte viel zu erlesen und das Buch mit absurden wie unerwarteten Anekdoten und Tatsachen gespickt. Der Ausruf „Krass!“ trifft es für mich ganz gut. Nur zwei Beispiele erwähne ich, den Rest möchte ich die Leser*innen selbst entdecken lassen. Für den Fall, dass Österreich vom Ostblock überrannt worden wäre, hätte es atomare Sprengungen in Italien gegeben. Wie destruktiv Gedanken im (kalten) Krieg sein können. Auch das folgende Unglück ist eine Folge der menschlichen Beschränktheit respektive Selbstüberschätzung, so ganz kann ich das nicht unterscheiden. 1963 löste ein Erdrutsch aufgrund eines Planungsfehlers einen Tsunami an einem riesigen Stausee aus, bei dem fast 2.000 Menschen starben.
Sehr gut gelungen ist der Abschnitt über ein Konzentrationslager in einer früheren Reismühle. Auch, wenn die beiden Autoren ihr Buch selbst einen „Dark-Tourism-Guide“ nennen, ist das Kapitel pietätvoll und stellt das „No“ gegenüber jeder Form von Unterdrückung und Verfolgung in den Mittelpunkt.

Fazit
Schöne Reiseberichte über „Dunkle Plätze“ in vier Ländern. Wer morbide Geschichte(n) mag, dem empfehle ich „Vergessen & Verdrängt“ sehr gerne. 4,5 von 5 Sternen (aufgefunden auf 5).

Bewertung vom 10.10.2019
Verwende deine Jugend
Nieberding, Mareike

Verwende deine Jugend


ausgezeichnet

„Verwende deine Jugend“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr politische Beteiligung. Mareike Nieberding gibt Hoffnung, ohne den*die einzelne nicht aus der Verantwortung zu entlassen.

Macht kommt von machen!

Die Autorin und Journalistin Mareike Nieberding hat 2017 nach dem Schock der Trump-Wahl die überparteiliche Jugendbewegung DEMO gegründet, die ohne große formale Organisationen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen über Politik diskutiert. Aus dieser Erfahrung heraus betrachtet sie in ihrem Buch „Verwende deine Jugend“ die aktuellen politischen Entwicklungen, nimmt die „Fridays for Future“-Bewegung mit Begeisterung an und gibt den Leser*innen Tips mit auf den Weg, wie sie ihre Jugend „verwenden“ können. Für mich hört die nicht mit 25 oder 30 auf. Für Nieberding auch nicht, denn sie hat die 30 ebenfalls schon längst überschritten.

Eingebettet in ihr leidenschaftliches Plädoyer für mehr bürgerschaftliches oder politisches Engagement, räumt sie zunächst mit dem Trugbild auf, dass sich Jugendliche nicht für Politik interessieren würden. Sie zitiert Studien, gibt Gegenbeispiele und vergleicht das mit früheren Generationen. Ihr Befund: Junge Menschen interessieren sich zwar für politische Themen, aber halt wenig im klassischen Sinn der Parteien. An diesem Missverhältnis tragen Parteien allerdings einen nicht geringen Anteil. Erhellend dazu ist Nieberdings Interview mit dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert. Vieles mögen engagierte Menschen bereits an anderer Stelle bereits gelesen habe, durch die Bündelung der Fakten und die Leidenschaft der Autorin vermittelt „Verwende deine Jugend“ ein tolles Gefühl von Ermächtigung.

Nieberding gendert in ihrem Buch durchgängig (allerdings mit Binnen-I) und auch darüberhinaus findet sich in ihrem Buch viel Empowerment für Frauen und marginalisierte Gruppen. Und die Autorin positioniert sich klar gegen ein „Mit Rechten reden“, oder wie sie es nennt:
„Ich will nicht mit Rechten reden. Diese Gespräche führen ins Nichts, weil die GesprächspartnerInnen und ich nicht auf demselben demokratischen Fundament stehen. Aber ohne Fundament kann kein Bauwerk in die Höhe wachsen, auch nicht das Haus der Demokratie.“

Das Buch ist sehr aktuell. Die Zahlen über die Teilnehmer*innen bei den Fridays For Future-Demos in Deutschland setzt Nieberding mit bis zu 300.000 Menschen in über 1000 Städten an. Bei der großen Demo #AlleFürsKlima am 20. September 2019 gingen bereits 1,4 Millionen Teilnehmer für den Klimaschutz auf die Straße. Diese ganz aktuellen Stellen werden sich vermutlich in ein, zwei Jahren etwas überholt haben. Also lest das Buch bitte jetzt! Vieles wird aber auch dann noch genauso notwendig und wesentlich bleiben wie heute.

Es gibt übrigens auch einen Doku-Roman mit dem Titel „Verschwende deine Jugend“ (der mit dem gleichlautenden Film kaum etwas zu tun hat). Jürgen Teipel erzählt in Form von „Oral History“ über die Entstehung der frühen Punk- und New Wave-Bewegung. Was auch da sehr deutlich wurde: Wie kompromisslos junge Menschen sein können, wie sehr einzelne den Lauf der Geschichte verändern können, wie sehr selbst sogenannte Popkultur politische Auswirkungen haben kann. Dieser Spirit trifft auf „Verwende deine Jugend“ ebenso zu.

Fazit
Wenn man als politisch engagierter Mensch mal immer wieder den Glauben an die Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns verliert, liefert Nieberdings Buch einen Silberstreif am Horizont. Dafür vergebe ich sehr gerne 5 von 5 Sternen.

Ich möchte mit dem Zitat von James Baldwin schließen, dass Mareike Nieberding „Verwende deine Jugend“ voran stellt:
„Doch in unserer Zeit, wie in jeder Zeit, ist das Unmögliche das Mindeste, was man verlangen kann.“

Bewertung vom 09.10.2019
Hello Ruby
Liukas, Linda

Hello Ruby


ausgezeichnet

Was kann ein Roboter – und was nicht? Wunderschöne Illustrationen und kniffelige Aufgaben führen Kinder an künstliche Intelligenz heran.

Künstliche Intelligenz kunstvoll erzählt

So ein wundervolles Sachbuch hätte ich als Kind so gerne gehabt! Das dachte ich mir bereits beim ersten Durchblättern von „Hello Ruby – Wenn Roboter zur Schule gehen“ und das trifft nach der Lektüre nun extra zu. Kindern wird darin spielerisch das Thema Künstliche Intelligenz vermittelt. Die Autorin Linda Liukas, die als Programmiererin, Geschichtenerzählerin UND Illustratorin arbeitet, verknüpft ihre Texte und Erklärungen auf so wunderbare Weise mit einem künstlerischen Appeal, dass Naturwissenschaft und Kunst eine grandiose Einheit bilden.
Mit zwei weiblichen Protagonistinnen richtet sich das Buch in erster Line an Mädchen, die ja in den MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) leider oft noch sträflich vernachlässigt werden. Liukas macht aber nicht den entgegengesetzten Fehler, das Buch nun nur für Mädchen zu gendern, sondern das Buch kann genauso gut mit Jungs gelesen werden.

Das meint mein 7jähriger Sohn

Echt cool! Die Sachen im Buch sind zwar kompliziert, aber sie sind so erklärt, dass ich alles verstehe. Die Illustrationen gefallen mir total gut, weil ich da viel Spannendes entdecken kann.

Was Roboter in der Schule lernen kann

Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Zunächst führt eine kleine Geschichte in die Thematik ein. Ruby holt ihre Freundin Julia für den Schulweg ab. Weil dem Roboter langweilig ist, nehmen sie ihn kurzerhand mit, und er darf in der Schule lernen Auf den ersten Blick könnte die kleine Geschichte banal wirken, aber in den Texten und den wundervollen Illustrationen sind viele kleine Details eingewoben und so lassen sich bereits viele Aspekte von Programmierung und künstlicher Intelligenz entdecken. Oder warum malt der Roboter einfach auf Bänke und Stühle? Wir können „in den Kopf“ des Roboters schauen, was er alles berechnet und analysiert. Anhand der schiefen Köpfe der Kinder lässt sich ablesen, dass sie bei den komplexen Berechnungen des Roboters an der Tafel nicht die Bohne verstehen. Nach und nach finden sie heraus, was ein Roboter kann – und was nicht.

Spannende Aufgaben und Rätsel zu „KI“

Ein Arbeitsbuch nimmt als zweiter Teil gut die Hälfte des Buches ein. Die Autorin hat klar angelegt, dass die Kinder das Buch gemeinsam mit Erwachsenen entdecken sollen. Die Aufgaben sind witzig und verständlich aufbereitet. Manchmal muss man ums Eck denken. Ich kenne einige Erwachsene, die mit den Aufgaben überfordert wären, weil ihnen das Verständnis für mathematisch-technische Zusammenhängt total fehlt. Kinder lernen mit Ruby spielerisch solche Zusammenhänge, und wir hatten beim Durcharbeiten viel Spaß. Die Autorin hat „Ruby“ in erster Linie für 5- bis 7-jährige geschrieben. Ich denke, dass Kinder die gesamte Grundschulzeit tollen Input aus dem Buch bekommen können. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob 4.-Klässler dann noch die wunderbaren, liebevollen, aber doch recht kindlichen Illustrationen zu schätzen wissen. Mein Sohn (2. Klasse) fand sie auf alle Fälle ganz zauberhaft. Auf der Ruby-Homepage gibt es dann noch einige Arbeitsblätter und zusätzliche Spiele zum Ausdrucken.

Fazit

Wir sind begeistert. So ein wundervolles Sachbuch hätte ich als Kind haben wollen! Und mein Sohn hat nun eine ganze Menge mehr über Roboter und künstliche Intelligenz erfahren. Die weiteren Bücher von Linda Liukas aus der Ruby-Reihe sind bereits auf unsere Wunschliste gewandert („Programmier dir deine Welt“, „Expedition ins Internet“, „Eine Reise ins Innere des Computers“). Begeisterte 5 von 5 Sternen und eine klare Lese- und Kaufempfehlung.

Bewertung vom 09.10.2019
Max und der Sternenforscher
Wenz, Tanja

Max und der Sternenforscher


sehr gut

Durch die schimmernde Tür des Physiksaals landet Max bei Galileo Galilei. Schöne Zeitreise in die Geschichte der Physik für Kinder.

Im Dialog mit einem großen Wissenschaftler

Ach, warum ist uns diese Tür noch nie erschienen, hinter der Galileo Galilei auf uns wartet? Aber nun hatten wir mit „Max und der Sternforscher“ zumindest literarisch mit „Max und der Sternforscher“ die Chance dazu, diesen großen Forscher zu treffen, und mein Sohn und ich haben das Buch von Tanja Wenz sehr gern gelesen.
Empfohlen wird das Buch ab 10 und zum Selberlesen ist das sicherlich ein guter Richtwert. Mein Sohn ist jetzt 7,5 Jahre alt und total Astronomie-, Mathe- und Physik-begeistert. Daher hat das zum Vorlesen mit einigen Erklärungen, etwa zur Inquisition, auch schon sehr gut gepasst.
Die Autorin wählt für die Geschichte oft die Form des Dialogs. Und das ist ein schöner Bezug zu Galileis Werk, der u.a. „Dialogo“ so aufgebaut hat, jenes Buch, das fast 200 Jahre auf dem Index der katholischen Kirche gestand hat. In einem Dialog erklärt Galileo Max seine Fallgesetze und auch Max darf dem berühmten Wissenschaftler in ihren einige Hinweise für dessen Forschung geben. Als Leser*innen gibt es einen tollen Austausch mit den Gedanken der Protagonist*innen, die uns nicht nur Galileis Forschung, sondern auch die Zeit der Renaissance einführen. Meist sind wir in Max’ Kopf, aber wir springen immer mal wieder in die Köpfe der anderen Figuren.
Dazwischen gibt es spannende Szenen, z.B. wenn Max von der Bande der „bösen Jungs“ angegriffen wird. Der Spannungsaufbau und die Gestaltung der Geschichte hätte für mich aber etwas runder sein können, so erfahren wir erst von der Bande der „bösen Jungs“, als sie schon hinter Max her ist. Eine Vorahnung hätte die Stelle spannender gemacht Zudem fand ich es schade, dass wir neben Galileo Galilei keine anderen spannenden Zeitgenossen treffen, und für mich hätte es auch mehr Abenteuer sein können. Meinen Sohn hat das nicht gestört, er war gebannt von den physikalischen und historischen Zusammenhängen, von denen Tanja Wenz erzählt. Und auch ich habe das Buch wirklich gerne vorgelesen.
„Max und der Sternenforscher“ lebt von der Begeisterung der Autorin an Physik und Astronomie, die auf die*den Leser*in überspringt. Und obwohl das Buch einen Jungen als Hauptfigur hat, ist es ein wundervolles Plädoyer für Frauen in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Der Diversity-Aspekt ist mir persönlich ja immer sehr wichtig. Eine Zeittafel am Ende rundet das Buch ab. Und Glanzlichter gibt es schon auf dem Cover, denn dort finden sich einige fluoreszierenden Elemente, so dass ein Komet oder der große Wagen im Dunkeln leuchten.

Für diese schöne Zeitreise zu Galileo Galilei und in die Renaissance vergeben wir 4 von 5 Sternen. Mein Sohn will die Max' Geschichte auf alle Fälle nochmal lesen.

Bewertung vom 02.10.2019
Der Sprung
Lappert, Simone

Der Sprung


sehr gut

Nimmt ganz schön mit

„Der Sprung“ ging mir an vielen Stellen sehr nahe und hat mich richtig mitgenommen. Das ist eine große Leistungen dieses Buchs.
Aber genau deswegen stelle ich für das Buch diese Content Note voran.

CN / Content Note / Triggerwarnung: Suizid, Tod von Kindern, Beschreibung großer Höhe

Kunstvoll gebaut
Die Protagonist*innen werden selbst getriggert, das ist integraler Bestandteil dieses Buches. Manchmal musste ich den Roman weglegen, weil er mir so zu Herzen oder zu Nieren ging. Das war intensiv, und ich finde es toll, wie Simone Lappert das schafft.
Trotz dieser ernsten Thematiken erzeugt die Autorin in ihrer Sprache und Erzählweise immer wieder eine unglaubliche Leichtigkeit. Die Geschichte selbst wird zersplittert auf viele verschiedene, sehr unterschiedliche Protagonist*innen erzählt. Diese Leben sind verknüpft und auch die Vergangenheit dieser Protagonisten wirkt sich auf die Geschehnisse aus.
Der Plot ist wirklich sehr geschickt und kunstvoll gebaut und verwoben. Daher möchte ich zum Inhalt kaum etwas verraten, weil mich einiges doch sehr überrascht hat und ich dieses Lesevergnügen jedem*r selbst überlassen möchte.
Viele Stellen habe ich notierte, weil sie so schön und wahr sind, wie auch die Sätze des obdachlosen Poeten Henry, der seine Fragen an Passanten verkauft.
„Hast Du den Trotz in ihrem Gesicht gesehen, die Wut in ihrem ganzen Körper? Wer schreit und tobt, wünscht sich nicht, das Leben wäre vorbei. Er wünscht sich, es wäre anders.“
Es ist manchmal wundervoll, wie das Leben so spielt, und manchmal bitter und traurig. Nur kleine Handlungen können zu großem Leid oder zu großer Freude führen. Das erzählt dieser Roman.

Tolle Frauenfiguren
Sehr gut gefallen hat mir zudem die feministische Sicht, die sehr implizit in den Text verwoben ist. Die Männer sind eher die, die nicht zu Potte kommen, sich mit Egokämpfen oder anderem aufhalten. Die Frauen gehen fast alle in ganz unterschiedlicher Weise einen Schritt nach vorne. Und dann kritisiert „Der Sprung“ die Gesellschaft, das „Gaffertum“, die kapitalistischen Zyklen, die Feindseligkeiten gegenüber den Ausgestoßenen.

Zersplittert
Dass diese Geschichte zersplittert ist, macht sie aus. Aber manchmal war sie mir zu zersplittert. Oder manchmal wiederum ein Splitter zu viel, wenn ich mir dachte, ja, das habe ich jetzt schon verstanden. Manche Splitter hingegen fehlten mir. So gab es ein, zwei Protagonisten, bei denen ich bis zum Schluss überlegen musste, wer sie denn jetzt waren. Dass nicht alle Stränge auserwählt werden, macht eine solche Geschichte ebenfalls aus, dennoch fehlte mir hier das Gefühl eines Endes. Und an die zentrale Figur kam ich am allerwenigsten ran. Wieder das Teil des Konzepts, das ist mir bewusst, aber auch hier hatte ich das Gefühl des Bedauerns. So ließ mich das Buch etwas unbefriedigt zurück.
Ich muss gestehen, dass das Buch für mich vielleicht auch unter der großen Erwartungshaltung geächzt hat, weil ich schon mitbekommen habe, dass viele Leser*innen es so großartig fanden (ohne, dass ich Rezensionen gelesen hätte). Da fallen mir dann kleinere Schwächen deutlicher auf, eben weil ich Perfektion erwarte.

Fazit
In vieler Hinsicht ist „Der Sprung“ ein tolles Roman, der aber für mich von der Perfektion doch noch ein Stück entfernt ist. Für die tolle Sprache und die kluge Konstruktion gebe ich 4 von 5 Sternen. Von der Autorin werde ich sicherlich wieder etwas lesen.

Bewertung vom 01.10.2019
Hippocampus
Klemm, Gertraud

Hippocampus


ausgezeichnet

Mind-blowing! Löst ein Synapsen-Feuerwerk aus: Sprache, Stil, Inhalt, Figuren, gleichermaßen großartig. Mein Jahreshighlight!

Dieses Buch ist gewaltig, eine Erleuchtung, elektrisierend, poetisch, bissig, witzig, herb und dann wieder ganz zart. Ich bin so begeistert von „Hippocampus“, dass mir einerseits die Worte fehlen, ich andererseits übersprudeln möchte vor Lob. „Mind-blowing“, immer wieder habe ich dieses Wort im Kopf. Leider lässt es sich so schwer übersetzen, aber das Buch hat etwas mit meinem Kopf gemacht, ein Synapsen-Feuerwerk ausgelöst.
Am liebsten hätte ich andauernd einzelne Textstellen markiert, weil sie so klug und so toll geschrieben waren, aber dann zog mich Gertraud Klemms Sprache und ihre Geschichte auch schon wieder weiter.

Zärtlich, herb und politisch

Vom Inhalt möchte ich nicht viel verraten: Eine von der Öffentlichkeit längst vergessene, feministische Autorin stirbt. Und ihre Freundin Elvira macht sich daran, einen Teil des erlittenen Unrechts wieder gut zu machen. Das wird bei Elvira Aktionskunst.
„Zu viel Demokratie und zu viel Essen ist den nachfolgenden Generationen nicht gut bekommen. Die Satten sind zu satt und die Hungrigen zu hungrig für eine Revolution. Aber man kann es ihnen nicht übel nehmen, so ist das neoliberale Zeitalter. Wer kein Streber ist, fliegt gleich ganz raus. Es gibt keine Ränder mehr, an denen es sich ein wenig verweilen lässt, es gibt nur mehr gleich den Abgrund.“
Gertraud Klemm wird in ihrem Roman politisch, sie wird zärtlich, sie wird auch mal derb.
Zu letzterem hat die Autorin meiner Meinung nach auch alle Veranlassung: Ist es nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wie Frauen und als Frauen gesehene behandelt werden? Wie die alten weißen Männer sich seit Jahrhunderten und Jahrtausenden breit machen selbst die Moderne es nur zum Teil besser gemacht hat?
Seite um Seite habe ich dieses Buch mehr geliebt.

Vom Sinn

Jetzt bin ich längst noch nicht in Elviras Alter. Trotzdem merke ich, wie die 40 auf mich zueilen, und ich dabei frustriert feststelle, dass die Kämpfe, die ich längst schon für gewonnen glaubte, noch immer Thema sind. Schlimmer noch, manches entwickelt sich rückwärts. Und da kommt mir schon das Gefühl für den Sinn etwas abhanden.
Und genau da holt mich Gertraud Klemm mit „Hippocampus“ ab.
Gegen dieses Sinnlosigkeitsgefühl setzt Elvira ihre Installationen. Selbstverständlich bewegen diese sich am Rand der Legalität und teilweise weit darüber hinaus. Aber in den letzten Monaten (Trump, Brexit, Ulf Poschard) hatte ich zu oft das Gefühl, dass ich in die Tiefkante beißen – oder etwas anzünden muss (dabei bin ich Pazifistin). Und daher vergöttere ich Elvira und die Autorin Gertraud Klemm für ihren Mut und ihre Kompromisslosigkeit.
„Man muss einfach viel mehr rote Linien überschreiten, viel mehr Eigentum zerstören, viel mehr Gesetze brechen, um gehört zu werden.“
Bei diesem Buch sollte jedes Wort ganz bewusst belesen werden, bis zur allerletzten Zeile. Vergesst auf keinen Fall den Appendix. Dann diese letzten Zeilen läsen eine letzte, großartige Kopf-Explosion aus.

Fazit

Lest dieses Buch! Es ist wundervoll, witzig und bläst so viele großartige Gedanken in Deinen Kopf! Absolute Leseempfehlung! Jahreshighlight und selbstverständlich mindestens 1.000 Sterne.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.09.2019
Eine himmlische Katastrophe
Montasser, Thomas

Eine himmlische Katastrophe


sehr gut

Diese Nonnen rocken voll ab. Amüsante Wohlfühllektüre.

Eine moderne, junge Frau und drei betagte Nonnen, diese Mischung ergibt eine amüsante Wohlfühllektüre für ein paar vergnügte Stunden. Lou verschlägt es nicht freiwillig ins Kloster, das wird ihr als Bewährungsauflage aufgedrückt. Doch nach und nach wachsen ihr die Schwestern ans Herz, wie sie uns auch als Leser*innen ans Herz wachsen. Lou entdeckt das musikalische (Rock-)Talent der drei und fädelt so eine Musiktour für sie ein.

Autor Thomas Montasser erzählt mit einem ironischen, manchmal bewusst antiquierten Stil. Die Erzählhaltung ist auktorial und sorgte bei mir für viel Schmunzeln. Manchmal war mir das schließlich zu manieriert und dadurch kam ich nicht sehr nah an die Protagonist*innen heran. Generell müssen sich diese alle nicht groß mit Hindernissen herumschlagen, Lou gelingt die Tour-Organisation quasi mühelos. Genauso wie Widerstände fehlen weitgehend Entwicklungsbögen der Protagonist*innen. Trotzdem ich habe sie sehr gerne bei ihrer Reise begleitet und es sind tolle, charmante Frauenfiguren. Einen Pluspunkt bekommt „Eine himmlische Katastrophe“ von mir, weil Montasser immer wieder Plädoyers für ein friedliches Miteinander der Religionen und Kulturen einbaut. Und sein Roman setzt dieses Miteinander gleich sehr liebevoll selbst um.

„Eine himmlische Katastrophe“ bietet einen paar amüsante Wohlfühlstunden: Die 178 Seiten sind flott gelesen und lassen einen mit einem wohlig-warmen Gefühl zurück. Dafür gibt es von mir 4 von 4 Sternen.

Bewertung vom 21.09.2019
Manchmal kommt Glück in Gummistiefeln
Parr, Maria

Manchmal kommt Glück in Gummistiefeln


ausgezeichnet

Moderne Nostalgie

„Manchmal kommt Glück in Gummistiefeln“ und manchmal kommt es in Form eines Buches, in Form dieses Buchs von Maria Parr. Denn es hat meinen Sohn und mich völlig bezaubert. Wir haben herzlich gelacht, wir wurden traurig, wir haben um das Leben der Figuren gebangt, und wir haben wieder gekichert. Schließlich waren wir richtig traurig, als das Buch zu Ende war. Wir geben eine absolute Leseempfehlung!

Moderne Nostalgie
Maria Parr zeichnet die Kindheit von Trille und Lena in einem kleinen Dorf auf einer norwegischen Insel, oder eigentlich ein Dreiviertel Jahr dieser Kindheit. Die beiden fahren mit Trilles Opa zum Fischen, bringen den Ziegen Salzsteine und bauen ein eigenes Floß. Es ist die Kindheit, von der gesagt wird, dass es sie längst nicht mehr geben würde.
Ich denke, von daher kommt auch bei vielen Rezensent*innen der Vergleich mit Astrid Lindgren und der Begriff des Nostalgischen. Ich weiß, das ist als Kompliment gemeint, aber in gewisser Weise tut man der Autorin damit Unrecht. Denn zum einen baut Parr eine sehr eigene Geschichte (auch, wenn sie eine geniale Anleihe bei „Michel aus Lönneberga“ nimmt). Zum anderen verweigert sich Parr der modernen Zeit überhaupt nicht. In der Geschichte gibt es Handys und Arbeitsschutzgeräte, eine Expat-Familie kommt vor und Trille und Lena haben Musikunterricht und den Fußballverein (mehr Bürgerlichkeit geht ja kaum noch). Doch in dieser modernen Zeit zeigt sie, dass dieses unbeschwerte Aufwachsen der Kinder immer noch möglich ist.

Abenteuer im echten Leben
Trille und Lena streunen durch das Dorf und die Natur und erleben in dieser echten Welt sehr viele spannende, aber auch absurde und gefährliche Abenteuer. Die Einzelheiten will ich gar nicht erzählen, damit ich nicht die Überraschung verderbe. Nur eines, dass sich Lena im Englischunterricht den Arm bricht. Später erklärt sie es so:
„Wenn man sich lange genug langweilte, dann konnten die merkwürdigsten Dinge passieren, und die Englischstunden waren so langweilig, dass sie ihr schon seit einer ganzen Weile lebensgefährlich erschienen.“
Wir haben Tränen gelacht und zwar an vielen Stellen.
Dann gibt es einiges, was lustig beginnt, aber gefährlich wird. Ich fand es schon als Kinder immer gut, solche Abenteuer in Büchern erleben. Im echten Leben können die viel zu leicht schief gehen, Trille und Lena wachsen jedoch an diesen Abenteuern und in diesem Buch schwingt das Erwachsen-Werden immer mit. So kommt auch völlig kindgerecht die erste Schwärmerei vor und zwar wunderschön und mit Wehmut.
Wunderschön sind auch die Illustrationen von Barbara Korthues, die für kleine und große Momente der Geschichte wundervolle Bilder geschaffen hat.

Tolle (Mädchen-)Figuren
Lena ist eine sehr eigensinnige Figur, die genau weiß, was sie will. Manchmal geht sie mit dem Kopf durch die Wand und Trille tut ihr deswegen auch ab und an unrecht. Er braucht, aber schließlich sieht er es selbst ein. Diese Figuren haben eh Ecken und Kanten, die Erwachsenen sind mal schwach und mal merkwürdig, die Kinder auch. Letztendlich beweist Lena allen, dass Mädchen genauso gut sein können wie Jungs. Solch eine Figur hätte ich als Kind selber gerne häufiger lesen mögen.

Bei konzentriertem Vorlesen super szenisch möglich
Der Verlag empfiehlt das Buch ab 9 und das ist auch sehr passend. Meinem Sohn habe ich es jetzt mit 7,5 Jahren vorgelesen. „Manchmal kommt das Glück in Gummistiefeln“ ist sprachlich durchaus anspruchsvoll, das zeigt schon der Titel ein wenig. Der Satzbau von Christel Hildebrandts Übersetzung ist elegant und flüssig, aber nicht immer einfach zu lesen. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – konnte ich das Buch wundervoll szenisch vorlesen und ganz toll mit der Betonung und der Sprechgeschwindigkeit spielen.

Fazit
Wir waren richtig traurig, als wir die letzte Seite gelesen hatten. „Manchmal kommt das Glück in Gummistiefeln“ werden wir sicherlich noch öfter lesen. Wir geben eine absolute Lese- und Kaufempfehlung und