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Benutzername: 
meany
Wohnort: 
Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 136 Bewertungen
Bewertung vom 20.10.2022
Die Passage nach Maskat
Rademacher, Cay

Die Passage nach Maskat


ausgezeichnet

Auf dem Meer sterben

Im Jahr 1929 tritt der Berliner Fotojournalist Theodor Jung zusammen mit seiner Frau Dora und deren Familie eine Schiffsreise durch den Suezkanal nach Maskat an. Wenige Tage nach Ablegen wird er von einer totalen Krise seiner Wahrnehmung heimgesucht: während er verzweifelt nach der an Bord verschwundenen Dora sucht, leugnen alle anderen Passagiere, sie jemals auf dem Dampfer gesehen zu haben. Dabei muss er noch befürchten, verdächtigt zu werden, dass er sie schon in Marseille beseitigt habe. Seine heimlichen Ermittlungen ergeben einen spannenden Krimi, erzählt aus Jungs Perspektive.

Die Liste der dramatis personae ist überschaubar und charakterlich sorgfältig ausgearbeitet, wenn auch diverse Figuren sehr rätselhaft auftreten, was die Spannung am Lodern erhält. Von Anfang an hat mir der differenzierte, gewandte, aber niemals prätentiöse Stil Rademachers Lust auf das Lesen gemacht. Zeit- und Lokalkolorit setzt er atmosphärisch ein, meist in kurzen Anmerkungen und Nebensätzen, die Vorkommnisse stellt er dadurch in den Zusammenhang der geschichtlichen Abläufe, sie schweben also keineswegs im luftleeren Raum.

Auch die zahlreichen nautischen Fachbegriffe zeugen von genauen Recherchen und Durchdringen des Themas. Exotisches Flair würzt diesen Krimi bei Ausflügen nach Port Said und zu den ägyptischen Pyramiden. Mit den Schilderungen der Landschaft und der Naturgewalten setzt er ein packendes Kopfkino in Gang.

Mit Schwager Ernst kommt der erstarkende Nationalsozialismus ins Spiel und damit politische Verwicklungen, auch durch die Intrigen des unheimlichen Lüttgen. Im Laufe zunehmender Erkenntnisse nimmt die Angelegenheit dann immer deutlichere Formen an bis zum überraschenden Schluss.

Diesen flott geschriebenen Krimi mit Tiefgang im wahrsten Sinne des Wortes kann ich jedem empfehlen, der nicht nur an oberflächlicher Action interessiert ist.

Bewertung vom 28.09.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


weniger gut

Das Leben ist eine temporäre Eigenschaft der Materie

Normalerweise ist ein Wälzer von 830 Seiten für mich gar kein Problem, aber die haben sich diesmal doch ganz schön gezogen. Die misanthropischen Ergüsse eines sich auf seinen Suizid Vorbereitenden habe ich nur ertragen in der Hoffnung, dass es irgendwann eine Wendung gibt, die dieses Elend mit Sinn erfüllt. Das leistet aber noch nicht einmal die schon im Waschzettel angesagte Begegnung mit der Besitzerin eines Hundes namens Toni. Aber ich habe tapfer und entschlossen durchgehalten, von einer gelinden Spannung getrieben, wer wohl die anonymen Schreiben verfasst hat und: tut er es am Schluss oder tut er es nicht? Das wurde mir im Laufe der Lektüre aber auch immer egaler.

Leider entbehrt dieses Werk völlig der Dynamik und Dramatik von "Patria", in der sich mir anhand von ineinander verflochtenen Einzelschicksalen die ganze verfahrene Geschichte der baskischen Freiheitsbewegung offenbarte: im Mauersegler geht es um die Depression eines singulären Mannes, der in sich zu viele verschiedene Probleme vereinigt, die teilweise auf gesellschaftliche Zustände zurückzuführen sind, das kommt aber nur ganz verstreut zu Tage, so dass sich kein schlüssiges Bild ergibt.

Diese "Chronik eines angekündigten Todes" lässt durch die Tagebuchform eine chronologische Erzählweise erwarten, doch wird dies schon bald konterkariert durch viele Rückblenden, in denen sich der Ich-Erzähler bestimmt nicht absichtlich selbst als unsympathisch charakterisiert. Schuld an seinem Unglück sind grundsätzlich andere, und dass man als Leser daran zweifelt, hat Aramburu bestimmt so angelegt. Kein Wunder, ist er doch aufgewachsen in einer Familie, in der die Mutter ihrem Ehegatten im wahrsten Sinne des Wortes in die Suppe spuckt, während dieser im Suff die Innung blamiert. Auch die zwei Brüder sind sich nicht grün, schmerzhafte Reminiszenzen an ein quälendes Eheleben, die Verachtung des vermeintlich zurückgebliebenen Sohnes und die Mühen seines Lehrerberufs vervollständigen das Bild.

Sympathieträger sind allenfalls der Hund Pepa und Àgueda, die werden nach Strich und Faden benutzt wie auch die Sexpuppe Tina. Einen roten Faden bilden die Mauersegler, an sich ein schönes Symbol, aber auch nicht weiter ausgeführt, und die anonymen Briefe. Viel Abstoßendes wird einem zugemutet: diverse Hautkrankheiten und merkwürdige Sexualpraktiken. Die sparsamen Einwürfe schwarzen Humors sind nicht so richtig zum Lachen. Am meisten interessiert hat mich noch der literarisch-philosophische Zettelkasten, der von einem Fundus ausgeprägter Bildung zeugt.

Was will uns dieser Roman sagen? Ich denke, er gibt gut nachvollziehbar Einblick in die Geistesverfassung eines Depressiven, vielleicht können Psychiater ihre Schlüsse daraus ziehen. Ich werde jedenfalls nicht richtig schlau daraus, habe eher noch Bedenken, dass gefährdete Konsumenten noch bestätigt werden auf ihrem Weg die Rolltreppe abwärts.

Bewertung vom 18.09.2022
Die Schule der verrückten Träume Bd.1
Beckerhoff, Florian

Die Schule der verrückten Träume Bd.1


ausgezeichnet

Die unmittelbare Begegnung zweier unvereinbarer Wirklichkeiten

Tough ist Johanna als Galakto-Joe, wenn sie ihren Teil dazu beiträgt, die Welt zu retten, aber sie muss lernen, ihre Träume zu beherrschen, damit diese nicht ihren Alltag überlagern.

Eine originelle Idee ist das, die psychischen Vorgänge während unseres Schlafs zum Thema eines Fantasybuchs zu machen, das hat schon fast Freudsche Dimension. Ob sie nun Ängste in den Albträumen nachvollziehen oder mentale Kräfte in den Wunschträumen mobilisieren: sie sind Ausdruck unserer ureigensten Persönlichkeit.

Und das verpackt Florian Beckerhoff in eine richtig spannende Geschichte. Großartig führt er ab Seite 61 den Lesern die Quintessenz des Heilungsprozesses vor Augen, die diese besondere Ferienschule den geschädigten Jugendlichen angedeihen lässt mit Hilfe der Traumalla. Wie er nicht nur Versatzstücke aneinanderreiht wie in billiger Fantasy, sondern eine innere Logik entwickelt, hat fast schon Michael-Ende-Format, nur nicht ganz in dessen ausgefeilter Komplexität.

Richtig aufregend wird es, wenn ein irregeleiteter frustrierter Mitschüler versucht, die segensreiche Einrichtung zum Bösen zu missbrauchen, indem er die Büchse der Pandora öffnet. Wie die pfiffigen, tapferen Kinder sich dagegen wehren, macht Mut. Indem der Autor die Psyche visualisiert und Auswege aufzeigt aus verfahrenen Situationen, ist das Buch in der Lage, albtraumgefährdeten Mädchen und Jungen die Ängste abbauen zu helfen. Das ist fast schon Bibliotherapie.

Bewertung vom 15.09.2022
Ich verliebe mich so leicht
Le Tellier, Hervé

Ich verliebe mich so leicht


gut

Diese dunkle Nacht der Seele

Leicht liegt das schmale Bändchen in der Hand, das Titelbild lässt eine Flugreise assoziieren. Wegen des Titels, eines Zitats, erwartet man eine Ich-Erzählung, aber dann entsteht die Geschichte anscheinend erst mit dem Schreibeprozess eines auktorialen Chronisten, der andererseits wieder tiefe Einblicke in die Psyche des namenlosen Protagonisten gewährt, auch unter Zuhilfenahme eines akribisch beschriebenen Traums.

Inhalt dieser kaum Roman zu nennenden Novelle ist die Dynamik einer von vornherein zum Scheitern verurteilten Liebesbeziehung, die wohl nur in der Fantasie des Protagonisten existiert: das Auf und Ab zwischen Hoffnung und Enttäuschung - er liebt sie, sie liebt ihn nicht. Alles in allem geht das Ganze aus wie das Hornberger Schießen.

Zahlreiche Bezüge zu Literatur und Film, aber auch Sprichwörtern reflektieren den Vorgang des Schreibens, das wiederum spiegelt das Führen eines Tagebuchs seitens des Helden. Die Kapitelüberschriften wecken Erwartungen bei den Lesern, die dann nicht erfüllt werden. Blanke Ironie bricht sich fortwährend Bahn, vom Titel des Buchs (ein Zitat des seinerseits tragischen Helden Romain Gary) über die Bezeichnung "Roman" und die Kapitelüberschriften bis hin zu den abschließenden Dankesbekundungen an kommerzielle Einrichtungen des Tourismus.

Nach dem einzigartigen und verdienten Erfolg der "Anomalie", die ein großartiges Gedankenexperiment erzählerisch grandios ausführt, hat der Verlag eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2007 ausgegraben und mit typographischen Mitteln aufgebläht, die die sprachlichen Möglichkeiten des Autors schon erahnen lässt, aber kaum mehr als eine Fingerübung darstellt. Wegen des bemerkenswerten Stils und der Doppelbödigkeit vergebe ich dennoch drei Punkte.

Bewertung vom 31.07.2022
Wie wir die Welt retten wollten und dabei aus Versehen das Bernsteinzimmer fanden
Lindner, Anni E.

Wie wir die Welt retten wollten und dabei aus Versehen das Bernsteinzimmer fanden


ausgezeichnet

Mein Traumhühnermüllretterprinz

Der anfängliche Hinweis auf das Engagement der Autorin als Heilsarmeeoffizierin stimmte mich erst einmal skeptisch im Hinblick auf die damit verbundene weltanschauliche Prägung. Doch außer dass das ganze Geschehen und der Umgang der Figuren damit durchdrungen ist von einem für mich akzeptablen allgemeinen Ethos und Sophie in heiklen Situationen Kraft schöpft in völlig kindgemäßen Gebeten, ist es einfach ein herzerfrischend anderes Kinderbuch mit einer sympathischen kinderreichen Familie und einem aufregenden Kriminalfall.

Dass auch die Liebe dabei nicht zu kurz kommt mit mehr oder weniger dramatischen Verwicklungen, aber einem insgesamt optimistischen Ansatz, wirkt sich noch ein bisschen wie das Salz in der Suppe aus.

Die Themen Umweltschutz, Klimawandel und die Unrechtstaten im Nationalsozialismus sind ernst und erfordern sensible Aufklärung. Dass die Kinder das alles verkraften können, verdanken sie ihrer unverbrüchlichen Solidarität und wie sie sich in ihrer Verschiedenheit ergänzen, unterstützt von verständnisvollen, einfühlsamen Eltern. Das alles erzeugt einen hoffnungsfrohen Tonfall.

Der Einstieg in diese ganze Petitionsangelegenheit fiel mir nicht ganz leicht, ich fand das Drumherum etwas weitschweifig. Später wurde mir klar, dass das alles notwendig war als Auftakt zu den Ereignissen und Erkenntnissen, die völlig folgerichtig auseinander resultieren bis hin zu dem Sensationsfund am Ende.

Insgesamt würde ich den gut lesbaren, in einem glaubwürdigen Stil verfassten Kinderkrimi allen Leseratten ab 10 von Herzen empfehlen.

Bewertung vom 26.07.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


sehr gut

In der Sprache der Sioux kein Wort für "Abschied"

Das neueste Werk meines Lieblingsautors Alex Capus: da habe ich ohne weitere Überlegung zugegriffen und mich sehr auf die Lektüre gefreut. Nachdem mir bereits das Exposé sehr zusagte, recherchierte ich ein bisschen und stieß auf den Film "Die Frau, die vorausgeht" mit Jessica Chastain und vor Allem auf die Romanbiografie "Die Zwischengängerin" von Thomas Brunnschweiler, über dessen 2021 veröffentlichtes Buch ich jedoch wenig finden konnte. Warum greift Alex Capus ein Jahr danach das gleiche Thema wieder auf? Diese Frage ist für mich weiterhin offen - auf jeden Fall werde ich mich in das Konkurrenzprodukt auch bei Gelegenheit hineinvertiefen.

Eine bemerkenswerte Frau war Susanna Faesch alias Caroline Weldon allemal. Ihre Eigenwilligkeit tritt schon in der ersten Szene vor Augen, als sie sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden kindlichen Gewalt gegen den Angst einflößenden Wilden Mann wehrt. Köstlich, wie sie später diese Beziehung ins Gute wenden kann. Kein Wunder bei einer Mutter, die ihren Mann und die Söhne verlässt, um sich in der Neuen Welt zusammen mit Susanna und einem neuen Partner eine völlig andere Existenz aufzubauen.

Alle geschilderten Fakten beruhen auf Tatsachen, die Geschehnisse sind aber eingefärbt in diesen typischen unverwechselbaren Capus-Sound, der die dramatischsten Entwicklungen leichthin und beschwingt als völlig folgerichtig darstellt. Eigentlich ergibt sich eine Wendung aus der anderen, und durch ihr Talent, ihre Lebenskunst und charakterliche Stärke wirft Susanna nichts um, sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, und alles was sie anpackt gelingt ihr auch.

Flott und vergnüglich liest sich das in einem Rutsch weg, und trotzdem legte ich das Buch am Ende etwas irritiert zur Seite, denn mir fehlt der geschlossene Kreis, der geschürzte Knoten, besonders im Hinblick auf die Verlagsankündigung. Was ich als das zentrale Element vermutet hatte, nimmt im Gesamttext weniger als ein Drittel ein und endet nach einer kurzen Begegnung, die Potenzial zu interessanten weltanschaulichen Diskursen geboten hätte, sehr abrupt. Dem Wikipedia-Artikel entnehme ich, dass es im Anschluss an die Reise ins Reservat durchaus noch Berichtenswertes gegeben hätte, aber wohl nicht aus der Sicht von Alex Capus.

Trotzdem habe ich die Lektüre genossen, denn diesem Autor gelingt es immer wieder, historische Fakten durch Ironie und gespiegelt in unseren modernen Augen sehr pointiert darzustellen, wie z.B. das Soldatenleben in der Fremdenlegion, der Bau der Brooklyn-Bridge und die Unbequemlichkeiten des Reisens gerade für eine Frau.

Auf weitere Bücher des Verfassers werde ich mich auch weiterhin freuen, aber bisher unübertroffen sind für mich "Léon und Louise" und "Königskinder".