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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Der rauchblaue Fluss / Ibis Trilogie Bd.2
Ghosh, Amitav

Der rauchblaue Fluss / Ibis Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

Als während des Ersten Opiumkrieges 1838/1839 die chinesischen Behörden gewaltsam gegen ausländische Händler in Kanton und deren Verbindungsleute vorgehen, werden u. a. zwei Ausländer Zeugen der Vorgänge in den Faktoreien der ausländischen Händler: Der britische Maler Robin Chinnery und der indische Händler Bahram Modi. Bahram ist Parse, seine Vorfahren stammten aus Persien. Chinnery befindet sich in China auf der Suche nach einer seltenen Kamlienart, von der bisher nur ein Gemälde existiert. Während seines Aufenthaltes in Kanton korrespondiert der Maler mit Paulette, die Ghoshs Lesern aus dem ersten Band als verwaiste Tochter eines französischen Botanikers vertaut ist. Durch Chinnerys Briefe lassen sich die Schicksale derer zuordnen, die sich auf der "Ibis" begegneten. Bahram sitzt in Kanton durch die Auseinandersetzung zwischen England und China um den Opiumhandel auf einer unverkäuflichen Schiffsladung Opium. Er lebte zeitlebens ein Doppelleben mit einer indischen Frau und deren Kindern in seiner Heimat, sowie einer chinesischen Geliebten und dem gemeinsamen Sohn auf einem Blumenboot im Hafen von Kanton. Bahrams Sohn Ah Fatt verkörpert das Leben zwischen den Kulturen, ohne das der Handel in Kanton nicht möglich wäre. Eine weitere Rolle spielt Fitcher Penrose, ein älterer Engländer und führender Händler mit exotischen Pflanzen. Penrose ist der Auftraggeber Robins für die Pflanzensuche und Wohltäter Paulettes, indem er das mittelose Mädchen als Betreuerin seiner Pflanzen auf seinem Schiff einstellt. Auch Bahrams Schreiber und Informant Nil tritt auf, den wir als Anil aus dem ersten Band der geplanten Trilogie kennen. - Die Schreiber, Diener und Botenjungen waren für mich die wirklich interessanten Personen dieses Romans, weil Ghosh an ihnen zeigt, dass Handel in Asien nur auf der Grundlage jahrzehntelanger persönlicher Beziehungen funktionierte - und heute noch funktioniert. Amitav Ghosh hat einen interessanten historischen Moment gewählt, den er aus der Perspektive eines indischen Geschäftsmannes schildert, der durch den Handel mit China zu Reichtum gekommen ist. Besonderes Merkmal dieses zweiten Bandes ist das babylonische Sprachgewirr unter den beteiligten Händlern. Gemeinsame Sprache in Kanton ist ein Pidgin-Englisch, das die einfache Grammatik des Kantonesischen und Vokabeln aus dem Englischen, Portugiesischen und mehreren indischen Sprachen vereint, so dass sich niemand diskriminiert fühlen muss. Außer indischen Ausdrücken, die sich oft aus dem Zusammenhang erschließen, kommt noch das Kreolische ins Spiel, das Diti und ihr Clan auf Mauritius gelernt haben. Diti ist eine der Hauptfiguren des ersten Bandes, in dem es um den Anbau und die Verarbeitung des Opiums ging. -
Amitav Goshs Lust des Historikers am Erklären und Informieren blitzt auch in diesem Buch wieder deutlich durch. Im Vergleich zu Der Glaspalast und Hunger der Gezeiten, mit denen der Autor thematisch weiße Flecken auf der literarischen Landkarte füllen konnte, hat mich dieser Band jedoch weniger gefesselt. Das liegt einerseits daran, dass die Personen auf mich sehr sperrig und unzugänglich wirkten und an der langsamen Gangart, mit der erst 200 Seiten lang die - aus dem ersten Band bekannten - Personen eingeführt und die Schiffe für ihre Expeditionen ins Perlfluss-Delta ausgestattet werden, ehe die Handlung Fahrt aufnehmen kann. Die Geschichte des Chinahandels und der Opiumkriege wurde bisher meist aus westlicher Sicht geschrieben. Mit außergewöhnlichem Erzähltalent zeigt Amitav Ghosh europäischen und amerikanischen Lesern die ungewohnte Sicht eines Inders persischer Herkunft auf den Ersten Opiumkrieg, weiß mit einigen Randthemen zu unterhalten und rückt die Bedeutung der Sprache und des Dolmetschens für den Handel in den Mittelpunkt.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Unter dem Baum des Vergessens - (eBook, ePUB)
Fuller, Alexandra

Unter dem Baum des Vergessens - (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Spätestens seit Die Krallen des Löwen: Meine Zeit mit einem afrikanischen Krieger hat sich Alexandra Fuller als Autorin ernster Töne etabliert. Auch wenn ihr deutscher Verlag mit der Abbildung imponierender Bäume vor romantischem Himmel noch immer Afrikaklischees bedient, geht es in Fullers Biografie völlig kitschfrei um die reale Angst ihrer Familie im Krieg um die Unabhängigkeit des Nachbarlands Mozambik (1977-1992) und die Bedrohung ihrer Existenz als Farmer durch die politische Situation im südöstlichen Afrika. Fullers Buch entsteht vor den Augen des Lesers im Gespräch mit ihren Eltern; es umfasst das Leben ihrer Mutter Nicola (geboren 1944 auf der schottischen Insel Skye) und das Familienleben vor Alexandra Fullers Geburt, die das dritte von fünf Kindern ist. Nur zwei Kinder der Fullers überleben. Eine Frau muss als Nachkomme der MacDonalds vom Clan der Reynolds wohl 1 Million Prozent schottisches Blut haben wie Nicola Fuller, um mit zwanzig Jahren als Au-Pair-Mädchen "in die Kolonien" nach Kenia zu gehen und schließlich auf einer Bananenfarm bei Umtali (jetzt Mutare) dicht an der Grenze zu Mozambik zu landen. Ein Teil der geschilderten Ereignisse liegt zeitlich vor Fullers Kindheitserinnerungen Unter afrikanischer Sonne: Meine Kindheit in Simbabwe.

Mutter und Tochter gehören zwei gegensätzlichen Generationen an. Die Mutter, die einmal darüber lästert, die Fullers wären die Blixens Zambias, wurde noch zu Zeiten britischer Kolonien geboren, die Tochter mitten in die Unabhängigkeitskriege dieser Staaten hinein. Eine der Schlüsselszenen des Buches war für mich die gemeinsame Heimfahrt der Familie aus dem Krankenhaus nach der Geburt der dritten Tochter Olivia. Vater Tim fährt den Jeep, die Mutter Nicola hält die Uzi vor sich, die Töchter sollen das Baby mit ihren Körpern beschützen, während Alexandra Fuller betet: "Bitte nicht Tim, bitte nicht das Baby". Das farbige, chaotische Leben der Fullers ist natürlich auch von Hunden, Pferden und den Gerüchen tropischer Pflanzen geprägt. Warum in Afrika aufgewachsene Weiße sich kein Leben außerhalb ihrer eigenen Farm vorstellen können, wird durch das Hinundherziehen der Fullers nach England und wieder zurück nach Afrika sehr deutlich. "Unter dem Baum des Vergessens" ist die gemeinsame Erinnerung einer Familie, in der die Gewalt eines Bürgerkriegs und der tragische Verlust von drei Kindern der Fullers eine entscheidende Rolle spielen. Mutter Nicola Fuller, die bereit war, ihre Familie mit der Waffe gegen bewaffnete RENAMO-Rebellen zu verteidigen, prägt in ihrer unerschrockenen Art den Ton des Buches.

Bewertung vom 04.01.2017
So bitterkalt
Theorin, Johan

So bitterkalt


sehr gut

Jan Hauger bewirbt sich als Vorschullehrer für eine Kindergruppe, die St. Patricia, einer großen psychiatrischen Klinik, angeschlossen ist. Den betreuten Kindern soll durch diese Vorschulgruppe der Kontakt zu ihren Eltern ermöglicht werden, die Patienten der Klinik sind. Die außerhalb der Klinik liegende Kita ist mit dem Gebäude durch einen Gang verbunden, durch den die Mitarbeiter die Kinder zu ihren Besuchsterminen bringen. Jan hatte noch nie eine unbefristete Erzieher-Stelle, bisher hat er immer nur Vertretungen übernommen. Seiner Vorgesetzten scheint an dem fast Dreißigjährigen nichts aufzufallen, der aus seinem Vorleben nicht viel mehr als ein Zeichenbrett mitgebracht hat. Marie-Luise behandelt Jan wie einen Berufsanfänger, und er nimmt die Situation klaglos hin. Wie die Erzieher den Kindern bei der Heilung ihrer seelischen Blessuren helfen sollen, bleibt rätselhaft, denn Chefin Marie-Luise dringt darauf, dass die Vorgeschichte der Kinder den Mitarbeitern verschlossen bleibt. Nach kurzer Einarbeitung übernimmt Jan auch den Nachtdienst in der Kindergruppe. Während die Kinder schlafen, fühlt Jan sich in sonderbarer Weise von den eingezäunten, martialisch wirkenden Gemäuern des psychiatrischen Krankenhauses angezogen. In so einem riesigen Gebäude wird es vermutlich düstere Gänge, unbenutzte Räume und Aufzüge geben, von denen nur wenige Mitarbeiter wissen. Verknüpft ist Jans Obsession für die psychiatrische Klinik mit seiner Schwärmerei für die Musikerin Alice Rami, der er sich offenbar eng verbunden fühlt. Kleine Kinder, von denen unklar ist, ob es überhaupt noch ein Familienmitglied als Erziehungsberechtigten in ihrem Leben gibt, ein mit seinen kindlichen Gedanken höchst sonderbar wirkender Erzieher und eine Vorgesetzte ohne nennenswerte heilpädagogische Qualifikation - allein schon in dieser Ausgangssituation stellen sich beim Lesen die Nackenhaare auf. Eine Frau, die offenbar für einen in St. Patricia einsitzenden mehrfachen Mörder schwärmt, steigert die Gruselwirkung, auch wenn zunächst noch nicht klar ist, in welcher Beziehung sie zu Jan und den Kindern steht. Mehrere miteinander verknüpfte Zeitebenen, die auch Jan nicht deutlich voneinander zu trennen vermag, geben neue Rätsel auf. Nach einem für mich supergruseligen Start zog sich der Hauptteil wenig spannend zu einem Finale, das ich so nicht vorausgesehen hatte.

"So bitter kalt" hat keine Ähnlichkeit mit Theorins Krimiserie, die auf Öland spielt. Nach ersten Anpassungsproblemen und einer schwächelnden Spannungskurve habe ich mich schließlich vom verblüffenden Schluss des Kriminalromans wieder versöhnen lassen.

Bewertung vom 04.01.2017
Der beste Tag meines Lebens
Miller, Ashley;Stentz, Zach

Der beste Tag meines Lebens


ausgezeichnet

Autismus vom Typ Asperger? So einer wie Rain Man? Keine Hand-Auge-Koordination? Unfallgefahr? Deswegen akzeptiert Mr. Turrentine noch lange kein ärztliches Attest zur Befreiung vom Sportunterricht. Colin Fischer sollte nach Ansicht des Sportlehrers Basketball spielen wie alle anderen Schüler auch. Der 14-Jährige ist gerade frisch auf die Highschool gewechselt. Die Liste von Colins Eigenheiten als Autist wirkt endlos. Er möchte nicht von anderen angefasst werden, hasst Kleidung aus Kunstfasern und breiartige Lebensmittel. Colin mag Fakten, Rechnungen und Wahrscheinlichkeiten. Am liebsten reagiert er sich beim Trampolinspringen ab. Colin kann auswendig vortragen, was der Begriff Empathie bedeutet, aber er kann sie selbst nicht empfinden. In Colins Leben gibt es kein "könnte", keine Witze; denn er nimmt alles wörtlich. Wissen bedeutet für ihn Kontrolle, es bietet ihm Sicherheit inmitten neuer Eindrücke. An seiner alten Schule wurde Colin von Marie betreut, die ihm half sich im Haifischbecken des Lebens zurechtzufinden und die für einen Autisten schwer zu lesende Mimik seiner Mitmenschen zu begreifen. Im Kampf gegen die täglichen Katastrophen würde Colin Maries Unterstützung noch länger brauchen. Mr. Turrentine mit seinen Suggestivfragen ist selbst für nicht behinderte Schüler eine Nervenprobe und auf die verwirrenden Gefühle, die Mädchen in ihm auslösen, hat Colin noch niemand vorbereitet. Als in der Schulmensa ein Zwischenfall mit einer Waffe passiert, wird Colins außergewöhnliche Beobachtungsgabe benötigt, um die Unschuld eines Mitschülers zu beweisen. Colins gutes Gedächtnis und seine Schlussfolgerungen bringen selbst einen gestandenen Polizisten ins Schwitzen.

Ashley E. Miller und Zack Stentz geben in liebenswürdiger Art Einblick in die Eigenheiten eines Autisten, indem sie Aufzeichnungen aus Colins Notizbuch - penibel in Druckschrift - mit der Sicht des neutralen Erzählers kombinieren. Als Beobachter könnte man sich fragen, warum Colin als behindert gilt und das teils sonderbare Verhalten seiner Mitmenschen als normal angesehen wird. Ähnlich rücksichtsvoll wie Dr. Hans Asperger (der Entdecker der Störung) die Stärken seiner Patienten in den Mittelpunkt stellte anstatt ihre Defizite zu beklagen, gehen die Autoren mit ihrer Hauptfigur Colin um.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Verdächtige Geliebte
Higashino, Keigo

Verdächtige Geliebte


ausgezeichnet

Wer hätte gedacht, dass Ishigami, Mathelehrer und Judokämpfer, der Physikprofessor Yukawa und Kommissar Kosanagi sich seit ihrer Schulzeit kennen. Den begabten Mathematiker, der sein Leben mit unwilligen Oberstufenschülern verplempert, und den Physiker könnten gemeinsame Interessen verbinden. Physiker und Kommissar dagegen, die sich immer dann austauschen, wenn Yukawa sich gerade an einem komplizierten Fall die Zähne ausbeisst, verbindet eine ungewöhnlichere Beziehung.

Als Yasuko Hanaoka ihren gewalttätigen Ex-Mann umbringt, scheint für die Polizei zunächst klar, wer die Tat begangen hat und warum. Ishigami, mit dem Yasuko Wand an Wand wohnt, hat zu Yasukos Rettung mit ihr und ihrer Tochter Misato ein raffiniertes Alibi abgesprochen, das zunächst perfekt wirkt. Ishigami ist ein Mann, der nichts dem Zufall überlässt. Mit Kosanagi steht Yasuko, der ehemaligen Angestellten in einem Nachtclub, ein akribisch arbeitender Ermittler gegenüber. Wer wird den längeren Atem haben - das Dreiergespann, das mit dem Vertuschen der Tat lebenslang aneinander gekettet bleiben wird, oder der Ermittler, der auf der Suche nach Widersprüchen die Geschehnisse in allen Einzelheiten nachvollzieht? Unter der Fassade, die Yasuko seit ihrer Ehe mit dem gewalttätigen Jinji Togashi zu wahren gelernt hat, entfalten sich allmählich wie ein unterirdisch wachsendes Mycel die Beziehungen der Figuren. Wie in einem Rate-Krimi, in dem die Leser den Fall aufklären sollen, kommt es auf jedes Detail an. Zwischen dem Physiker und dem Mathematiker, der glaubt seine Nachbarin schützen zu müssen, entbrennt ein intellektueller Wettstreit, der bis zur Auflösung des Falls mehr als eine überraschende Wendung bereithält. Im brilliant nachempfundenen intellektuellen Wettkampf zweier Genies ringen auch Gefühl und Vernunft miteinander. Higashino unterhält mit seinem raffiniert gestrickten Fall auf mehreren Ebenen: von der Frage, ob in der klaustrophobischen Enge Japans ein perfekter Mord denkbar ist, über die eigenartige Persönlichkeit des für seinen Job so offensichtlich überqualifizierten Ishigami bis zu den schicksalhaften Verstrickungen zwischen den anderen beteiligten Figuren.

Ein raffiniertes Puzzle für Leser, die sich gern von akribischen Ermittlungen fesseln lassen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Ich lebe, lebe, lebe
McGhee, Alison

Ich lebe, lebe, lebe


sehr gut

Rose muss den Moment immer wieder durchleben, in dem sie gemeinsam mit ihrer Schwester frontal mit einem anderen Fahrzeug zusammenstieß. Ivy liegt seitdem in einem Pflegeheim im Koma. Die Mutter der Mädchen konnte sich nicht dafür entscheiden, ihre ältere Tochter sterben zu lassen, und hat sie seitdem nicht mehr besucht. Nun liegt die Verantwortung, sich um Ivy zu kümmern, allein bei Rose. William T., der Nachbar, fährt Rose täglich nach der Schule ins Pflegeheim und wartet geduldig, bis sie Ivy aus ihrem Buch über Pompeji vorgelesen hat. William, der selbst einen Sohn verloren hat, sorgt für Strukturen im Leben von Roses Familie. William bemerkt darum, dass Rose sich selbst nicht mehr fühlen kann, und er spricht direkt an, dass Ivy sich mit wechselnden Jungen am Fluss trifft. William war für mich eine bemerkenswerte Person; er nimmt Roses Probleme lange vor ihr selbst wahr, aber drängt sich ihr nicht auf. So ist es auch William, der Roses Wut spürt und sie vor ihrer Macht warnt, einen anderen aus Wut zu verletzen, nur weil sie die Möglichkeit dazu hat. Auch wenn Rose es nicht gern hört, sie muss Ivy loslassen, um selbst leben zu können.

"Ich lebe, lebe, lebe", eine durch die Wiederholung der Unfallszene strukturierte Geschichte in leicht zu lesender Sprache, macht es den Lesern nicht leicht, sich in Rose und ihre Mutter hineinzuversetzen. Trauernde, die sich ihre Wut noch nicht eingestehen können, machen es ihren Mitmenschen auch oft nicht leicht. Mancher mag im Buch das konkrete Gehenlassen der Komapatientin vermissen und die kurze Erzählung deshalb zu unrealistisch finden. Die Charakterisierung der Schwester, die nur schwer akzeptieren kann, dass sie selbst einen schweren Unfall überlebt hat, ist Alison McGhee sehr gut gelungen.

Bewertung vom 04.01.2017
Luftholen
Wnuk, Oliver

Luftholen


sehr gut

Schuld sind immer die anderen
Deutlicher hätte Josch, der Schwimmmeister, nicht werden können. Er findet es eine Schnapsidee, dass Leonie nach ihrem Praktikum im Schwimmbad bei ihm eine Ausbildung beginnen will. Die Vierzehnjährige ist dem mehr als doppelt so alten Mann wie eine herrenlose Katze zugelaufen und gewährt ihm seitdem das Privileg, ihr bester Freund zu sein. Leonie kreist wie ein Planet um ihr Idol, flirtet mit Josch und nutzt ihn als Mentor, wenn ihr in einer fantastischen Welt angesiedeltes Buchmanuskript nicht vom Fleck kommen will. Gegen Leonies Schreibhemmung hilft angeblich nur ein nächtlicher Tauchgang im geschlossenen Schwimmbad. Josch hat keine Qualifikation als Tauchlehrer. Leonie weiß das, dringt verbotenerweise doch ins Bad ein und verunglückt dabei tödlich. Dass Josch sich damals beim ersten verbotenen gemeinsamen Tauchgang nicht gegen Leonies Gequengel duchsetzen konnte, wird er sein Leben lang bereuen. Leonies schwärmerische Tagebucheinträge lassen Josch blöd dastehen; die zu vermutende enge Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem ihm anvertrauten Kind wirkt mehr als sonderbar. Der Unfall erregt erhebliches Aufsehen, dem Josch sich durch Flucht entzieht. Wie wir auf seiner abenteuerlichen Reise entdecken werden, ist Josch vor Forderungen bisher immer nur geflüchtet. Josch trägt nie Schuld an Geschehnissen, im Gegenteil, die Dinge verschwören sich stets gegen ihn. Zusammen mit der blinden Maria macht Josch sich auf den Weg zu seinem 15-jährigen Sohn nach Südfrankreich, zu dem der Kontakt abgerissen ist und für den er seit Jahren keinen Unterhalt mehr zahlt. Maria hat Josch im Schwimmbad kennengelernt, als sie forsch den Gegenverkehr im Sprungbecken verscheuchte - bevor sie selbst vom Sprungturm sprang. Marias selbstbewusstes Auftreten entspricht kaum Joschs Vorstellung von einem behinderten Menschen. Zusätzlich ist Wnuks Held schüchtern und vermeidet deshalb, mit Maria über ihre Behinderung zu sprechen. Der körperlich unversehrte Mann ist so stark mit sich beschäftigt, dass für Maria in diesem Leben kaum Platz bleibt.

Schade, dass Josch nicht intensiver über seine Beziehung zu Leonie nachgedacht hat. Als Jammertyp, in dessen Leben von Anfang an die Eltern an allem Schuld sind, hat Oliver Wnuk seinen chaotischen Bademeister gut getroffen. Joschs ungewöhliche Beziehung zu Leonie, die er wie alles andere einfach erleidet, markiert den starken Auftakt eines Romans, der anschließend dem planlosen Chaos seiner Hauptfigur folgt. Wer Lust auf ein Roadmovie mit einem völlig verpeilten Helden hat, sollte hier zugreifen.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Himmel auf ihren Schultern
Lebedew, Sergej

Der Himmel auf ihren Schultern


ausgezeichnet

Wie Sergej Lebedew arbeitet auch sein Icherzähler als Geologe. Im Norden Russlands haben stets Häftlinge aus Arbeitslagern für die Geologen gearbeitet und hier gibt der Permafrostboden immer wieder Zeugnisse ehemaliger Arbeitslager frei. Überlebende Häftlinge siedelten sich am nördlichen Polarkreis an, die nach 25-jähriger Haft keinen Ort mehr hatten, an den sie zurückkehren konnten. Eine sehr persönliche Erinnerung verbinden den Erzähler, der als Kind ein Wörtersammler war, und die unwirtliche Region. Als seine Eltern ein Ferienhaus auf dem Land kauften, erhielt die Familie zusammen mit der Datscha einen Nenngroßvater für den kleinen Sohn - den blinden Nachbarn. Seine leiblichen Großväter hat der Junge nie kennengelernt. Aus dem Auftrag, den blinden alten Mann zu begleiten und rücksichtsvoll zu behandeln, entwickelt sich eine enge Beziehung. Beim Pilzesuchen oder Angeln nimmt der Junge den alten Mann nicht als blind wahr. Missgeschicke lassen sich öfter auf die Unordentlichkeit anderer zurückführen als auf die Behinderung des Nenngroßvaters. Zur Zeit seiner Einschulung erlebt der Junge den "zweiten Großvater" als Mann mit großer Macht über Menschen und Dinge, der laut Erzählungen der Erwachsenen schon vor dessen Geburt Einfluss auf das Schicksal des Jungen nahm. Das magische Denken des Erstklässlers, der nur ungern die Macht über seine Haare und Fingernägel an Erwachsene abgeben will, entwickelt sich im Laufe der Beziehung zu sorgfältigem Beobachten und Schlussfolgern. Für das Kind noch unverständliche Andeutungen des alten Mannes drehen sich um Kälte, Krieg und Moskitos. Im Vergleich mit auffälligeren Kriegsverletzungen anderer Männer empfinden einige die Blindheit des zweiten Großvaters als "saubere" Folge eines inzwischen fernen Krieges. Hinter seiner Blindheit verbirgt der alte Mann seine Erinnerungen, begreift der Junge, aber einen Blinden fragt man besser nicht nach seiner Vergangenheit. Früh drängt sich ihm der Gedanke auf, jemand, der seine Vergangenheit so sorgsam verschliesst, müsse krank sein. Nach dem Tod des Großvaters erscheinen Unbekannte, die seine Orden und Auszeichnungen davontragen. Wie schon in der Vergangenheit wird auch zukünftig nicht mehr über die Ehrungen gesprochen werden. Wie ein Propfreis an einem Baum fühlt sich der Junge, der dem alten Mann in mehrerlei Hinsicht sein Leben verdankt. Die Vorgeschichte seines zweiten Großvaters wird sich in der Vorstellung des Erzählers erst zwanzig Jahre später vor der Landschaft des hohen Nordens in ein Bild einfügen lassen, als er sich auf die Spur eines Briefschreibers begibt. Der alte Mann war im Norden Russlands Kommandant eines Arbeitslagers. Auf seiner Recherche-Reise sieht der Geologe hinter jedem Gebäude eine Lagerbaracke; nimmt jahrzehntealte Schichten von Stacheldraht wie Jahresringe des Gulag-Systems wahr. Den Spuren einer Gruppe von Häftlingen, an denen der Großvater sich schuldig gemacht hat, folgt der Geologe an die äußerste Grenze des Kontinents bis ins eisige Niemandsland.

Allein schon die ungewöhnliche Beziehung zwischen dem erblindeten Nenngroßvater und seinem jugendlichen Begleiter lohnt die Lektüre dieses Romans. Die tiefergehende Interpretation des Erlebten durch den heute Erwachsenen entwickelt sich nahtlos und absolut glaubwürdig. Obwohl niemand dem Kind von Arbeitslagern erzählt hatte, sind dem Geologen die Lager bewusst, deren Überreste die Natur sich inzwischen zurückgeholt hat. Die Gegenwärtigkeit von Lagerhaft im nationalen Unterbewusstseins Russlands vermittelt der erst 1981 geborene Autor sprachlich ebenso beeindruckend wie die Suche nach persönlicher Schuld in diesem Lagersystem. Die Überlappung unbewusster Erinnerungen eines Kindes mit realen Spuren von Zwangsarbeitslagern im nördlichen Russland haben mich noch lange nach der Lektüre beschäftigt.

Bewertung vom 04.01.2017
Mary, Tansey und die Reise in die Nacht
Doyle, Roddy

Mary, Tansey und die Reise in die Nacht


ausgezeichnet

Die zwölfjährige Mary leidet gerade darunter, dass ihre Freundin Ava in einen anderen Stadtteil Dublins umziehen musste. Marys Großmutter, die dem Mädchen so gern Märchen vorlas, liegt im Sterben. Da taucht eine sonderbar altmodisch wirkende Frau auf, die sich als Tansey, die Mutter der sterbenden Großmutter vorstellt. Tansey musste nach ihrem frühen Tod in der Figur eines Geistes zurückkehren, um sich zu vergewissern, dass es ihrer kleinen Tochter Emer gut geht. Vier Generationen von Frauen treffen aufeinander und begeben sich gemeinsam auf eine tollkühne Spritztour: Urgroßmutter Tansey, Großmutter Emer (das mutterlos aufgewachsene kleine Mädchen), deren Tochter Scarlett (Marys Mutter) und Mary selbst. Mary wird durch die Begegnung mit Tansey klar, dass ein sterbender Angehöriger dann loslassen kann, wenn er sich überzeugt hat, dass seine Liebsten gut versorgt sind. Wahrscheinlich braucht Mary diese Begegnung, um sich selbst in der Familientraditon des Geschichtenerzählens wahrzunehmen. Großmutter Emer konnte nämlich nur so fesselnd von ihrer Kindheit erzählen, weil ihre Großmutter ihr die Ereignisse aus ihrem dritten Lebensjahr mit nicht endender Geduld immer wieder erzählte. Schon in Emers Kindheit lebte die Familie mit den Erinnerungen an ihre Toten und hielt den Stuhl des verstorbenen Großvaters in Ehren. Wenn Mary in der Gegenwart zu ihrer Großmutter aufs Krankenhausbett hüpft, wünschen sich wahrscheinlich beide, Mary würde immer ein kleines Mädchen bleiben. Doch Mary spürt schon, dass sie sich bald verändern wird. Sie hofft, dass sie dann nicht so sein wird wie ihre pubertierenden Brüder, deren Rüpelhaftigkeit die Familie so gelassen erträgt wie alles andere.

Roddy Doyle stellt in seiner kurzen Geschichte in einfacher Sprache eine Familie vor, die einen besonders liebevollen Umgang und einen sehr speziellen Humor pflegt. Marys Mutter allein verbraucht beim Sprechen mehr Ausrufezeichen als mehrere andere Menschen zusammen. Die Begegnung mit Tansey verdeutlicht Mary die für ihre Familie charakteristische Prägung der Tochter durch die Mutter und erleichtert ihr den Abschied von der sterbenden Großmutter. Marys Geschichte sehe ich nicht allein als Jugendroman, sondern als Buch für jeden, den das Thema Abschied bewegt.

Bewertung vom 04.01.2017
Flamingos im Schnee
Wunder, Wendy

Flamingos im Schnee


ausgezeichnet

ampbell Cooper lebt in Osceola County/Florida, dort wo Urlauber sich von einem Besuch in Disney World die Erfüllung ihrer Träume erhoffen. Die Menschen brauchen Wunder, meint Campbell. Für die Mitarbeiter ist der angeordnete Frohsinn wenig wundervoll. Sie müssen sich bei der Arbeit und sogar im Privatleben rigiden Regeln der Themenpark-Betreiber unterwerfen, um die Illusionen der Besucher zu erhalten. In einem der Hotels trat Cams verstorbener Vater als Feuertänzer auf. Die ihm verordnete Rolle als Berufs-Insulaner breitete sich bis ins Privatleben der Familie Cooper aus, so dass die Familie glauben könnte, ihre Vorfahren stammten wirklich aus Hawaii. Mit einer Familien-Jahreskarte für den Arbeitsplatz der Eltern verlieren Träume irgendwann ihre Wirkung. Außer einem Job als angestellte Comicfigur bietet sich für Mädchen wie Cam nur die Perspektive, Kinder zu bekommen und ihr Leben in einem Trailerpark zu verbringen. Cam hofft nicht mehr auf Wunder. Sie leidet an einem Neuroblastom, einer Krebserkrankung, bei der kleine Kinder realistische Überlebenschancen haben. Jugendliche jedoch nicht. Cam geht es miserabel; sie will keine Reisen zu Wunderheilern mehr, keine Versuche mit ungetesteten Wundermitteln und keinen aufgesetzten Optimismus, damit die Gesunden nicht unter Cams Krankheit leiden müssen. Cam sieht erbärmlich mager aus. Doch ihre Mutter kann sich noch nicht damit abfinden, dass ihre ältere Tochter keine Hulatänzerin mit barocken Formen werden wird. Lily, seit der Chemotherapie in der Klinik Cams beste Freundin und Schicksalsgenossin, glaubt an die Macht handgeschriebener Wunschlisten. Wer nicht mehr lange zu leben hat, möchte vielleicht einfach wissen, wie sich der erste Sex anfühlt. Cam weiß, dass sie keine Zukunft hat, und muss die Illusion ihrer Mutter ertragen, für Cam gäbe es ein normales Leben samt Studienbeginn im Herbst. Mutter Alicia will mit einem letzten Aufbäumen gegen Cams Krankheit die Familie nach "Promise", einen mystischen, heilkräftigen Ort in Maine transportieren. Cam müsste protestieren und einfach nur Ruhe für sich fordern, doch sie will Mutter und Schwester nicht die Hoffnung rauben. - "Sie [Cam] war noch nie an einem Ort gewesen, der nicht vorgab, etwas anderes zu sein." (S. 113) stellt Cam beeindruckt fest. Auch wenn einige Leute wie aus dem Katalog eines Outdoor-Ausstatters wirken, empfindet Cam den kleinen Ort, in dem sie sich den Sommer über niederlassen, und seine Bewohner als authentisch. Die Begegnung mit Asher, der ganz anders lebt als Cam das aus ihrer schönen künstlichen Welt in Florida kennt, bringt Cam dem Abhaken ihrer Liste letzter Wünsche einen bedeutenden Schritt näher. Cam macht in Promise eine erstaunliche Wandlung durch. In diesem Sommer dreht sich nicht mehr alles um sie und um die tödliche Krankheit. Cam nimmt zum ersten Mal die Last ihrer Mutter wahr, die ihre Töchter allein durchbringt, und sie erkennt, dass Geschwister von schwer kranken Patienten immer erst an zweiter Stelle kommen. - Cam, mit dem Namen einer Dosensuppe geschlagen, zeigt sich als hinreißend sarkastische Person, für die diplomatisches Verhalten offenbar ein Fremdwort ist. Nach einer Odyssee durch diverse Behandlungsmethoden und ihrer Begegnung mit Wohltätern des "Krebs-Establishment" ist das Mädchen mit allen Wassern gewaschen und fähig selbst einen erfahrenen Pychotherapeuten auszutricksen. Cams Lust, einfach bösartig rumzupubertieren, weil sie weiß, wie sie andere verletzen kann, macht es Wendy Wunders Lesern leicht, nicht vor Mitleid mit Cams Schicksal in Tränen zu zerfließen. Auch wenn das Buch etwas zu offensichtlich auf der erfolgreichen Welle von "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" reitet, ist es für mich ein großartiger Roman im richtigen Moment und schon jetzt eines der beeindruckendsten Bücher des Jahres.