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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 30.12.2021
Weiberroman
Politycki, Matthias

Weiberroman


gut

Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau

Der «Weiberroman» von Matthias Politycki weist bereits mit seinem ironischen Untertitel «Historisch-kritische Gesamtausgabe» auf ein wissenschaftliche Texte persiflierendes Prosa-Konstrukt hin. Im Jahre 1997 als Kultroman über die 78er-Generation gefeiert, gilt der damalige Bestseller als wichtiges Werk der literarischen Postmoderne. Sein Figuren-Ensemble verkörpert die erste, ohne Krieg aufgewachsene Generation des Jahrhunderts. Als Yuppies oder Dinks sind sie einerseits karrieregeil, fühlen sich andererseits aber auch der Political Correctness verpflichtet. Und wie der freche Romantitel verkündet, geht es thematisch hier um Frauen, die ja, einer uralten Erkenntnis zufolge, einfach nicht mit Männern zusammen passen.

Genau diese These wird im «Weiberroman» am Beispiel des 1956 geborenen Gregor verifiziert, dessen Probleme mit dem anderen Geschlecht hier aus seiner Sicht geschildert werden. Das in den Jahren 1974 bis 1990 geschriebene Material zu dessen Autobiografie, bestehend aus einem Konvolut von 3481 ungeordnet zurückgelassenen Textschnipseln bis hin zu mehrseitigen Abschnitten, habe Matthias Politycki als Herausgeber «entschlüsselt, katalogisiert und entsprechenden Handlungssträngen zugeordnet», wird im Anhang in einer editorischen Notiz erklärt. Diese mühevolle Arbeit habe Schwärzungen freizügiger «Stellen» unabdingbar gemacht, und aus Verständnis-Gründen sei auch ein dreißigseitiger Anmerkungs-Apparat dringend erforderlich gewesen. Hinter dieser Herausgeber-Fiktion versteckt berichtet Matthias Politycki in den drei mit «Kristina», «Tania» und «Katarina» betitelten Abschnitten des Romans von der schwierigen Mannwerdung seines Helden.

Als Schüler in der westfälischen Stadt Lengerich hat sich Gregor in die überirdisch schöne Kristina verguckt, hinter der alle her sind. Aber ungeschickt, wie er nun mal ist, kommt er bei ihr nicht weiter, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Nach dem Abitur beginnt er in Wien ein Germanistik-Studium und lernt die Zahnarzthelferin Tania kennen, eine kesses Vollweib aus einfachen Verhältnissen, die breiten Dialekt spricht und intellektuell so gar nicht zu ihm passt. Er findet schließlich heraus, dass sie bereits seit zwei Jahren als Model arbeitet und freizügige Bilder von ihr kursieren. Als 23Jähriger geht er dann nach Stuttgart, wo er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter antritt. Dort trifft er auf Katarina, eine elegante Traumfrau, die bei der Lufthansa als Chefstewardess für interkontinentale Flüge arbeitet. Aber auch diese Beziehung geht in die Brüche. Gregor kann sich einfach nicht in die Psyche der Frauen hineinversetzen, die geliebt werden wollen und ständig auf noch so kleine Zeichen warten, die das immer wieder auch beweisen. Als Hintergrund zu den schwierigen Paarbeziehungen blendet Politycki ständig aktuelle politische und kulturelle Geschehnisse in die Handlung ein. Die Entwicklung in der DDR wird da ebenso angesprochen und im Anmerkungsteil näher erläutert wie die jeweils gerade angesagte Musik, sei es die berühmter Pop-Gruppen oder aber die jener Schlagersänger, deren Schnulzen, aus der Wohnung des Hausmeisters schallend, an Gregors Nerven zerren.

In Wahrheit erzählt der Studienabbrecher nur permanent von sich, die Frauen bleiben in diesem Roman letztendlich Beiwerk, immer nach dem Motto: «Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau». Meistens wird da von seinen ständigen Sauftouren, Feten und allerlei Schabernack berichtet, mit auffallend oft auch olfaktorischen Details. Die durchaus harsche Gesellschafts-Kritik dieses virtuos erzählten Romans wird gemildert durch den köstlichen Humor, in den das alles unterschwellig verpackt ist. Dazu tragen zuweilen eingestreute Passagen mit Wiener oder schwäbischem Dialekt einiges bei. Es empfiehlt sich übrigens, den Anhang dieses geistreich unterhaltenden Buches zuerst zu lesen, dann aber auch jeweils die Fußnoten, weil sie oft weit mehr beinhalten als reine Anmerkungen.

Bewertung vom 23.12.2021
Die Liebesblödigkeit
Genazino, Wilhelm

Die Liebesblödigkeit


sehr gut

Liebe in einer verhunzten Welt

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino hat mit seinem Roman «Die Liebesblödigkeit» einen Buchtitel kreiert, der geradezu typisch ist für seine überwiegend resignativ geprägten Romane, in denen es immer auch um die Liebe geht als schier unerschöpflicher Erzähl-Fundus. Das vorliegende Buch handelt von der Beziehung seines Ich-Erzählers zu zwei Frauen, deren Ansprüchen er sich als alternder Liebhaber auf Dauer nicht gewachsen fühlt. Von einer sollte er sich trennen, aber von welcher?

Als freiberuflicher Apokalypse-Spezialist unterhält der 52jährige Protagonist schon jahrelang intime Beziehungen zu Judith, einer gleichaltrigen Pianistin, die recht und schlecht von Klavierunterricht und Nachhilfestunden lebt, aber gleichzeitig auch zu der neun Jahre jüngeren Chef-Sekretärin Sandra. Bisher lief alles bestens in dieser Ménage-à-trois, in der die Frauen natürlich nichts voneinander wissen und ihr Geliebter es sich gut gehen lässt. Warum, lautet sein Credo, soll man als Kind Vater und Mutter gleichermaßen lieben können, zwei Frauen gleichzeitig aber nicht! Als Hypochonder entdeckt er ständig neue, altersbedingte Veränderungen an seinem Körper, zu denen zum Beispiel auch Krampfadern gehören. Als der Arzt ihm neben einem Medikament auch Stützstrümpfe verschreibt, passt das so gar nicht zu seinem Selbstverständnis. Die sexuell sehr aktive Sandra, die ihn zu diesem Arzt geschickt hat, überrascht ihn mit einer kühnen Konstruktion an ihrer Schafzimmertür. Rechts und links hat sie je einen Getränkekasten hingestellt, auf die sie sich optimal zum Beischlaf draufstellen kann, während er sie in einer Krampfader schonenden Stellung beglückt. Aber seine erkennbar nachlassende Libido führt auch zu sexuellen Versagensängsten, die ihn permanent umtreiben. Andererseits kann er sich beim besten Willen jedoch nicht vorstellen, auf eine der liebevollen Damen zu verzichten, er hat sich sein Leben mit den beiden sehr kommod eingerichtet. Als ihm Sandra einen Heiratsantrag macht und auf die finanziellen Vorteile hinweist, die er als Freiberufler ohne eigene Rentenansprüche durch die Witwenrente später hätte, stellt er resigniert fest, dass eine Ehe für ihn absolut undenkbar wäre.

Die Figuren des Romans sind unauffällige Alltagstypen aus der Mittelklasse. Der namenlose Romanheld ist als Seminarleiter mit seinen Apokalypse-Vorträgen sehr beliebt und hat einen guten Kontakt zu den meist älteren Teilnehmern. Wie auch in anderen Romanen von Wilhelm Genazino sind hier immer wieder Passagen eingebaut, in denen der Held durch die Stadt streift und alltägliche, banale Szenen beobachtet, die er in schnellem Wechsel detailgenau beschreibt. Es ist das «signifikant Insignifikante», wie James Wood es genannt hat, das hier zu stets neuen, überraschenden Einsichten führt, als Flaneur erkennt der intellektuelle Erzähler scharfsichtig das Besondere im Allgemeinen. Gesellschaftskritisch konstatiert er einen zunehmenden «Freizeit-Faschismus», der die Köpfe bewusst vernebelt und zu einem ungebremsten Konsum-Fetischismus hinführt. Äußerst skeptisch sieht er auch die «frei schwebenden Intellektuellen», die im Roman auftreten, von ihm spöttisch Panikberater, Ekelreferenten oder Schockforscher genannt. Ihm erscheint die moderne Welt mit ihren absurden Automatisierungs-Zwängen schlicht als «verhunzt», seine in dieser irrealen Welt herumirrenden Figuren seien einer «zynische Inszenierung» ausgesetzt. Der Held selbst aber registriert all dies mit stoischer Gelassenheit.

Es wird chronologisch aus der Ich-Perspektive und im Präsens erzählt, wobei die Sprache mit allerlei Redewendungen und Bonmots angenehm aufgelockert ist. Sehr viele der kontemplativen Erkenntnisse des ständig sinnierenden, selbstkritischen Protagonisten sind erkennbar ironisch gemeint, andere wiederum regen zum eigenen Nachdenken an. Als Satire über die Liebe in einer verhunzten Welt ist dieser Roman eine amüsante Lektüre, die auch einiges an Tiefgang bietet.

Bewertung vom 22.12.2021
Die Haushälterin
Petersen, Jens

Die Haushälterin


schlecht

Oberflächliche Vater/Sohn-Geschichte

Das Romandebüt von Jens Petersen mit dem Titel «Die Haushälterin» wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis 2005 nominiert. Es blieb bis dato der einzige Roman dieses Schriftstellers und Arztes, dessen Erzählungen hingegen in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden. In seinem preisgekrönten Roman beschreibe er, wie die Aspekte-Jury des ZDF befand, «unsentimental, geradlinig und doch vielschichtig die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung auf Messers Schneide».

Dieser Generationen-Roman ist auch die Geschichte einer ersten Liebe. Der sechszehnjährige Ich-Erzähler Philipp, der früh seine Mutter verloren hat, muss nun auch noch erleben, dass sein Vater, der Kernkraftwerke gewartet hat, arbeitslos wird und zu trinken anfängt. Der Haushalt der Beiden in einer ehemals prächtigen Jugendstilvilla verwahrlost zusehends. Immer öfter kommen nun auch fremde Frauen ins Haus und stehen plötzlich morgens in der Küche, was den Jungen ziemlich verstört. Sein Vater benutze seine diversen Liebschaften offensichtlich nur «wie eine Arznei gegen das Sterben», stellt er ernüchtert fest. Als der alkoholisierte Vater bei einem Sturz die Kellertreppe herunterfällt und einen komplizierten Beinbruch erleidet, engagiert Philipp kurz entschlossen eine Haushälterin. Die 23jährige Ada ist eine Studentin aus Polen, die auch als Übersetzerin arbeitet. Sie kümmert sich nun zweimal die Woche um den Haushalt und bringt ihn sehr schnell wieder ‹auf Vordermann›. Außerdem erweist sie sich auch als hervorragende Köchin, ein Glücksfall für die beiden eher stümperhaften Selbstversorger, und mit ihr kommt nun wieder Leben ins Haus. Die burschikose Ada kümmert sich auch um den Garten und springt für den durch seine Verletzung gehandicapten Vater als Chauffeur ein. Für den mitten in der Adoleszenz steckenden, eher verschlossenen Philipp ist sie der allererste Kontakt zum weiblichen Geschlecht. Sie geht ganz ungezwungen mit ihm um, lässt sich von ihm duzen, geht mit ihm schwimmen, sie besuchen zusammen eine Party, und einmal küsst sie ihn sogar. Aber wie er schon bald merkt, hat sie ganz offensichtlich einen Freund in Polen. Und was ihn noch viel mehr trifft, auch sein Vater macht ihr völlig ungeniert den Hof und überschüttet sie mit Geschenken, bietet ihr schließlich sogar ein Zimmer im Haus an. Als Nebenbuhler seines Vaters um die Gunst der lebenslustigen Ada hat Philipp keinerlei Chance, das wird ihm bald klar.

Die führwahr nicht seltene Thematik dieses Romans von der Rivalität zwischen Vater und Sohn um die gleiche Frau wird hier kühl und nüchtern in einer dem jugendlichen Erzähler angepassten Sprache geschildert. Die Figuren sind glaubwürdig charakterisiert, wobei besonders Ada sehr sympathisch wirkt, was daran liegen mag, dass man nicht alles über sie weiß. Es wird nämlich nicht alles auserzählt in diesem melancholischen Roman, manches ist nur vage angedeutet oder bleibt völlig offen. Thematisiert wird hier auch die generationsbedingt schwierige Kommunikation zwischen dem dominant auftretendem Vater und seinem eher unbedarften Sohn, die den Heranwachsenden immer wieder vor neue Probleme stellt und ihn sogar zu einigen Kurzschluss-Handlungen verleitet.

Es liegt ein Anflug von Tristesse über diesem Adoleszenz-Roman, der geradezu beiläufig von den Schwierigkeiten und Fallstricken beim Erwachsenwerden erzählt. Dabei ist jedoch immer auch ein hintergründiger Humor zu erkennen, der diesen Debütroman zu einer eher amüsanten Lektüre macht. Leider jedoch bleiben die psychologischen Hintergründe der Figuren-Konstellation völlig im Dunkeln, obwohl ja gerade darin die eigentliche Problematik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den drei Protagonisten liegt. Durch diesen Mangel an gedanklicher Tiefe bekommt die flockig leicht erzählte Geschichte den eher trivialen Charakter eines oberflächlichen Unterhaltungs-Romans, der von der grenzenlosen Naivität seines jugendlichen Helden lebt.

Bewertung vom 21.12.2021
Die schwangere Madonna (eBook, ePUB)
Henisch, Peter

Die schwangere Madonna (eBook, ePUB)


gut

Pikareske Road Novel

Der Roman «Die schwangere Madonna» des österreichischen Schriftstellers Peter Henisch ist eine geradezu klassische Road Novel, was allein schon durch die vorab eingefügte Landkarte Italiens mit der Reiseroute der Protagonisten verdeutlicht wird. Genretypisch läuft der Plot auf ein herbeigesehntes Ende hin, eine kopflose Flucht aus dem unerträglich gewordenen Leben. Dabei sind hier die pikaresken Einflüsse dominant und lassen die deprimierende Ausgangslage in einem freundlicheren Licht erscheinen. Mit der Nominierung dieses Romans für den Deutschen Buchpreis wurde der bis dato nur in Österreich prämierte Autor 2005 erstmals auch einem größeren deutschen Leserpublikum bekannt.

Der beim Rundfunk tätige Josef ist durch sein blackoutartiges Versagen bei der Fertigstellung eines Radio-Features als freier Mitarbeiter prompt gekündigt worden. An der Schule seines Sohnes, den er dort turnusgemäß abholen will, stellt er fest, dass er sich zeitlich um eine ganze Woche vertan hat, was Ex-Frau und Sohn nur mit verächtlichem Grinsen quittieren. Auf dem Schulhof sieht er zufällig einen VW-Golf stehen, bei dem der Schlüssel in der Tür steckt. Düpiert wie er ist, steigt er in einer Kurzschluss-Reaktion in das Auto, startet den fremden Wagen und fährt davon, obwohl er gar keinen Führerschein besitzt. Weil er zweimal durch die Prüfung gefallen war, hat er seither immer ohne Auto gelebt. Er merkt aber, dass er trotz fehlender Fahrpraxis ganz gut zurechtkommt im Verkehr. Ziellos dahinfahrend entdeckt er nach einigen Kilometern, dass er nicht allein ist im Auto. Auf der Rückbank regt sich unter einem dicken Wintermantel plötzlich ein Mädchen, das dort geschlafen hat. Als er anhält, um sie aussteigen zu lassen, will sie nicht. Das Auto gehöre ihrem Religionslehrer, der sie geschwängert habe, der nun aber nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Auch die kurz vor der Matura stehende, knapp 18jährige Maria will nun nur noch weg. Schon bald überqueren die beiden Gleichgesinnten die italienische Grenze und setzen ihre spontane, fluchtartige ‹Fahrt ins Blaue› Richtung Süden fort.

Aus dieser Konstellation heraus deutet Peter Henisch eine von dem fürsorglichen Mann erträumte, allmählich obsessiv werdende Beziehung der anfänglich reinen Zweck-Gemeinschaft an. Wobei Maria ihren doppelt so alten Begleiter immer wieder auch düpiert, indem sie plötzlich spurlos verschwindet, was dann jedes Mal seine Beschützer-Instinkte herausfordert. Eine zweite thematische Ebene bildet die Religion, deren berühmte Bauten und Kunstwerke das ungleiche Paar bei seiner Reise kreuz und quer durch Italien gleichermaßen begeistert. Eines davon wartet am Ende der Reise, die titelgebende Madonna del Parto auf dem berühmten Fresko, das heute als Touristenattraktion im Museum von Monterchi zu sehen ist und als Abbildung das Buchcover ziert. Durchaus ironisch hat der Autor nicht nur seinen Helden ‹Josef› genannt, auch der Protagonistin hat er mit ‹Maria› einen religiös konnotierten Namen zugedacht, und die Schülerin schließlich hat über ihr Interesse an christlichen Themen letztendlich ja auch ‹in Sünde› zu ihrem Religions-Lehrer gefunden.

Auf dieser Reise kreuz und quer durch fast ganz Italien erleben die beiden ungleichen Aussteiger und Sinnsucher allerlei abenteuerliche Begegnungen. Italophile Leser werden ihre helle Freude haben an den bunten, durchweg stimmigen Bildern, in denen der ortskundige Autor davon zu berichten weiß. Auch seine Figuren sind mit Blick für Details und feine Nuancen überzeugend charakterisiert. Trotz der oft komischen, aber manchmal arg profanen Begebenheiten hat dieser Roman auch seine kontemplativen, zum Weiterdenken anregenden Momente, und kulturell erweist sich Josef als idealer Reiseführer nicht nur für Maria, sondern auch für den Leser. Neben der angedeuteten Lolita-Thematik wird durch die ständige Furcht der Autodiebe vor Entdeckung ein Spannungs-Bogen erzeugt, der bis zum kitschfreien, gut durchdachten Ende anhält.

Bewertung vom 16.12.2021
Das Geschäftsjahr 1968/69
Cailloux, Bernd

Das Geschäftsjahr 1968/69


gut

Die Mär der 68er-Generation

Der Debütroman mit dem ironischen Titel «Das Geschäftsjahr 1968/69» war für den Schriftsteller Bernd Cailloux gleich der große Erfolg, er wurde vom Feuilleton als literarische Entdeckung gefeiert. Mit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2005 stellte sich für den damals bereits über sechzigjährigen und bis dato weitgehend unbekannten Suhrkamp-Autor auch ein erfreulicher Anstieg der Auflagen ein. Sein Roman wurde als hochwillkommene, nüchterne Schilderung dieser im Buchtitel genannten, historisch völlig überschätzten und ideologisch überhöhten Epoche der deutschen Nachkriegsgeschichte, von der Kritik äußerst positiv kommentiert.

Auf einem Fortbildungs-Lehrgang für Journalisten lernen sich 1965 zwei junge Männer kennen, die beide der Wunsch vereint, Großes zu vollbringen und nicht im profanen bürgerlichen Alltag zu versauern. Nach dem Wehrdienst des namenlosen Ich-Erzählers ziehen sie voller Tatendrang nach Düsseldorf und beginnen, zusammen mit einem begnadeten Tüftler als Entwickler, in einer Gartenlaube ein Stroboskop zu entwickeln. Ihre Idee, die von dem Gerät erzeugten Lichtblitze als die Musik ergänzende Stimulanz für ein tanzwütiges Publikum in Clubs und Diskotheken einzusetzen, erweist sich als Glücksfall. Bereits das erste Gerät der «Muße-Gesellschaft», wie sie sich nennen, installiert in einer neuen Location auf der Hamburger Reeperbahn, ist ein sensationeller Erfolg, der sich schnell herumspricht. Fortan reißen sich die Kunden geradezu um diese Geräte und zahlen umstandslos fast jeden Preis, wenn sie ihr eigenes Stroboskop nur möglichst bald bekommen. Naiv und ökonomisch unbedarft träumen die Gründer davon, in erster Linie mit ihrer Idee die Welt zu beglücken. Sie wollen sich und ihre Mitstreiter ohne Profitstreben, geradezu familiär, solidarisch aus der gemeinsamen Kasse entlohnen, also eine Art ökonomische Hippie-Kommune selbstloser, gleichberechtigter Idealisten bilden. Um in Stimmung zu kommen wird natürlich Rauschgift in verschiedenster Form konsumiert, auch darin sind sich alle gleich in der schnell wachsenden Belegschaft. Irgendwann fordert die Realität ihr Recht, der Mitbegründer meldet die bis dahin nicht im Handelsregister eingetragene Firma auf seinen Namen an, ganz ohne Formalitäten geht es halt doch nicht. Enttäuscht zieht der Romanheld sich zurück, lässt sich dann aber doch überreden, wenigstens die Hamburger Filiale zu übernehmen. Bis ihn dort schließlich eine Hepatitis-Infektion bös erwischt.

Ohne Larmoyanz wird in diesem Roman das Zeitgefühl der berühmten 68er weitgehend klischeefrei geschildert. Dabei entwickeln sich die Gründer, die sich als «Enthemmungs-Assistenten» definieren und auch reichlich Dope dafür einsetzen, als Antipoden ihrer Geschäftsidee. Während der Ich-Erzähler als Alt-Hippie seinen geplatzten Träumen von der Bedürfnislosigkeit nachtrauert, ist sein Kompagnon schon in der ökonomischen Realität angekommen und nutzt die sprudelnde Geldquelle zu seinem eigenen Vorteil. Bernd Cailloux erzählt seine Geschichte lakonisch mit viel Sinn für Details, auch wenn sowohl technisch als auch ökonomisch manches daran dann doch ins Spekulative, Märchenhafte abgleitet. Dazu zählen vor allem die viel zu lang geratenen Passagen über den unbekümmerten Rauschgift-Konsum der psychedelischen Stroboskop-Truppe. Das wird in unzähligen Details immer wieder neu beschrieben, dürfte aber allenfalls die Junkies in der Leserschaft erfreuen, die große Mehrheit jedoch erbarmungslos langweilen.

Erzählt wird diese desillusionierende Geschichte der ungleichen «Hippie-Businessmen», wie die Freundin des Protagonisten sie spöttisch bezeichnet, in einer angenehm lesbaren, dem Alltag entsprechenden Diktion, nüchtern und völlig unprätentiös. Dass ihre «Suche nach besseren Lebenszwecken» scheitern muss, ist von vornherein klar. Aber wie kläglich sie scheitert, das ist durchaus vergnüglich zu lesen, vor allem, weil es gnadenlos einen scheinbar unausrottbaren Mythos entlarvt.

Bewertung vom 14.12.2021
Böse Schafe
Lange-Müller, Katja

Böse Schafe


sehr gut

Brief an einen Toten

Als einer ihrer wichtigsten Romane wurde «Böse Schafe» von Katja Lange-Müller vom Feuilleton einhellig positiv aufgenommen, sein Thema ist das komplizierte Beziehungsgeflecht von gesellschaftlichen Außenseitern. Die in der Vorwendezeit in West-Berlin angesiedelte Liebesgeschichte zweier kaputter Typen überzeugt nicht nur durch die völlig unsentimentale, sprachlich nüchterne Umsetzung des Stoffs, sondern auch durch die intime Nähe zu den Figuren. Diese besonders intensive Wirkung wird vor allem durch die sehr spezielle Erzählform als fiktiver Brief an einen Toten erzeugt.

Die vierzigjährige Schriftsetzerin Soja, Republikflüchtling aus der DDR, die sich in Berlin mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, trifft 1987 am U-Bahnhof Nollendorfplatz auf Harry, der als schöner Mann, «blauäugig, bleich, aschblond», eine geradezu unwiderstehliche, spontane Anziehungskraft auf sie ausübt. In dem posthumen Brief, den sie ihm vier Jahre später schreibt und den wir als Roman lesen, sieht sie einen Film ablaufen und fragt selbstkritisch: «Hätte ich mich, als unser Film in Echtzeit lief, als wir zu fotografieren gewesen wären, nach deinen Empfindungen erkundigen sollen?» Denn wie sie merkt, gibt der schweigsame Traummann wenig preis von sich und bleibt ihr gegenüber sogar als Liebhaber merkwürdig zurückhaltend. Trotzdem ignoriert sie zunächst alle Indizien, bis dann nach und nach aber heraus kommt, dass er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er eine zehnjährige Strafe wegen Raubüberfalls abzubüßen hat. Außerdem hat er auch gegen Bewährungs-Auflagen verstoßen, weil er seine Drogentherapie abgebrochen hat. Soja kämpft um eine neue Therapie für ihn, setzt sich selbstlos für ihn ein und unterstützt ihn sogar finanziell, obwohl sie selbst in eher prekären Verhältnissen lebt. Es dauert nicht lange, bis die nächste, bisher verschwiegene Hiobsbotschaft sie erreicht, die sie dann sehr direkt plötzlich auch selbst betrifft.

«Mein Lebensthema sind, glaube ich, die Widersprüche» hat die Autorin im Interview bekannt. Das wird hier verkörpert durch die große Liebe einer unbeirrbaren, starken Frau aus dem Osten zu dem kriminellen Junkie aus dem Westen, der ihre Gefühle in keiner Weise erwidert hat, wie sie ihm in ihrem Brief posthum vorwirft. Die Autorin lotet nüchtern aus, wie weit Hingabe tatsächlich gehen kann, ohne jedoch pathetisch zu werden, was in diesem Genre ja eher selten anzutreffen ist. In ihrem Rückblick auf den vierjährigen Abschnitt ihres Lebens mit Harry stellt Soja ihm existentielle Fragen, um zu verstehen, was für ein Mensch er wirklich war. Und trotz der durch sein Verhalten ihr gegenüber ausgedrückten, emotionalen Defizite wirkt dieser schräge Vogel nie unsympathisch, er strahlt auch in verstörenden Momenten immer noch einen gewissen Charme aus, und zwar nicht nur auf Soja, sondern erstaunlicher Weise auch auf den Leser. Der lange, quälende Sterbeprozess von Harry schließlich, der am Ende einsam stirbt und Soja mit seinen Habseligkeiten auch ein Schulheft mit Aufzeichnungen hinterlässt, ruft Mitgefühl beim Lesen hervor, er ist im Grunde eigentlich nur ‹ein armer Hund›. Harrys undatierte Notizen über seine Zeit mit ihr sind, kursiv abgesetzt und in kurzen Abschnitten über den gesamten Text verteilt, in den fiktiven Brief eingefügt. Es sind geradezu schreckliche Aufzeichnungen, die Soja da ahnungslos liest, denn in seinen insgesamt neunundachtzig Sätzen kommt sie mit keinem einzigen Wort vor, so als hätte es sie nie gegeben.

Eine derartige, nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Amour fou wirft natürlich allerlei interessante Fragen auf. Kann man Sojas demütige Hingabe überhaupt noch Liebe nennen? Kann denn die nicht wiedergeliebte Liebende jemals glücklich gewesen sein? Neben seiner Liebesthematik ist «Böse Schafe» auch ein typischer Berlin-Roman mit stimmigen Milieu-Schilderungen. Dieser stilistisch ungewöhnliche, komplexe Roman ist eine unterhaltsame, bereichernde Lektüre.

Bewertung vom 12.12.2021
Wie der Soldat das Grammofon repariert
Stanisic, Sasa

Wie der Soldat das Grammofon repariert


gut

Bosnienkrieg aus Kindersicht

Gleich mit seinem autobiografisch geprägten Romandebüt «Wie der Soldat das Grammofon repariert» war der aus Visegrad in Bosnien-Herzegowina stammende Schriftsteller Saša Stanišić 2006 ungemein erfolgreich. Das Buch wurde in dutzende Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet, das Urteil des Feuilletons hingegen war gespalten. Von einigen Kritikern wurde der Autor als neue Stimme und talentierter Erzähler fast schon hymnisch gefeiert, von anderen wurde sein Debüt als missglückt oder als klischeehaft bezeichnet, und vom Krieg aus kindlicher Sicht zu erzählen ist natürlich immer anfechtbar.

Die Geschichte wird aus der naiven Perspektive des phantasiebegabten Schülers Aleksandar, Koseform Saša (sic!), in Ich-Form erzählt. Er wächst in Visegrad wohl behütet im Kreis seiner weitverzweigten Familie auf. Es beginnt mit dem Tod von Opa Slavko, einem glühenden Tito-Verehrer, mit dem Aleksandar innig verbunden war, aber auch der Zauberstab des Jungen vermag den Opa nicht wieder lebendig zu machen. Im Jahr 1991 gewinnt der Junge mit seinem ganz speziellen Köder den örtlichen Angler-Wettbewerb in der Drina und ist damit überraschend für die Landesmeisterschaften in Osijek qualifiziert. Aber daraus wird wohl nichts, denn dort herrscht bereits Krieg. Der erreicht schon im nächsten Frühjahr auch Visegrad und vertreibt die Eltern von dort, weil die Mutter muslimischer Herkunft ist und damit von ethnischen Säuberungen durch die Serben bedroht wird. Die Familie emigriert nach Heidelberg, wo bereits ein Onkel wohnt. Das unter Tito mit harter Hand durchgesetzte, aber letztendlich Utopie gebliebene, angeblich multikulturelle Jugoslawien wird nun in einen kleinstattlichen Flickenteppich zerrissen. Im Strudel der kriegerischen Ereignisse erscheint die unbändige Fabulierlust des Jungen mit ihren amüsanten, zum Teil haarsträubenden Szenen äußerst grotesk, bezogen auf das Kriegsgeschehen im Hintergrund. So wenn beispielsweise in einer Kampfpause die Serben und Bosnier aus ihren Stellungen hervor kriechen und sich auf ein Fußballspiel gegeneinander verständigen. Besonders absurd wird es, als dabei ein Spieler den Ball ins Aus schießt, in ein Minenfeld, aus dem er ihn nun auch selbst wieder herausholen muss, er bekommt dafür sogar eine kugelsichere Weste gereicht. Die ist allerdings für den Ball gedacht, denn der ist mitten im Krieg unersetzlich, der einzige jedenfalls, den die Soldaten noch haben.

Der unbedarfte Heranwachsende berichtet aus seiner Schlüsselloch-Perspektive von einer bunten Welt voller verrückter Geschehnisse und fragwürdiger Erinnerungen, was natürlich in krassem Gegensatz steht zu dem grauenvollen, aber realen Kriegsgeschehen, über das da abwechselnd ebenfalls berichtet wird. Mit überbordender Fabulierlust werden hier viele kleine, oft in sich abgeschlossene Episoden und Kurzgeschichten erzählt. Das reicht vom in flagranti entdeckten Seitensprung über die feierliche Einweihung des neu angebauten Wasserklosetts bis zum ausgelassen Dorffest, das dann plötzlich in einer Schießerei endet. Dabei agiert ein skurriles Figurenensemble, dessen wunderliche Charaktere nicht nur durch ihre balkantypische Sauf- und Fresslust, sondern auch durch allerlei körperliche und geistige Anomalien geprägt sind.

Kennzeichnend für den sehr speziellen Erzählstil von Sasa Stanisic ist eine verblüffende Unmittelbarkeit, die er auslöst, man fühlt sich ganz dicht am Geschehen, so grotesk das im Einzelnen auch sein mag. Störend ist das oft pittoreske Abgleiten in den puren Balkan-Kitsch, aber auch das narrative Konstrukt mit Passagen in Briefform, Gedichten und allerlei Listen erscheint mehr um größtmögliche Originalität bemüht als um einen logischen, nachvollziehbaren Erzählfluss. Die über all dem liegende heitere Note kollidiert natürlich mit den Kriegsgräueln, aber schon der Titel weist ja deutlich darauf hin, dass dies ein Schelmen-Roman ist, und als solcher sollte er dann natürlich auch gelesen werden.

Bewertung vom 09.12.2021
Der Mond und das Mädchen
Mosebach, Martin

Der Mond und das Mädchen


schlecht

Veritables Fiasko

Als letzter der als ‹Frankfurt-Zyklus› bezeichneten fünf Romane von Martin Mosebach hat der 2007 erschienene Band «Der Mond und das Mädchen» von der Verleihung des Büchnerpreises an den Autor profitiert. Im Feuilleton wurde sein eigentlich zutreffender als Novelle anzusehendes Buch allerdings überwiegend negativ besprochen, der sich selbst als Reaktionär bezeichnende, konservative Autor war und ist literarisch heftig umstritten.

Erzählt wird die Geschichte eines frisch vermählten, jungen Paares, das aus beruflichen Gründen von Hamburg nach Frankfurt am Main zieht, wo Hans nach dem Studium seine erste Stelle als Banker antritt. Sein vielversprechender neuer Job hindert ihn daran, mit Ina auf Hochzeitsreise zu gehen, und so reist sie mit ihrer verwitweten Mutter allein nach Ischia, während Hans sich derweil auf Wohnungssuche begibt. Nach vielen desillusionierenden Besichtigungen mietet er schließlich kurz entschlossen eine wenig attraktive, teilmöblierte Wohnung im vierten Stock eines Altbaus an einer verkehrsreichen Straße, in Nähe des Hauptbahnhofs gelegen. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr erleidet Ina einen Schock, als sie bei der Besichtigung der neuen Wohnung in ihrem künftigen Schlafzimmer eine verendete Taube findet, die sich wohl während des Gewitters dorthin verirrt hatte und nicht mehr hinaus fand, - für sie ein böses Omen! Da sie als Kunsthistorikerin noch keinen adäquaten Job gefunden hat, macht sie sich erstmal voller Elan und mit viel Geschick an die Einrichtung der provisorisch renovierten Wohnung. Danach aber fühlt sie sich nicht nur unausgelastet, sondern auch sehr einsam in dieser fremden Stadt, sie wird allmählich trübsinnig. Hans beginnt ihr auszuweichen und geht nach Feierabend gerne mal in den Schnellimbiss unten im Haus, den ein Äthiopier bewirtschaftet. Dort trifft sich im Hinterhof eine illustre Gesellschaft, zu der neben dem marokkanischen Hausverwalter Souad mit Frau Mahmoudi auch die Frau des Hausbesitzers gehört, ergänzt um diverse andere trinkfreudige Lebenskünstler und fragwürdige Existenzen. Das im Stockwerk unter ihnen wohnende Paar, ein Kunsthistoriker und eine junge Schauspielerin, lädt die neuen Mitbewohner zu einem Begrüßungstrunk ein, und durch eine Verkettung von Zufällen kommt es zu einem spontanen Seitensprung von Hans mit der Nachbarin, der glücklicher Weise unentdeckt bleibt. Diese Geschichte einer hoffnungsvoll beginnenden Ehe endet damit, dass die mittlerweile völlig desorientierte Ina, von einer ziellosen Wanderung bei Vollmond zurückkehrend, dem bei der Hinterhof-Clique sitzenden Hans eine Bierflasche über den Kopf haut.

Bis hierhin wäre das Buch eine klassische Novelle mit dem gattungstypisch unerhörten Ereignis am Ende. Aber der notorisch konservative Martin Mosebach hat noch eine Seite als letztes Kapitel angefügt, in dem die Schwiegermutter in ihrem Weihnachts-Rundbrief von Hans und Ina berichtet, die jetzt mit zwei Kindern in einer schmucken Villa im Taunus wohnen würden. Den spektakulären Gegensatz dazu bildet vorher das multi-ethnische und durch das Nachbarpaar auch intellektuell-kulturell geprägte Figuren-Ensemble der zuvor erzählten Geschichte. Deren allesamt exotische Figuren ergehen sich in vielerlei Gesprächen und Diskussionen zu persönlichen Problemen und Alltagssorgen ebenso wie zu philosophischen Fragen. Wiederkehrende Thematik bei Mosebach ist auch hier die Stadt, deren unter anderem durch Migration bedingten, ständigen Wandel er mit scharfem Blick für Details schildert.

In diesem ironisch grundierten Roman werden elementare Fragen nach gesellschaftlicher Orientierung aufgeworfen und unverkennbar reaktionär beantwortet, wobei auch mystische Elemente eingeflochten sind. Die unterhaltsame Multikulti-Geschichte mit ihrer Infragestellung der bürgerlichen Ehe wird stilistisch altväterlich und teilweise arg plakativ erzählt. Das unsägliche Ende aber rückt sie ins Kitschige und degradiert sie damit literarisch zum einem veritablen Fiasko.

Bewertung vom 06.12.2021
Im Menschen muss alles herrlich sein
Salzmann, Sasha Marianna

Im Menschen muss alles herrlich sein


gut

Unsentimentale Migrations-Geschichte

Mit dem bei Tschechow entlehnten Titel «Im Menschen muss alles herrlich sein» hat die in Wolgograd geborene Sasha Marianna Salzmann in ihrem zweiten Roman ironisch auf die Realität in der Sowjetunion hingewiesen. In dieser korrupten, menschen-verachtenden Diktatur wirkte die Aufforderung, etwas aus sich zu machen, nämlich wie der blanke Hohn. Die zwei Generationen umfassende Geschichte überspannt einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten und demonstriert die Verhältnisse am Beispiel zweier Freundinnen und ihrer Töchter während der 1970er bis in die 1990er Jahre sowie ihre Schicksale nach der Emigration bis ins Jahr 2015.

Die Feier zum 50ten Geburtstag von Lena, der wichtigsten Protagonistin, umschließt diesen zweiteilig aufgebauten Roman klammerartig. Im ersten Teil wird von ihrer Kindheit in Gorlowka erzählt, dem ehemaligen Kaliningrad in der heutigen Ukraine. Während der Sommerferien staunt sie bei ihrer Großmutter in Sotschi über die mondäne Gesellschaft in dem Badeort, die in krassem Kontrast steht zu den ärmlichen Verhältnissen, in denen ihre Oma dort lebt. Später verbringt die herausragende Schülerin ihre Ferien jeweils in einem Pionierlager und beendet schließlich die Schule mit Auszeichnung. Trotzdem fällt sie durch die Aufnahmeprüfung für ein Medizinstudium. Erst im zweiten Anlauf wird sie angenommen, weil ihre Mutter als Leiterin eines Chemiewerkes all ihre Beziehungen hat spielen lassen. Und wie Lena später als Ärztin erkennen muss, ist auch das Gesundheitswesen durch und durch korrupt. Mit 24 heiratet sie schließlich eine Partybekanntschaft und bekommt ihre Tochter Edita. Irgendwann gibt sie dann dem Drängen ihres jüdischen Mannes nach, in den Westen auszuwandern, sie landen in Jena. Eines Tages ruft dort die ehemalige Friseuse Tatjana an, eine gute Freundin ihrer Cousine aus Mariupol. Ihr deutscher Freund hat sie in Berlin sitzenlassen, nachdem sie schwanger wurde und Nina geboren hat. Nun bittet sie Lena um Hilfe und bekommt sie auch, die beiden Frauen werden beste Freundinnen. Ihre Töchter aber können wenig miteinander anfangen, die lesbische Edita als ewiges Enfant terrible und die eigensinnige Journalistin Nina sind gar zu verschieden.

Eingebettet in diese multiperspektivisch erzählte Geschichte mit den doppelten Psychogrammen ihrer sich ebenso russisch-ukrainisch wie deutsch fühlenden Protagonistinnen sind genau beobachtete Szenen aus dem Alltag der völlig ungleichen Figuren. Allen gemeinsam sind ihre Probleme, sich in die deutsche Gesellschaft einzuleben, mit der sie sich streng rational auseinander setzen müssen, während die Heimat rein emotional beurteilt wird. Über Kinder heißt es an einer Stelle im Buch geradezu defätistisch: «Das Leben läuft einem aus dem Ruder, also setzt man ein weiteres Glied in diese Kette, in die man selbst eingespannt wurde. Dann ist man wenigstens dort nicht der letzte Depp, da kommt noch eine nach mir». Diese desaströsen Mutter-Tochter-Beziehungen sind einerseits geprägt von Verlusterfahrungen der Mütter und andererseits von der schwierigen Identitätssuche der Töchter. Die Männer aber sind allenfalls Randfiguren in diesem vielschichtigen Roman, über sie verliert die sich selbstbewusst als ‹nonbinär› outende Autorin kaum ein Wort.

Der unsentimental erzählte Roman zeichnet mit geradezu sezierendem Blick und in wunderbar einprägsamen Bildern ein Panorama des auf die Perestroika folgenden Chaos, an den sich für die Migrantinnen ein dornenreicher Neuanfang anschließt. Ihr schwieriges Leben war mitbestimmt von ethnischen Spannungen und den politischen Konflikten im Donbas und im Kaukasus. Erzählerisch fehlt es aber auch nicht an Humor, wie er am deutlichsten bei der jüdischen Geburtstagsfeier am Ende zum Tragen kommt. Im zweiten Teil des Romans verliert sich diese Fabulierlust allerdings ein wenig und es entstehen Lücken im Erzählfluss dieses äußerst komplex gebauten Romans, der fast alles fühlbar macht, aber so gut wie nichts erklärt.

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