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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 158 Bewertungen
Bewertung vom 21.12.2022
Der Mondmann - Blutiges Eis
Haskin, Fynn

Der Mondmann - Blutiges Eis


ausgezeichnet

Gleich vorneweg: Cover und Klappentext lassen einen eher blutrünstigen Roman erwarten; wer also die Schilderung von Grausamkeiten etc. erwartet, wird hier enttäuscht werden.

Die Ermittlerfigur ist kein Sympathieträger, und er tritt zu Beginn den Inuit auf Grönland in der herablassenden, unduldsamen und besserwisserischen Art gegenüber, die an die Einstellung der europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert erinnert. Der Autor beschreibt sehr schön, wie sich das Verhalten des Ermittlers Schritt für Schritt ändert. Er erkennt, wie sehr die harten Bedingungen der Natur das Leben und Denken der Inuit bestimmen, und er lernt nicht nur Respekt vor ihren Mythen zu haben, sondern auch ihre Verbindungen zu einer geistigen Welt zu schätzen. Seine beginnende Freundschaft mit dem Schamanen ist das äußere Zeichen dieses respektvollen Umgangs miteinander.

Der Erzähler romantisiert jedoch nicht, sondern er thematisiert auch die Auswirkungen der dänischen Gesetzgebung auf die Inuit. Ihnen wurde mit dem Verbot des Robbenfangs die wichtigste Nahrungsquelle und damit ihre traditionelle Lebensweise genommen. Die Folgen sind übel: Alkoholismus, Gewaltbereitschaft und eine außergewöhnlich hohe Suizidrate.

Als Leser merkt man deutlich, dass der Autor mit Herzblut das Leben der Inuit vorstellt. Er wird jedoch niemals belehrend, sondern seine Informationen begleiten die Handlung wie selbstverständlich. Seine Liebe zu Grönland ist unübersehbar, und er beschreibt äußerst anschaulich z. B. eine Fahrt mit dem Kajak (jetzt weiß ich, dass das Wort ein Inuit-Wort ist) durch das Packeis oder die verschiedenen Färbungen des Wassers auf dem Weg zur Eis-Abbruchkante.

Der Schluss dagegen ist enttäuschend. Ein Ende wie in einem amerikanischen Bandenkriegsfilm, noch dazu mit erklärenden Dialogen, und abschließend eine große Jubelfeier - dieser plakative Showdown lässt die innere Logik vermissen und passt nicht zu dem ansonsten eher ruhigen Erzählen.

Trotzdem: mir hat das Eintauchen in die heutige Kultur der Inuit so gut gefallen, dass ich dem Autor diesen Schluss nicht nachtrage.

Bewertung vom 18.12.2022
Der Sturm (eBook, ePUB)
Harper, Jane

Der Sturm (eBook, ePUB)


weniger gut

Cover, Titel und Klappentext haben mich sehr angesprochen, weil sie einen spannenden Krimi in Verbindung mit Meer suggeriert haben. Das Meer spielt tatsächlich eine Hauptrolle in dem Roman, und der Autorin gelingt auch eine atmosphärisch dichte Beschreibung von Unwettern und Gefahren. Ebenso gut fängt sie die leicht miefige Atmosphäre einer Kleinstadt ein, in der jeder jeden kennt und neue Gesichter erst einmal skeptisch betrachtet werden. Auch die Konstruktion der Handlung hat mir gut gefallen: dass nämlich ein Mord verknüpft mit länger zurückliegenden Ereignissen, in die mehrere Personen schuldhaft verwickelt sind.
Die Handlung fließt aber allzu ruhig dahin, ein Spannungsbogen setzt erst gegen Schluss ein. Die Fülle der Personen und vor allem ihre verwandtschaftlichen und biografischen Bezüge zueinander verwirren am Anfang. Dazu kommt, dass zu viele Details vorgeführt und langatmig beschrieben werden, auch wenn sie keinerlei Einfluss auf die Handlung haben. Manches ist unglaubwürdig, z. B. „obwohl er nie hier gewesen war, wusste Kieran, das alles ein wenig verstellt war. Die Kissen auf dem Sofa schienen nicht in ihrer üblichen Reihenfolge zu stehen „ (S. 172). Wie kann ich das feststellen, wenn ich noch nie in dem Zimmer war? Manche Handlungselemente erweisen sich als blindes Motiv, z. B. die Tatsache, dass der Bruder des Protagonisten für die Schwangerschaft eines Mädchens verantwortlich war. Das Ende, die Entdeckung des Mörders, kommt wie ein plötzlicher Show down und recht unmotiviert, auch wenn es, zugegeben, natürlich sehr praktisch ist, wenn sich der Mörder am Ende selber offenbart und seine Taten erläutert. Ohne dass ein Bezug zu den laufenden polizeilichen Ermittlungen zu erkennen gewesen ist.
Sprachliche Ungenauigkeiten wirken störend. Das Kreischen von Möwen wird kommentiert mit „So etwas habe ich noch nie gesehen“ (S. 246), oder auch Holprigkeiten wie „Er ging ... langsam..., doch seine Muskeln übernahmen sofort das Kommando“ (S. 142). Manche Wendungen sind einfach deplatziert; vielleicht Übersetzungsfehler?
Ein spannender Plot, dessen Möglichkeiten kaum genutzt werden.

Bewertung vom 12.12.2022
Geheimnis am Weihnachtsabend
Mitchell, Gladys

Geheimnis am Weihnachtsabend


sehr gut

Die Hobbydetektivin Adela Bradley, ihres Zeichens Psychoanalytikerin und Nervenärztin in Oxford, reist über die Weihnachtstage zu ihrem Neffen auf das Land. Der Neffe bewirtschaftet ein Gut und lebt von der Schweinezucht. Ein geheimnisvoller Brief mit einer noch geheimnisvolleren Wette, ein nächtlicher Todesfall – und Adela Bradley ist in ihrem Element: sie ermittelt.

Auf dem Lande leben recht eigenwillige, um nicht zu sagen schrullige Leute, und es geschehen merkwürdige Dinge wie z. B. nächtliche Spaziergänge mit einem Schwein. Die Suche nach dem Mörder entfaltet sich überwiegend in Dialogen, sodass der Leser den vielfältigen Verdächtigungen folgen kann und in die Mördersuche weitgehend eingebunden wird.

Mrs Adela Bradley ist ohne Zweifel eine intelligente und scharfsinnige Person, aber an ihr Äußeres muss man sich gewöhnen: sie hat magere, klauenartige Hände mit langen gelben Fingern, ihre Mimik wird verglichen mit dem Aussehen eines Alligators oder einer Schlange, dazu kommt ein „teuflisches Grinsen“ – und die Tatsache, dass ständig ihr „meckerndes Lachen“ erwähnt wird, macht sie auch nicht liebenswerter. Und jedes Gegenüber spricht sie mit „Mein Kind“ an, egal ob Freund oder Feind und auch egal, ob es sich um den würdigen Polizeipräsidenten oder ihren kleinen Großneffen handelt.

Trotzdem: wer einen originellen Krimi in der Art Agatha Christies sucht, wer keine Leichenberge braucht und auch mit Schweineblut zufrieden ist, der ist mit diesem Krimi gut beraten! Hier gibt es keine aktionsreichen Verfolgungen, keine Schießereien und dergleichen, sondern hier wird der Bösewicht mit Verstand und Logik gefunden.
Mir hat der Krimi Spaß gemacht.

Bewertung vom 10.12.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Ian McEwan breitet das ganze Leben des Roland Baines vor seinem Leser aus: eines sehr mittelmäßigen Mannes, der ein nach außen hin unbedeutendes Leben führt. Man liest von seinen hochfliegenden Plänen, die jedoch alle scheitern, man leidet bei seinen Niederlagen und verpassten Chancen mit und freut sich im umgekehrten Fall über seine kleinen Siege, die selten genug sind. Roland Baines‘ Leben wird durch den Schmerz des Verlassenwerdens geprägt und das Zusammenleben mit seinem Sohn. Gegen Ende des Romans sehen wir ihn eingebettet in eine große Patchwork-Familie mit den Familien seines Sohnes und seiner Stiefkinder. Was ist nun besser? Ist die große Kunst all den Schmerz wert? Die Entscheidung wird dem Leser überlassen.

Roland Baines Leben verknüpft sich dabei ständig mit der Zeitgeschichte und den gesellschaftlichen Umbrüchen, denen sein Leben ausgesetzt ist und von denen sein Leben auch mitbestimmt wird, ob das der Fall der Mauer ist, die Politik Margaret Thatchers, die Suezkrise etc. bis zur aktuellen Pandemie. Besonders die Kuba-Krise bleibt dem Leser in Erinnerung: wegen der apokalyptischen Stimmung dieser Zeit beschließt der 14jährige, vor dem Weltuntergang wenigstens einmal Sex gehabt zu haben – mit seiner Klavierlehrerin. Er kann sich dieser obsessiven Beziehung nur entziehen, indem er die Schule fluchtartig ohne Abschluss verlässt. Seine „formlose Existenz“, wie er sein Leben selber nennt, führt er auf diese einschneidenden Missbrauchs-Erlebnisse zurück.

Der Roman heißt „Lektionen“, und Roland Baines erhält seine Lektionen und der Leser auch. Es geht um komplexe moralische Fragen,, die jeder für sich selber beantworten muss. Roland Baines lernt, dass Vergrabenes ans Licht kommt, dass Vergangenes die Gegenwart belastet, und er lernt, dass auch ein unbedeutendes Leben mit vielen verpassten Chancen wie das seine ein erfülltes Leben sein kann.

Nicht alle Lektionen werden gelernt: „Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alle strömen würden. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen. Längst wurden von Jerusalem bis Mexiko wieder Mauern hochgezogen. So viele vergessene Lektionen.“

Die Art und Weise, wie der Autor diese Geschichte erzählt, hat mich begeistert. McEwan wendet alle denkbaren erzählerischen Kniffe an. Besonders gut gefallen hat mir das „Mosaik der Erinnerungen“, wie es der Protagonist selber nennt. McEwan verzichtet auf breit angelegte Retrospektiven. Stattdessen unterbricht er die chronologische Abfolge durch Erinnerungsfetzen, die nur kurz aufleuchten, was ich als sehr authentisch empfand.

Fazit: Ein souverän erzählter, sprachlich brillanter Roman um moralische Entscheidungen.
„Dinge verändern sich, und in der Veränderung muss das Richtige gefunden werden."

Bewertung vom 28.11.2022
Die geheimste Erinnerung der Menschen
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen


ausgezeichnet

„Für Yambo Ouloguem“- so die Widmung zu Beginn. Der Fall Yambo Ouloguem: ein junger Literat aus Mali gewann 1968 einen Literaturpreis in Frankreich, wurde bejubelt und dann wegen Plagiats fallen gelassen. Ouloguem kehrte nach Mali zurück und starb 2017.

Hier findet Sarr seine literarische Vorlage: seinen Helden Diégane und v. a. Elimane geht es genau so wie Ouluguem. Diégane erkennt in seinem verschollenen Landsmann Elimane einen Schicksalsgefährten und beginnt daher ca. 50 Jahre nach dem Skandal und dem Verschwinden seinen Spuren zu folgen. Und so entsteht der Roman.

Ein Kernthema des Romans ist das Selbstverständnis bzw. Fremdverständnis der Schriftsteller aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs. In einer bitterbösen Satire reiht Sarr fiktive Kritiken an Elimanes Roman aneinander und klagt die rassistische Diskriminierung an. Einige Beispiele: Ein so kunstvolles Werk könne nicht von einem Schwarzen stammen, denn Afrika sei das Land der Barbarei und der Gewalt. Oder: Das Werk habe zu wenig „tropisches Kolorit“. Oder: Der Autor sei gebildet, aber wo sei die „afrikanische Seele“? Überhaupt: ein Jude als Schriftsteller ginge ja noch, „aber der Neger nie“.
Und so geht es Fragen der kulturellen Aneignung, um den nach wie vor wirkmächtigen Kolonialismus und um den Spagat zwischen einem traditionsverhafteten Leben und dem Eintritt in die weiße Welt der ehemaligen Kolonialherren.

Das hört sich trocken an, aber Sarr entfaltet eine derart unbändige Freude am Erzählen, dass der Leser davon gepackt wird. Er arbeitet mit Tagebüchern, Briefen, Zeitungsartikel, Interviews, Erzählerberichten und jeder Menge Berichte von Zeitzeugen aus 3. und 4. Hand, die Handlungsorte wechseln, und immer wieder wechselt er mitten im Text die Erzählerperspektive. Manchmal allerdings war mir persönlich das Pathos der Sätze zu plakativ. Zugegeben: es war nicht immer leicht, den verschlungenen Pfaden des Buches zu folgen, und auf manche prätentiöse Fremdwörter wie „phaläkische Verse“ hätte ich auch verzichten können.

Das Fazit des Romans ist hart: „Wer war eigentlich Elimane? Das gelungenste und zugleich tragischste Produkt der Kolonisation. … Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung.“

Bewertung vom 27.11.2022
Feldpost
Borrmann, Mechtild

Feldpost


sehr gut

Hier erzählt ein Routinier!
In zwei Zeitebenen entfaltet sich die Handlung. Die 1. Zeitebene spielt im Deutschland der Vorkriegs-, der Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre, die 2. Zeitebene in der Jetzt-Zeit. Diese 2. Zeitebene wird getragen durch die Recherchen einer jungen Anwältin zu den Ereignissen der 1. Zeitebene. Zwischen diesen beiden Zeitebenen springt die Handlung hin und her, und Kapitel für Kapitel entwickelt sich die Geschichte einer Familie, eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Treue, aber auch von Verfolgung, Verrat, Betrug und Schlimmerem.
Die Autorin macht es ihren Lesern leicht. Jedes Kapitel ist übertitelt mit Datum, Ort und den handelnden Personen. Dadurch kommt es zwar zu inhaltlichen Redundanzen, aber die Orientierung des Lesers ist stets gesichert.
Auch sprachlich kommt die Autorin ihren Lesern entgegen. Einige merkwürdig gewollte Metaphern bilden eher eine Ausnahme; ansonsten wird die Handlung in einer ausgesprochen flüssigen und eingängigen Sprache erzählt. Die Dialoge werden oft unterbrochen mit Übersprungshandlungen wie dem Blick auf Regentropfen am Fenster, dem Anwerfen eines Rasenmähers im Nachbargarten, dem Flug der Vögel u. ä. Damit verleiht die Autorin der Rede ihrer Figuren sehr routiniert die Authentizität, die sie glaubhaft macht.
Der Inhalt des Romans lehnt sich, heißt es, an wahre Begebenheiten an. Dann wird man als Leser wohl einige Dinge hinnehmen müssen, die sonst unverständlich wären wie z. B. die Begründung für den Abbruch der Schulausbildung der Tochter in einem bildungsaffinen großbürgerlichen Haus. Insgesamt hätte mir persönlich etwas Dramatik besser gefallen. Vor allem das Ende des Romans (Epilog) wirkt gewaltsam gewollt.
Beeindruckend ist die präzise Recherche-Arbeit der Autorin, nicht nur zu Familiengeschichten, sondern vor allem zur Zeitgeschichte. Beeindruckend ist ebenso die Art und Weise, wie mühelos sie die Zeitgeschichte der 1. Erzählebene in ihren Roman einbettet. Die Ereignisse sprechen für sich und dienen als immer verständliche Hintergrundfolie für die Geschehen.
Der Roman wird eingelesen von Vera Teltz, deren professioneller und klarer Stimme man mit Vergnügen zuhört. Die Art und Weise ihres Vorlesens trägt wesentlich zum positiven Gesamteindruck bei.

Bewertung vom 26.11.2022
Stella Maris
McCarthy, Cormac

Stella Maris


ausgezeichnet

„Stella Maris“ – als christlich sozialisierter Leser verbindet man mit diesem Begriff sofort die Gottesmutter Maria, deren Beiname „Stella Maris“, Meerstern, auf ihre Rolle als Schutzherrin der Seeleute und Fischer hinweist und, im übertragenen Sinn, auch auf ihren Schutz für jeden Menschen, der auf dem Meer des Lebens unterwegs ist.
Hier heißt das psychiatrische Krankenhaus „Stella Maris“, und der Leser muss selber entscheiden, welche Bedeutung der Name im Roman hat…
Eine junge Frau, Alicia, eine geniale Mathematikerin und Musikerin, weist sich selber in die Psychiatrie ein und führt sieben diagnostische Gespräche mit einem Psychiater. Es ist verlockend, über die Sonderstellung der Zahl 7 in der Mathematik nachzudenken und vor allem über ihre Bedeutung im kosmischen, mythischen und auch biblischen Bereich; im letzteres ist es die Zahl des Tabus, und auch diese Facette passt zum Roman, denn gerade im 7. Gespräch wird ein Tabubruch thematisiert.

Der Roman hat keinen Erzähler, sondern besteht ausschließlich aus den je einstündigen Gesprächsprotokollen. Alicia zweifelt an ihrer Welterfahrung und generell an der der Menschheit. Ähnlich wie Goethes Faust will sie erkennen, „was die Welt/ im Innersten zusammenhält“, aber sie geht noch darüber hinaus. Sie zweifelt an der Wirklichkeit der Welt, deren Sichtbarkeit sich ja nur in ihrem Kopf abspiele. Sind diese Wirklichkeiten identisch? Oder nicht? Wie ist Welt erfassbar? Was weiß der Mensch NICHT? Ihre zentrale Frage ist eine erkenntnistheoretische: wie gewinnt der Mensch Erkenntnis? Ihre Hoffnung, das über die Mathematik zu erreichen, erfüllte sich nicht. Bezeichnenderweise steht am Ende dieser Gespräche die These des genialen Einstein-Freundes Karl Gödel, dass auch die Axiomatik der Mathematik nicht widerspruchsfrei sei. Auch die Suche in den benachbarten Disziplinen wie Physik, Philosophie, Kunst, Sprachphilosophie und Psychologie – hier ist es die Wirkkraft des Unbewussten und Unterbewussten im Freudschen Sinne - lässt keine belastbare Erkenntnis zu. Wie bei Goethes Faust erscheint ihr daher der Suizid als eine akzeptable Alternative zum Leben: wie Faust sucht sie im Suizid die Entgrenzung der menschlichen Erkenntnis und hat die Hoffnung, bisher verschlossene Welten zu betreten und dass im letzten Lebens-Augenblick die Wahrheit des Universums aufleuchte.
In diesen erkenntnistheoretischen Dialogen, thematisch von der Antike bis zur Jetztzeit, bewegt sich der Autor mit großer Sicherheit: ein überaus spannendes, farbenprächtiges intellektuelles Feuerwerk, dem man als Leser nur gebannt und fasziniert folgen kann! Eine Fülle an Vorstellungen, Ideen, an Anregungen!

Zugleich tritt in den Dialogen Alicia als Mensch hervor. Wir erfahren von ihrer belasteten Familie, dem frühen Tod der Eltern, ihrer großen Einsamkeit und der daraus folgenden engen Bindung an ihren älteren Bruder. In kleinen Schritten bewegt sie sich im Lauf der Gespräche auf ihren Therapeuten zu und versucht, ihn nicht nur in seiner Funktion, sondern als Mitmensch zu erkennen. Sie fasst offensichtlich Vertrauen zu ihm, öffnet sich ihm und kann schließlich auch über Themen erzählen, denen sie aufgrund ihrer Tabuisierung zu Beginn ausgewichen ist. Und auch hier erscheint der Suizid als Zugang zu einer ersehnten Welt und als Möglichkeit, denselben Seinszustand wie ihr Bruder zu erreichen.

Wie McCarthy diese Verbindung von Erkenntnistheorie im weitesten Sinn und einem hohen Maß an Emotionalisierung leistet, hat mich sehr beeindruckt. Alicias erschreckende Einsamkeit und die Aussichtslosigkeit, diese Einsamkeit zu überwinden, finden ihren Schlusspunkt in einer kurzen Abschlussszene, die McCarthy einfach meisterhaft komponiert hat: wenige Worte, eine kleine Geste – und ein Übermaß an Emotion beim Leser.
Beide Dialogstimmen werden vom selben Sprecher gesprochen. Christian Brückners professionelle und klar akzentuierte Sprache macht die Dialoge lebendig. Er setzt alle Mittel ein, die er zur Verfügung hat und macht deutlich, dass Vorlesen nicht nur ein reiner Sprechakt, sondern zugleich immer auch Deutung ist.

CHAPEAU an Autor, Übersetzer und Sprecher.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.11.2022
Elizabeth Finch
Barnes, Julian

Elizabeth Finch


ausgezeichnet

Der Ich-Erzähler Neil besucht im Abendkurs ein historisches Seminar. Neil ist kein strahlender Held. Er ist als Schauspieler gescheitert, seine beiden Ehen gingen in die Brüche, und seine Kinder bezeichnen ihn mit gutem Grund als „König der unvollendeten Projekte“. Aber die Kursleiterin Elizabeth Finch ist für ihn die ideale Lehrerin. Ihre Methoden und vor allem ihr Wesen fangen Neil ein. EF, wie sie bald genannt wird, ist völlig uneitel, spricht immer frei mit ruhiger und klarer Stimme, hat ihren Vortrag ausgearbeitet im Kopf und strahlt eine Autorität aus, der sich die Studenten nicht entziehen können. Ihre Methode ist die Mäeutik, in bester sokratischer Tradition: sie konfrontiert ihre Studenten mit einem Zitat, z. B. des Stoikers Epiktet, und regt zum Selber-Denken an. „Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen zu helfen. ... Ich bin hier, um Ihnen zur Seite zu stehen, wenn Sie sich im Denken und Argumentieren üben und eine eigene Meinung entwickeln.“ (Pos. 185). Sapere aude! Neil ist fasziniert von dieser intelligenten und souveränen Frau und bleibt ihr ihr Leben lang und auch nach ihrem Tod verbunden. Die Frage treibt ihn um, wer Elizabeth Finch denn nun eigentlich gewesen sei.

Nach ihrem Tod erbt er ihre Unterlagen und versucht hier, Persönliches zu finden – vergeblich. Stattdessen findet er jede Menge Sentenzen und Aphorismen, aber auch Notizen zu einer historischen Gestalt und zu einem Wendepunkt der Geschichte, zu dem EF offensichtlich eine Veröffentlichung plante. Neil beschließt, EFs Arbeit fortzusetzen und den Essay zu schreiben, den sie nicht mehr schreiben konnte. Es geht um den spätrömischen Kaiser Flavius Claudius Julianus des 4. Jahrhunderts n. Chr., den letzten der Claudischen Kaiser, dessen Onkel Konstantin der Große das Christentum neben den bisherigen paganen Religionen zugelassen hatte (Konstantinische Wende). Julian versuchte vergeblich, die Bedeutung des Christentums, das er als Religion des Leidens sah, zurückzudrängen und den fröhlicheren und weltzugewandteren paganen Religionen wieder Bedeutung zukommen zu lassen. Weshalb ihn dann die christlich orientierte Geschichtsschreibung des Mittelalters als „Apostata“, als Ketzer, verunglimpfte, und als Julian Apostata ging er auch in die Geschichte ein.

Barnes lässt seinen Protagonisten der faszinierenden Lebensgeschichte dieses letzten heidnischen Kaisers nachspüren, und der Leser erfährt von Julians Liebe zur Philosophie, seiner religiösen Toleranz, seinen unmäßigen Opferschlachtungen und seiner Auffassung, dass Menschen mit Vernunft und nicht mit Gewalt zu überzeugen seien. Die Todessehnsucht der Christen lehnt er ab, das ist nicht seins, schnell das irdische Jammertal zu verlassen, um in die ewigen Freuden des Himmels zu gelangen! Daher schiebt er dem Märtyrer-Tod einen Riegel vor: niemand wird wegen seiner Religion hingerichtet, sondern er nötigt die Christen, den „langsamen, verschlungenen steinigen Pfad des irdischen Lebens zu gehen“ (Pos. 1258). Eine interessante Biografie!

Neil nimmt auch die Wirkungsgeschichte des Julian Apostata in den Blick, ausgehend von dem Gedicht Swinburnes „Hymne an Proserpina“, in dem der tödlich verletzte Kaiser seine Niederlage gegenüber dem Christentum eingesteht: Du hast gesiegt, o bleicher Galiläer; die Welt ist grau geworden von deinem Atem. Montaigne, Voltaire, Milton, Ibsen, James Joyce, sogar Hitler, der zeitgenössische Autor Butor u. a. befassen sich mit diesem Kaiser und diesem historischen Wendepunkt.

Der Leser wird nun, so wie EF es getan hätte, auch zum Nachdenken angeregt: Was wäre gewesen, wenn nicht der „bleiche Galiläer, sondern das „Heidentum“ gesiegt hätte? Führt ein Weg von diesem Wendepunkt „zu der Gefühlskälte und dem päpstlichen Autoritarismus des christlichen Europa – zum freudlosen schuldbeladenen Protestantismus wie zum korrupten schuldbeladenen Katholizismus“ (Pos. 2278)?

Das Buch ist ein anregender Ausflug in die Philosophie, in die Geschichte und ihre möglichen Alternativen, auch in die Fragen des Umgangs mit unsicheren historischen Fakten. Das Lesen wird zum Vergnügen durch die Ironie und die Respektlosigkeit, mit der Barnes auch „heilige“ Stoffe wie den Märtyrertod betrachtet.

Barnes hat, wie gewohnt, hervorragend recherchiert. Allerdings leiden darunter seine Personen, die man sich gerne lebendiger gewünscht hätte.

Bewertung vom 14.11.2022
Alle Wege führen nach Rom
Sommer, Michael

Alle Wege führen nach Rom


gut

Der Untertitel verspricht „Die kürzeste Geschichte der Antike“, und so begibt sich der Leser in 8 Kapiteln auf eine Reise durch die Jahrhunderte zurück in die Antike. Eines ist unbestritten: der Reiseführer ist ein begeisterter Althistoriker, seine Liebe zur Antike steckt an, er unterhält sein Klientel angenehm und, last not least, er ist kundig und weiß genau, wovon er spricht.
Dem Autor geht es ganz allgemein um den Brückenschlag von der Antike zur Gegenwart. Sein Argument der nahen Fremdheit ist nicht neu, aber einleuchtend. Die „toten“ Sprachen und die Geschichte der Antike sind für ihn kein nutzloses Wissen, sondern sie sind eng verknüpft mit unserer Gegenwart und den Problemen, denen sich die Gegenwart zu stellen hat. Das Bewusstsein der gemeinsamen Geschichte bietet seiner Meinung nach ein stabiles und allgemein akzeptiertes Fundament eines geeinten Europas.
Die Lektüre ähnelt durchaus einem Parforceritt, wie es im Klappentext heißt. Sommer holt weit aus und startet mit der ILIAS, die er liebevoll zusammenfasst, um von dort auf das Verschwinden der bronzezeitlichen Königreiche zu kommen. Nun wird der Parforceritt zum Zeitraffer-Ritt durch die Jahrhunderte. Sommer setzt deutliche und durchaus aktuelle Schwerpunkte. Damit garantiert er, dass der Leser nicht den Überblick verliert. So vertieft er sich z. B. sowohl in der römischen als auch in der griechischen Geschichte in die Entwicklung der Bürgerrechte und die Frage, wie die Partizipation der Bevölkerung am politischen Leben gestaltet wurde . Es wird deutlich, wie immer wieder aufs Neue um einen Ausgleich der Bevölkerungsgruppen gerungen wurde und wie Alternativen ausprobiert und evtl. wieder verworfen wurden.. Manches mutet tatsächlich sehr zeitgenössisch an wie die Überlegungen zur (mangelnden) politischen Qualifikation und zur Verführbarkeit der Massen, zur Frage der Autorität, zur Demagogie, zum Umgang mit Fremden, zur Kontrolle der Eliten und so fort.
Gelegentlich, so scheint es, verliert der Autor jedoch bei dem Parforceritt das Ziel aus den Augen und verweilt zu lange bei Nebenschauplätzen. Zugegeben: das sind interessante Schauplätze wie z. B. die ausführliche Würdigung Palmyras, die Reformversuche und Legitimierungsbestrebungen der Soldatenkaiser, oder die Regionalisierung des riesigen Reichs, aber es bleibt unklar, wieso er z. B. den Judäischen Kriegen oder dem Sasanidenkönig Schapur I. so viel Raum widmet. Und auch die langwierige Beschreibung des Massakers von Srebrenica und seine Einordnung in antike Verwerfungslinien wirken aufgesetzt.
Das erste und letzte Kapitel sind der humanistischen Bildung gewidmet. Sommer bejammert langatmig den Zustand des deutschen Bildungswesens und beglückwünscht sich selber zum Besuch eines humanistischen Gymnasiums. Ob das Kapitel aus einer Festrede zum Abitur entstanden ist? Natürlich ist es legitim, wenn ein Autor verschiedene Veröffentlichungen miteinander verschränkt, aber es sollte doch eine angemessene Gewichtung vorhanden sein. Das letzte Kapitel greift das 1. Kapitel wieder auf und liefert Argumente für den Beibehalt der klassischen Bildung. Vielleicht auch eine Abiturrede? Oder eine Vorlesung? Sommer kritisiert die Lehrpläne – und man möchte ihn einladen, seinen universitären Rapunzelturm zu verlassen und an den Sitzungen einer Lehrplankommission teilzunehmen...Man kann nur hoffen, dass er seinen Lehramtsstudenten seine Begeisterung für die Antike vermitteln kann und diese sich tatsächlich - so seine Vision - „am Pool unter Iberiens Sonne“ mit anderen Europäern über die Gerichtsreden Senecas austauschen.

Bewertung vom 13.11.2022
Meine Mutter sagt
Pilgaard, Stine

Meine Mutter sagt


ausgezeichnet

„Meine Mutter findet, da ich jetzt Urlaub habe, sollte ich in ihr Sommerhaus kommen.“So beginnt das erste Kapitel, und dieses erste Kapitel zeigt schon das familiäre Miteinander der Ich-Erzählerin. Da ist eine Mutter, die die Tochter mit vielen unerbetenen Ratschlägen überhäuft und die sich bemüht, das Studium und allgemein das Leben ihrer Tochter wieder ins Gleis zu bringen. Die Ich-Erzählerin begegnet uns nämlich am Anfang als tief verletzte, entwurzelte junge Frau: ihre Lebensgefährtin hat sie vor die Tür gesetzt. Sie findet Unterschlupf bei ihrem Vater, einem Pfarrer, der für Pink Floyd schwärmt und im Unterschied zur Mutter von Belehrungen absieht. Im Gegenteil: die Ich-Erzählerin freundet sich mit seiner neuen Frau an und entwirft mit ihr spielerische Zukunftspläne. Alle Figuren dieses kleinen Romans werden uns als teilweise schrullige, aber liebenswerte und lebensechte Typen vorgestellt, keine der Figuren wird bewertet, und dieser freundliche Blick der Autorin auf ihre Mitmenschen macht die Lektüre zu einem Vergnügen.

Das Buch ist originell aufgebaut. Auf wenige kurze erzählende Kapitel folgt ein sog. Seepferdchen-Monolog. Wieso Seepferdchen? Ein Teil des Gehirns ähnelt einem Seepferdchen, lat. Hippocampus, und dieser Hippocampus überführt die Erinnerungen aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. In diesen Seepferdchen-Monologen geht es daher um die langfristigen Erinnerungen der Protagonistin. Sie reihen sich oft assoziativ in die Erzählung ein und öffnen dem Leser das Innere der Ich-Erzählerin: sprachlich wunderschöne Monologe, in denen man versinken kann.

Überhaupt ist es die Sprache, die den Roman zu einem besonderen Lesevergnügen macht. Schon im 1. Kapitel zeigt sich der besondere Sprachwitz, wenn es z. B. darum geht, ob eine Krabbe ein Schalentier oder ein Kriechtier ist; kriecht die Krabbe oder schalt sie? Stine Pilgaard spielt in einer unglaublich frischen Weise mit der Sprache. und so ist es auch die Sprache, mit der sie alltägliche Situationen gleichsam seziert, und es ist die Sprache, die die Kommunikation zwischen den Figuren letztlich gelingen lässt. Wie tröstlich! Gleichzeitig gelingt der Autorin damit auch der Spagat zu tiefernsten Themen wie der Vereinzelung des Menschen und der Angst vor dem Allein-Sein – und schließlich der überbordenden Freude über eine neue Liebe. Ein wunderbares Buch!