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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 18.06.2008
Ein Freund der Erde
Boyle, T. C.

Ein Freund der Erde


sehr gut

T.C. Boyles barocke Phantasie führt ihn diesmal in das Jahr 2025. Die Welt ist kaputt, aber atmet noch. Der Mensch hat sich angepasst, seine Ansprüche schießen nicht mehr so ins Kraut wie in den Jahrhunderten zuvor. Der Held der Geschichte Tyrone auch Ty genannt, hat sich nichts vorzuwerfen. Er hat die Katastrophe kommen sehen, in den 80er Jahren mehr Zeit in Haft als den Aktionen der Ökoterroristen für den guten Zweck verbracht und sogar sein privates Glück für die Ideale geopfert. Im Alter ist er zum Tierschützer geworden, sammelt im Auftrag eines reichen Mannes bedrohte Arten ein, um sie einem Zuchtprogramm zu unterwerfen. Ist die Welt erst einmal untergegangen, muss man sie halt wieder erschaffen. Ganz nach dem Spruch: Man begegnet sich mindestens zweimal im Leben, stöbert Tys Ex-Frau und seine Tochter Sierra ihn auf, um ihn dazu zu bewegen, das Leben seiner zweiten Tochter April aufzuschreiben, die für den Umweltschutz heroisch gestorben ist. Ty muss sich plötzlich nicht nur den Verlusten seiner privaten Vergangenheit stellen, auch den angestaubten Idealen früherer Zeiten vermag er nicht länger auszuweichen. Dies alles geschieht angesichts eines sich dramatisch verschlechternden Klimas. Mit gewohnt burlesker Vorstellungskraft und sprachlicher Manie gelingt es T.C. Boyle ein Zukunftsszenarium zu entwerfen, das er zwar optimistisch enden lässt, das jedoch nichts Gutes für die Menschheit verspricht. Das Essen schmeckt nicht mehr, es regnet in Strömen, es gibt nur noch einen Löwen im Zoo und der Menschheit bleibt nur eins zu tun, einen weit entlegenen Zufluchtsort aufzusuchen, um auf das Überleben zu hoffen. T.C. Boyle beweist sich einmal mehr als gewitzter Chronist seiner Zeit.
Polar aus Aachen

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.06.2008
Herr Lehmann / Frank Lehmann Trilogie Bd.1
Regener, Sven

Herr Lehmann / Frank Lehmann Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Berlin Ende der Achtziger. Die Mauer steht noch. Kreuzberg ist noch die Hoffnung all jener, die aus der Bundesrepublik auf die Insel geflüchtet sind. In der Vielzahl Suchender, Gestrandeter, Salonrevolutionäre gibt es den Herrn Lehmann, der sich Ansprüchen gerne entzieht und dafür lieber jedem die Welt erklärt. Es ist ein Kneipenleben. Sei es beruflich als Bierzapfer oder vor der Theke als Gast. Doch es ist nicht das Leben eines Alkoholikers, vielmehr das eines Menschen, der von sich behaupten würde, dass er mehr zum Leben nicht braucht. Familie ist etwas, das zu Besuch kommt, Zukunft etwas, für das man erst einmal richtig ausschlafen muss. Der Trott bestimmt den Tag von Herrn Lehmann und seinen Freunden. Wäre da nicht die Liebe. Ein Konstrukt, das vielen mittelmäßigen Romanen zu Grunde liegt. Sie stiftet Verwirrung, sie stellt Fragen, denen man lieber aus dem Weg geht, sie fordert einen heraus. Sven Regener entgeht dem allen durch seinen wunderbaren tragikkomischen Ton. Nicht nur dass seine scheinbaren Verlierer einem ans Herz wachsen, er spiegelt das Berlin der Mauer kurz vor ihrem Fall. Menschen, die mit sich selbst beschäftigt sind, die von den Ereignissen überrollt werden. Mitten drin Herr Lehmann. Unbeholfen scheint die Trägheit seine herausragende Charaktereigenschaft zu sein. Und trotzdem besitzt er seine Sehnsüchte, seine Träume, seine Verletzungen. Der Leser fühlt sich gleich mit ihm verwandt. Nur ein Herr Lehmann kann mitten in der Nacht von einem Hund aufgehalten werden. Die einzige Möglichkeit, ihm zu entgehen, darin bestehen, den Hund betrunken zu machen. Es sind aberwitzige Szenen, durch die Herr Lehmann stolpert. Sven Regener hat ihn mit trockenem Humor ausgestattet. Die beste Erfindung dabei ist, dass Herr Lehmann für alle einfach nur Herr Lehmann ist.
Polar aus Aachen

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.06.2008
Die Enden der Parabel
Pynchon, Thomas

Die Enden der Parabel


ausgezeichnet

Vielleicht der mystischste Roman des 20. Jahrhunderts. Die Handlung splittert sich auf und nicht umsonst wählt die deutsche Übersetzung die Form der Parabel als Titel, deren Enden im Ungefähren verlaufen. Im Mittelpunkt steht die V-2, eine Rakete, in deren Bann Tyronne Slothtrop gerät, ihn an immer wieder wechselnden Schauplätzen auf der Welt auftauchen läßt, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Im Verlauf des Romans scheint sich Slothrop in all den Geschichten, die um ihn herumranken, zu verlieren. Ein Blendwerk an Einfällen, an Erzählsträngen, an Wissen, an Zeitgeschehen, ein schier unerschöpflicher Brunnen an Möglichkeiten tatsächliche Ereignisse in Fiktion umzuwandeln. Es ist fast so, als explodiere der Roman in der Mitte wie eine Rakete und der Leser sieht auf einen Knall hin, ein Glitzern in der Luft. Um alle einzelnen Punkte, Geschichten aufzunehmen, ist er überfordert, doch für kurze Zeit schenkt Pynchon ihm das Gefühl, ein Buch wie kein zweites in der Hand zu halten. Die Zeit löst sich darin auf, man kann sich stets nur an dem festhalten, was gerade erzählt wird, weil schon in Kürze womöglich die Perspektive wieder wechseln wird. Mitten drin fragt man sich, wo bin ich überhaupt, aber trotzdem vermag man sich, dem Sog von Pynchons Sprache nicht zu entziehen. Man gerät in eine Strömung, deren Anfang und Ende zwar mit dem Abschuss und dem Einschlag einer Rakete klar umrissen zu sein scheint, aber dessen Turbulenzen während des Flugs eine Herausforderung ist. Es geht wie bei einem Fest zu. Viele Stimmen und man wandert umher, um sich immer wieder auf eine zu konzentrieren, sie zu verlieren, ihr später noch einmal zu begegnen. Die knapp zwölfhundert Seiten sind dazu da, zu rätseln, sich fallen zu lassen. Auch dazu da, aufzugeben, wenn man überhaupt nicht mehr durchblickt. Das ist nur etwas für jemanden, den der Mut auf halber Strecke nicht verläßt und der sich damit zufrieden gibt, dass die Welt als Ganzes längst nicht mehr darstellbar ist.
Polar aus Aachen

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.06.2008
Die dunkle Seite der Liebe
Schami, Rafik

Die dunkle Seite der Liebe


sehr gut

Ein Schmöker wäre da nicht der Titel, der voraussagt, dass es um die Liebe in diesem Roman nicht so gut bestellt steht. Rafik Schami ist vor allem eines: ein faszinierender Erzähler. Man darf bei einem Roman dieses Ausmaßes nicht davon ausgehen, sogleich einen Faden in die Hand gedrückt zu bekommen, an dem entlang man sich durch die Geschichte hangeln darf; vielmehr breiten sich auf den ersten Seiten viele Geschichten aus, die sich später bündeln werden, um einen Bogen über ein ganzes Jahrhunderts syrischer Geschichte zu spannen. Schami ist ein mündlicher Erzähler. So als säße man mit ihm zusammen und lausche ihm. Die Liebe braucht in diesem Roman Mut. Sie wird immer wieder bedroht und überlebt. der Stille Held der Geschichte ist jedoch die Stadt Damaskus, die den Leser abseits aller Berichte im Fernsehen plötzlich sehr lebendig erscheint und ihr Pulsieren offenbart. Dass der Wahnsinn, der Hass und die daraus resultierende Gewalt etwas ist, dass nicht über Nacht über einen herfällt, sondern sich über Generationen aufbaut, zeigt Schami anhand zweier Clans, zweier Sippen, die der Schahin und die der Muschtak. Viele Namen, vielen Personen tauchen im Laufe des Romans auf, doch hat man ihn einmal gelesen, spürt man das feine Netz dass Rafik Schami ausgelegt hat, um von der dunklen Seite der Liebe zu erzählen.
Polar aus Aachen

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.06.2008
Maigret, Lognon und die Gangster (Nr.155/24)
Simenon, Georges

Maigret, Lognon und die Gangster (Nr.155/24)


weniger gut

Dass das Ärger geben würde, war klar. Ein französischer Kommissar, zumal wenn er Maigret heißt, und das FBI das kann nicht gut gehen. Zwar pflegt man gute Kontakte über den Atlantik hinweg, trinkt zusammen ein Glas Wein, aber wenn der Zuständigkeitsbereich in Gefahr gerät, gilt es, Grenzen zu ziehen. Maigret hat einen Mord aufzuklären und kommt einer Bande amerikanischer Mafiosi auf die Spur, die in Paris Zeugen beseitigen. Lognon, ein Kollege Maigrets, wird zusammengeschlagen und in der Folge geht es bei Simenon recht amerikanisch zu. Da mag das Befremden, das Frankreich mit Amerika hat, eine Rolle spielen. Amerikaner sind vor allem Gangster, Mafiosi, bedienen sich der Franzosen, um ihre Ziele zu erreichen. Es gibt da den ehemaligen Profi-Boxer, die französische Geliebte, den ominösen amerikanischen Barbesitzer. Großeinsätze werden gefahren und Schießereien entfacht. Der Ton ist, als spiele da ein Franzose einen Amerikaner und betone vor allem den Akzent. Ganz im Gegensatz zu den sonst so betulichen Ermittlungen Maigrets. Das Lokalkolorit, das viele Romane Simenons auszeichnet, wird geopfert und so erscheint die Handlung merkwürdig verpflanzt zu sein. Spannend soll es zugehen. Um jeden Preis, doch Simenons Stärke ist die feine Charakerzeichnung. Sie geht unter und man ist nicht wirklich an den Gangstern interessiert, von denen man doch weiß, dass Maigret sie hinter Gittern bringen wird, selbst wenn die Amerikaner erwarten, dass er seine Interessen hinter ihren zurückstellt. Doch da macht Maigret nicht mit.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 12.06.2008
Die Schule der Gottlosigkeit
Tisma, Aleksandar

Die Schule der Gottlosigkeit


ausgezeichnet

Kriegshetzer sollten dieses Buch lesen. Abseits jeglicher politischer Rhetorik schildert Die Schule der Gottlosigkeit vier Schicksale, die davon erzählen, was aus Menschen wird, wenn sie unter den Krieg fallen. Wie die Zeit, die ihnen bleibt, an ungeheurer Bedeutung gewinnt, die Angst ums Überleben, um die Familie, Freunde jeden Flecken im Körper einnimmt. Die Hoffungslosigkeit, die Frage nach dem, was man tun kann, wie entfliehen, wie sich retten, frisst alles andere auf. Auf der Flucht wechselt man die Identitäten, unter der Zwangswirtschaft nimmt den Platz der Vertrieben ein oder wird selbst zum gewissenlosen Folterer angesichts eines eigenen Kinds, das im Sterben liegt. Die Menschen verändern sich, sind teils erstaunt, was aus ihnen geworden ist und finden die unterschiedlichsten Entschuldigungen dafür. Tisma stellt dies nackt dar. Seine Nüchternheit klagt an. In den vier Geschichten deckt er die Randbezirke außerhalb der großen Siege und Niederlagen auf. Es gibt keine Gewinner zu diesen Zeiten. Die Frage, wie sie alle, wenn sie denn überleben sollten, nach dem Krieg weiterleben, muss sich der Leser beantworten, der einerseits erschrocken zurückbleibt, anderseits einen Blick in den Abgrund gewagt hat. Geschichten, die jedem Politiker in die Tasche gesteckt werden sollten.
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.06.2008
Du hast das Leben noch vor dir
Gary, Romain

Du hast das Leben noch vor dir


ausgezeichnet

Ein Roman, der wieder aufgelegt werden sollte. Nicht nur, weil er ein Novum darstellt, in dem sein Autor Romain Gary unter dem Deckmantel Emile Ajar zum zweiten Mal den Prix Goncourt gewann, was Autoren normalerweise nur einmal zugestanden wird. Vor allem wegen seinem erzählerischen Esprit, seinem Charme. Aus der Sichtweise seines Ich-Erzählers schildert der Autor das Leben des Araberjungen Momo, der von Pflegemutter der Madame Rosa aufgezogen wird, die früher einmal eine Prostituierte war. Das Leben ist kein Zuckerschlecken, doch Momo findet sich darin zu Recht. Madame Rosa hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kinder anderer Prostituierte zu beschützen, indem sie sich um sie kümmert. Skurile Figuren tauchen in Momos Welt auf, erzählen vom Leben abseits der Boulevards. Wie der Roman endet, Momo sich um die sterbende Madame Rosa kümmert, ist ein literarisches Meisterstück und für Momo der Beginn eines neuen Lebens. "Das Glück ist ein schönes Miststück, eine üble Sau. Und man müßte ihm manchmal beibringen, was Leben heißt." lauten zwei Sätze aus dem Roman, der einen mit dem Gedanken zurückläßt: Du hast das Leben noch vor dir.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 12.06.2008
Die toten Seelen
Gogol, Nikolai W.

Die toten Seelen


ausgezeichnet

Obwohl der Roman ein Fragment ist, weil Gogol den dritten Teil vernichtet hat, erscheint er äußerst vollendet zu sein. Tschitschikow reist darin von Gut zu Gut, um mit den Großgrundbesitzern zu verhandeln, und diejenigen Leibeigenen aufzukaufen, die seit der letzten Erhebung verstorben sind. Er hofft die toten Seelen, für die die Großgrundbesitzer weiterhin steuerlich aufkommen müssen, billig, wenn nicht gar kostenlos zu erwerben, um sie dann an den Staat mit einem erheblichen Mehrgewinn zu verpfänden. Nur stehen die finanziellen Interessen der rechtmäßigen Besitzer seinem Vorhaben entgegen. Sie wittern selber ein Geschäft. Auf seiner Reise begegnet er einer illustren Gesellschaft aus Adligen, Beamten und einer Landbevölkerung die Gogol allesamt mit einer spöttisch Neigung zur Bloßstellung betrachtet. Das es dabei zu makabren, absurden, witzigen Szenen kommt, liegt an den Störungen menschlichen Verhaltens, die ihm überall begegnen. Tschitschikow erhofft sich aus der Sammlung toter Seelen das große Geschäft. Er ist hartnäckig, verschlagen, scheut nicht vor großen Anstrengungen zurück und trifft nicht selten auf noch mehr Verschlagenheit, Habgier. Leidenschaft und Laster vermengen sich zu einem großen Gemälde. Es gibt die Oblomows und die umtriebigen Geschäftsleute. Das vorrevolutionäre Rußland ist bei Gogol korrupt, auf den eigenen Vorteil bedacht, leidet unter Verfolgungswahn. Ein meisterhafter Roman, auch als Fragment, über jemanden, der auf zu großem Fuße lebt, glaubt, eine phantastische Idee zu besitzen, um an Geld zu kommen, und doch nichts als seine Mittelmäßigkeit vor sich herträgt. Zu gerne hätten wir gewusst, wie die Geschichte endet.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 10.06.2008
Kalifornische Jahre
Fox, Paula

Kalifornische Jahre


gut

Dieser Roman reicht nicht an Paula Fox wunderbare Geschichte Was am Ende bleibt heran, doch offenbart er in vielen Facetten Foxs Liebe fürs Detail, ihre Kunst Menschen in Situation zu beschreiben, in denen sie mehr über sich verraten, als es eigentlich wollen. 1940 befindet sich Amerika an einem Scheideweg. soll es in den Krieg eintreten oder lieber außen vor bleiben. Gerade Mal den Folgen des Börsenkrachs entschlüpft, stellt sich allen eine neue Herausforderung und so schildert auch Paula Fox ihre Anna Ginafala als jemanden, der in Mitten von immer neuen Situationen im Umbruch ist, deren Leben sich an Männern abzeichnen, die sich weder zu ihr bekennen oder ihr einen sicheren Hafen bieten. Der nüchterne Ton, den die Autorin dabei anschlägt, ist aus Was am Ende bleibt bekannt. Er verschärft die Situation, in dem er lediglich feststellt, und dass es dabei so undramatisch zuzugehen scheint, sorgt dafür, dass die Menschen, die durch die Geschichte schwimmen, als trieben sie mitten im Strom, das Ufer nicht erreichen werden, es aus dem Blick verlieren, bis sie stranden und dies als etwas betrachten, bei dem sie Glück gehabt haben, weil sie sich als Überlebende empfinden.
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.