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Bücherfreundin

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Insgesamt 294 Bewertungen
Bewertung vom 11.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Beeindruckend und bewegend
In ihrem Debütroman "Terafik" erzählt Nilufar Karkhiran Khozani ihre beeindruckende Familienbiographie.
 
Wir schreiben das Jahr 2016. Die 32-jährige Nilufar lebt in Berlin und arbeitet als Psychologin in einer Rehaklinik in Brandenburg. Seit kurzem ist sie mit ihrer Freundin Alex zusammen, zur deutschen Mutter hat sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ihren in Iran lebenden Vater Khosrow hat sie seit 5 Jahren nicht mehr gesehen. Khosrow lädt sie ein, nach Iran zu kommen, damit sie endlich ihre Familie kennenlernt. Nilufar spricht nur wenig persisch, sie ringt mit sich und lässt sich schließlich vom Vater zu der Reise überreden, die sie für vier Wochen nach Iran führen wird.
 
Da sie mit ihrer Geburt automatisch iranische Staatsbürgerin wurde, ist der iranische Pass schnell besorgt. Sie füllt ihren Koffer mit Gastgeschenken für die zahlreichen Familienmitglieder und begibt sich auf die weite Reise. Am Flughafen in Teheran warten neben ihrem Vater viele Verwandte auf sie und nehmen sie herzlich in Empfang.  
 
Die Autorin erzählt die Geschichte auf zwei Zeitebenen. Im Hier und Jetzt begleiten wir Nilufar in Iran vier Wochen lang bei Verwandtenbesuchen und Ausflügen. Auf der zweiten Zeitebene erzählt die Autorin die bewegende Geschichte ihres Vaters, der Ende der siebziger Jahre nach Deutschland kam und Elektrotechnik studierte. Sie erzählt von der gemeinsamen Zeit mit den Eltern in Gießen und dem Leben in Rabenau, wo der Vater eine eigene Firma gründete. Neben den beiden Erzählsträngen enthält das Buch auch Chatverläufe zwischen Nilufar und ihrem Vater. 

Nilufar Karkhiran Khozanis kraftvoller Schreibstil hat mich sehr beeindruckt. Sie beschreibt die Familienmitglieder liebevoll und authentisch und lässt uns auch tief in ihre eigene Gedanken- und Gefühlswelt blicken. Die Beziehung zum Vater ist distanziert, zumal dieser oft abwesend ist und Nilufar daher viel Zeit mit ihrer Cousine Narges und deren Eltern verbringt. Mit ihren Schilderungen bringt sie uns den Alltag iranischer Familien nahe und beschreibt die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Sie bewegt sich in einer vollkommen anderen Welt, begegnet familiären und gesellschaftlichen Traditionen und muss feststellen, dass sie sich ohne Begleitung in der Öffentlichkeit nicht frei bewegen kann. 

Das Buch, das neben der Familiengeschichte der Autorin und ihrer Identitätssuche auch sehr eindrucksvoll die Zerrissenheit eines Landes beschreibt, hat mir sehr gut gefallen - Leseempfehlung! 

Bewertung vom 09.08.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Gravierende Veränderungen
Die österreichische Autorin Doris Knecht erzählt in ihrem neuen Roman "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" die Geschichte einer Frau, die mit Mitte Fünfzig vor gravierenden Veränderungen steht. Sie ist alleinerziehend, ihre Kinder Max und Mila, die Zwillinge sind, werden nach dem Abitur auf eigenen Füßen stehen. Die 130 qm große Wohnung wird für die namenlose Ich-Erzählerin unbezahlbar, da ihr Exmann keinen Mietzuschuss mehr an sie zahlen wird. Obwohl sie Veränderungen hasst, wird sie sich eine neue, bezahlbare Bleibe suchen und sich von vielen Dingen trennen müssen.

Die Protagonistin lässt ihr Leben Revue passieren. Sie ist das älteste Kind in ihrer Familie, nach ihr bekamen die Eltern zwei Zwillingsmädchen, nach zwei Jahren zwei weitere Zwillingsmädchen. Die Schwestern sind blond wie die Mutter, nur die Ich-Erzählerin hat dunkle Haare. Sie galt als unsportlich, war immer gern für sich und eher ihren Büchern zugewandt, während die Schwestern im Hochleistungssport aktiv waren und von den Eltern gefördert wurden. Neben den Schwestern hat sie sich immer unsichtbar gefühlt, und das ist noch heute so.

Während sie mit ihrer Wohnungssuche beschäftigt ist, lässt sie ihren Gedanken freien Lauf. Wir erfahren dabei viel über ihre Vergangenheit und ihre Ansichten. Sie blickt zurück auf ihre Kindheit und das Verhältnis zu den Eltern, ihre Freundschaften und ihr Berufs- und Liebesleben. Das geschieht mit schonungsloser Offenheit, vollkommen unsentimental und authentisch.

Doris Knecht ist eine begnadete Erzählerin, die ihre Protagonistin ganz wunderbar skizziert und auch sehr viel ihres feinen Humors in die Geschichte einfließen lässt. Das Buch ist in zahlreiche kurze Kapitel mit passenden Überschriften gegliedert und sehr kurzweilig. Es ist nicht spektakulär, es beschreibt das wahre Leben, und es ist auch ein Buch über berührende Themen wie Mutterschaft und Loslassen. 

Es hat mir sehr viel Freude bereitet, den Gedankengängen der Ich-Erzählerin zu folgen und sie auf ihrem Weg in ihr neues Leben zu begleiten. Ich fand mich oft wieder in den Texten, konnte so vieles nachempfinden und habe dabei auch immer wieder meine eigene Vergangenheit reflektiert.

Die ruhige und in intelligentem Sprachstil erzählte Geschichte hat mir sehr gut gefallen - absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 07.08.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Zutiefst berührend und aufwühlend
In ihrem neuen Roman "Simone" erzählt Anja Reich die Geschichte ihrer Freundin Simone, die sich im Oktober 1996 mit 27 Jahren das Leben genommen hat.
 
Die 28-jährige Anja ist bereits verheiratet, hat einen kleinen Sohn und arbeitet in ihrem Beruf als Journalistin in Festanstellung, während ihre Freundin, die ein Jahr jüngere Simone, immer noch Single ist und ein Studentenleben führt. Simone ruft an, aber Anja hat keine Zeit, weil ihr Sohn und ihr Vater ihre Geburtstage feiern. Am nächsten Tag ruft Simone sie in der Redaktion an, aber wieder hat sie keine Zeit, da sie einen Artikel zu Ende schreiben muss. Sie wimmelt Simone ab - und zwei Stunden später ist die Freundin tot.
 
Anja fragt sich nach dem Warum und sucht nach Antworten. 10 Jahre nach Simones Selbstmord trifft sie sich mit ihrem Bruder André, der versucht, das Geschehene zu vergessen. Es vergehen weitere 10 Jahre, und Anja sucht Simones Eltern Dana und Ulrich auf. Von nun an besucht sie sie oft, sie führen intensive Gespräche und sehen sich alte Fotos an. Anja erhält Einsicht in alle Unterlagen und Dokumente ihrer Freundin, darf ihre Kalender, Briefe, Dokumente und Tagebücher lesen. Darüber hinaus führt sie Gespräche mit mehreren Experten zu den Themen Suizid und Depressionen und nimmt Kontakt zu Simones Cousine Miriam, ihren Freunden und Bekannten auf.
 
Nach und nach blättert sich Simones Leben auf, wir erfahren vieles über ihre Kindheit, ihre Freundschaften und ihr Liebesleben. Das Verhältnis zu den Eltern ist eng, aber schwierig. Auch Anjas Leben fließt in den Roman ein, die Mädchen lernen sich kennen, als Anja und Simones Bruder André ein Paar werden. Damals ist Simone 15, Anja 16 Jahre alt. Sie werden Freundinnen, als André seinen Grundwehrdienst ableistet. 

Das in schönem Sprachstil verfasste Buch hat mich sehr berührt und gefesselt. Anja Reich dokumentiert nicht nur Simones kurzes Leben, sondern auch das ihrer Eltern und Großeltern. Sie schildert das Aufwachsen in der DDR und fragt sich, ob Simone den Systemwechsel vielleicht nicht verkraftet hat, dass sie vor der Wende innerhalb der alten Regeln und Strukturen mehr Halt fand. Mit großer Offenheit beschreibt sie ihre Schuldgefühle, sie fragt sich immer wieder, weshalb sie nicht erkannt hat, wie schlecht es Simone ging und ob sie ihren Selbstmord hätte verhindern können. Der Autorin ist es gelungen, uns nicht nur Simones Gedankenwelt, sondern auch ihre Gefühlswelt sehr nahezubringen. Ich habe oft mit der jungen und haltlosen Frau mitgefühlt, ihre seelischen Nöte und Sehnsüchte verstanden, aber ihre Handlungsweisen auch oft nicht nachvollziehen können.

Der emotionale Roman, der mich noch lange beschäftigen wird, hat mich erschüttert und aufgewühlt, er ist keine leichte Kost - von mir absolute Leseempfehlung!

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.08.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Großartiger und zutiefst berührender Roman
Der Fischer Verlag hat "Marschlande" veröffentlicht, den neuen Roman von Jarka Kubsova, in dem diese die berührende Geschichte zweier Frauen in unterschiedlichen Zeiten erzählt. Beide verbindet der Wunsch nach Selbstbestimmung.
 
Britta Stoever ist 45 Jahre alt, promovierte Geographin und zieht mit ihrem Mann Philipp und den beiden Kindern Mascha und Ben von Hamburg nach Ochsenwerder in Marschlande. Die Familie suchte schon länger nach einem bezahlbaren Haus, und Philipp verliebte sich sofort in das Anwesen. Er ist glücklich in der neuen Bleibe, während es Britta schwer fällt, sich einzugewöhnen. Die Menschen im Dorf sind ihr gegenüber zurückhaltend, und sie vermisst ihre Forschungstätigkeit an der Universität. Auf einer Erkundungstour entdeckt sie den Abelke-Bleken-Ring. Ihre Neugier ist geweckt, sie möchte wissen, wer Abelke war. Sie beginnt zu recherchieren und erfährt durch Ruth, eine Bewohnerin des Ortes, weitere Details über die Bäuerin Abelke, der großes und grausames Unrecht widerfuhr.
 
Auf einer zweiten Zeitebene im 16. Jahrhundert begleiten wir die junge und kämpferische Abelke Bleken, die nach dem Tod der Eltern den großen Bauernhof allein mit Hilfe eines Knechts und zwei Mägden weiterführt. Nach einem Sturm warnt sie die Bewohner des Dorfes vor einem weiteren Sturm. Niemand nimmt sie ernst, und bei der Allerheiligenflut 1570 kommen viele Menschen ums Leben, Tiere verenden, Häuser werden zerstört. Der Deichvogt fordert die Bauern auf, die Deiche wiederherzustellen. Da Abelke weder über Geld noch über Arbeitskräfte verfügt, ist es ihr unmöglich, der Forderung innerhalb der gesetzten Frist nachzukommen, und ihr wird wegen des Verstoßes gegen die Deichpflicht schließlich der Hof entzogen.
 
Jarka Kubsova erzählt in wunderbarem Sprachstil in sich abwechselnden Kapiteln die Geschichte der beiden Frauen und zeichnet dabei die Charaktere authentisch und bildhaft. Sie lässt uns teilhaben an ihrem Leben, ihrer Gedanken- und Gefühlswelt. Im Hier und Jetzt erleben wir Brittas Alltag und ihre zunehmende Unzufriedenheit mit ihrer persönlichen Situation und fast 500 Jahre zuvor das harte Leben der jungen Abelke. Der Bäuerin werden schon allein Steine in den Weg gelegt, weil sie eine alleinstehende Frau ist. Es hat mich erschüttert, wie sie durch die Dorfbewohner ausgegrenzt und verraten wurde und sich einem unmenschlichen Gerichtsverfahren stellen musste.
 
Das Buch hat mich von Anfang an gefesselt, ich konnte es kaum aus der Hand legen. Abelkes Geschichte hat mich zutiefst berührt und traurig gemacht, die Haltung und der Einfluss der Kirche hat mich entsetzt. Sehr interessant fand ich die ausführlichen Beschreibungen der Landschaft und der rauen Natur. Das Buch über Abelkes tragische Geschichte beruht teilweise auf wahren Gegebenheiten. In ihrem sehr lesenswerten Nachwort ergänzt die Autorin ihren Roman durch weitere historische Fakten über Abelke Bleken und die damaligen Umstände in Marschlande.
 
Absolute Leseempfehlung von mir für diesen großartigen und zutiefst berührenden Roman!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.08.2023
Frag nach Jane
Marshall, Heather

Frag nach Jane


ausgezeichnet

Aufwühlender Roman über ein wichtiges Thema
In ihrem Debütroman "Frag nach Jane", in dem es um das zentrale Thema Selbstbestimmte Mutterschaft geht, erzählt die kanadische Autorin Heather Marshall in drei Handlungssträngen, die am Ende zusammengeführt werden, die Geschichte dreier Frauen.

Toronto 1960: Die junge Evelyn Taylor erwartet von ihrem verstorbenen Verlobten ein Kind. Sie wird von ihrem Vater in das Sankt Agnes-Heim gebracht, einem Heim für ledige Mütter, das von Nonnen geführt wird. Dort macht man ihr klar, dass ihr Kind nach der Geburt an ein Ehepaar zur Adoption gegeben wird. Evelyn erlebt eine traumatische und leidvolle Zeit im Heim, ist Schikanen ausgesetzt und sämtlicher persönlicher Freiheiten beraubt. Später absolviert sie ein Medizinstudium. Neben ihrer Tätigkeit als Hausärztin hilft sie verzweifelten Mädchen und Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind. Sie führt Schwangerschaftsabbrüche durch und schließt sich dem illegalen Abtreibungsnetzwerk "Jane" an.

Toronto 1979: Die 18-jährige Nancy begleitet ihre Cousine Clara, die ihr sehr nahesteht, zu einer Abtreibung. Ein Jahr später, sie lebt inzwischen nicht mehr bei ihren Eltern, erhält sie von ihrer demenzkranken Großmutter einen Hinweis und hat Grund zu der Annahme, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern sind. Wenige Jahre später wird auch Nancy ungewollt schwanger und sucht auf Vermittlung von "Jane" Evelyn Taylor auf. Zwei Jahre später schließt sie sich dem Netzwerk an.

Toronto 2017: Angela, die Leiterin eines Antiquitätenladens, und ihre Frau Tina wünschen sich ein Baby. Das Kinderzimmer ist bereits eingerichtet, doch Angela hatte nach mehreren Kinderwunschbehandlungen Fehlgeburten. In einer Kommode findet sie den Brief einer ihr unbekannten Mutter an ihre Tochter, in dem sie dieser offenbart, dass sie nach ihrer Geburt adoptiert wurde. Der Brief stammt aus dem Jahr 2010, und Angela begibt sich auf die Suche nach der rechtmäßigen Empfängerin.

Heather Marshall beschreibt in schönem Sprachstil und mit sehr viel Empathie die Schicksale der drei Frauen. Dabei verflechten sich ganz langsam die Handlungsstränge miteinander. Die Autorin zeichnet die starken Figuren absolut authentisch und bildhaft, und sie lässt uns tief in ihre Gedanken- und Gefühlswelt blicken. Einen Handlungsschwerpunkt bildet Evelyns Leben. Wir begleiten sie ab dem Jahr 1960 und erleben ihren Aufenthalt im Heim für ledige Mütter und die unnachgiebige Härte, mit der sie dort von den Nonnen behandelt wird. Das geht unter die Haut und ist oft nur schwer zu ertragen.

Das emotionale Buch, in dem außer Abtreibung auch Adoption und unerfüllter Kinderwunsch thematisiert werden, hat mich vom Beginn bis zum überraschenden Ende gefesselt, es hat mich zu Tränen gerührt, aber auch wütend gemacht. Sehr lesenswert ist auch das Nachwort der Autorin, in dem sie u.a. das System der Entbindungsheime und der Netzwerke beschreibt und ihrer Enttäuschung über die Aufhebung des Roe-Urteils im Jahr 2022 Ausdruck verleiht.

Absolute Leseempfehlung von mir für diesen zutiefst berührenden Roman über ein wichtiges Thema!

Bewertung vom 02.08.2023
Das Licht im Rücken
Lüpkes, Sandra

Das Licht im Rücken


ausgezeichnet

Fesselnder Gesellschafts- und Familienroman
Sandra Lüpkes war mir als Autorin bislang unbekannt. Das Cover von "Das Licht im Rücken" hat mich nicht besonders angesprochen, der Klappentext dagegen sofort fasziniert. Ich mag interessante Firmengeschichten, die mit fesselnden Familienschicksalen über mehrere Generationen hinweg verknüpft sind.
 
Die Handlung beginnt im Jahr 1914, als Oskar Barnack eines Nachmittags durch die Stadt spaziert und fotografiert. Der Berliner ist dankbar dafür, dass es ihn nach Wetzlar verschlagen hat, wo er die Versuchsabteilung der Leitz-Werke leitet und mit seiner Familie eine schöne Dienstvilla bewohnen darf. Es ist ein besonderer Tag, denn er hat etwas Bahnbrechendes erfunden, das das umständliche Fotografieren mit riesigen und schweren Apparaten überflüssig machen wird. In diesem Moment kann er nicht ahnen, dass seine Erfindung, die Leica, einen weltweiten Siegeszug antreten wird.
 
Die Geschichte wird während der Zeitspanne zwischen 1914 und 1945 auf zwei Ebenen erzählt. Wir lernen die Mitglieder der Unternehmerfamilie Leitz kennen: den Patriarchen Ernst Leitz, seinen Sohn Ernst, "der Zweite" genannt, sowie dessen Tochter Elsie und die Söhne Ernst und Ludi. Ernst II. ist seit einigen Jahren verwitwet, seine Ehefrau Elisabeth hat sich das Leben genommen.
Auf der zweiten Erzählebene begegnen wir der Familie Gabriel, die das "Haus der Präsente" führt. Sie besteht aus dem jüdischen Vater Anton Gabriel, einem langjährigen Freund von Ernst II., seiner Ehefrau und den beiden Kindern Milan und Dana. 
 
1924 beschließt Ernst II., mit der Leica in Produktion zu gehen. Die neue Kamera wird ein Verkaufsschlager, und die Firma expandiert. Ernst II. heiratet Hedwig, die beste Freundin seiner verstorbenen Frau, Elsie studiert Jura. Milan Gabriel macht eine Ausbildung bei der Firma Leitz als technischer Kaufmann, seine Schwester Dana hilft dem Vater im Laden. Mit dem Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten kommt es zu dramatischen Entwicklungen und Veränderungen im Leben der beiden Familien.
 
Der Roman ist in sehr schönem Sprachstil geschrieben und liest sich flüssig. Der Autorin ist es gelungen, die interessanten Figuren authentisch und bildhaft zu beschreiben. Das Buch ist sehr spannend und nimmt den Leser mit in die schwere Zeit zweier Weltkriege. Wir folgen den Schicksalen der Mitglieder der Familien Leitz und Gabriel, erleben neben ihren Höhen und Tiefen auch ihre Tragödien. Mir hat die Geschichte, in der es um Liebe und Freundschaft, Menschlichkeit und Verrat geht, sehr gut gefallen. 
Am Ende des hochwertig und liebevoll gestalteten Buches finden wir neben einem sehr lesenswerten Nachwort der Autorin ein ausführliches Register aller realen und fiktiven Personen. Darüber hinaus gibt es im vorderen und hinteren Teil des Buches viele interessante Fotos. Passend zur jeweiligen Zeit sind im Roman Fotos der unterschiedlichen Leica-Modelle mit technischen Angaben eingefügt.
 
Leseempfehlung für diesen fesselnden und großartig recherchierten Gesellschafts- und Familienroman!

Bewertung vom 30.07.2023
Nicht ein Wort zu viel
Winkelmann, Andreas

Nicht ein Wort zu viel


gut

Nur fünf Wörter
Der Rowohlt Taschenbuch Verlag hat den neuen Thriller von Andreas Winkelmann veröffentlicht. "Nicht ein Wort zu viel" spielt in der Buchbloggerszene und erregte wegen dieses vielversprechenden Themas meine Aufmerksamkeit. Bislang kannte ich noch kein Buch des Autors und war daher sehr neugierig.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 32-jährige Buchhändlerin und Buchbloggerin Faja, deren Privatleben sich weitgehend im Internet abspielt. Sie glaubt an einen Scherz, als sie während einer Autorenlesung in einem Video auf ihrem Handy ihren Buchblogger-Freund Claas sieht. Er sitzt auf einem Stuhl, ist eng in Frischhaltefolie eingehüllt, und auf einem Pappschild, das um seinen Hals hängt, steht: "Erzähl mir eine spannende Geschichte. Sie darf fünf Wörter haben. Sonst muss dein Freund sterben".

Auf einer zweiten Handlungsebene folgen wir dem Polizisten Jaro, der während eines Einsatzes eine folgenschwere Fehlentscheidung trifft. Daraufhin kommen der Täter und auch seine Geisel ums Leben. Jaro wird mit sofortiger Wirkung von seiner Vorgesetzten degradiert mit der Auflage, Gespräche mit der Polizeipsychologin Aylin zu führen. Der Überqualifizierte wird nun mit einfachen Ermittlungsarbeiten betraut. Er ist wenig begeistert und beschäftigt sich nun mit dem Fall des 22-jährigen Thorsten. Der Sohn eines Unternehmers wird seit 10 Tagen vermisst, und Jaro begibt sich auf die Spurensuche.
Parallel begleiten wir den Polizisten Simon, der im Fall Claas Rehagen ermittelt.

Das Buch liest sich dank des angenehmen Sprachstils sehr flüssig. Jedes Kapitel endet mit einem Cliffhanger, so dass die Spannung von Beginn an auf einem hohen Level ist und beibehalten wird. Die Charaktere sind sehr gut und authentisch beschrieben, vor allem der unbeherrschte und emotionale Jaro. Ich fand es sehr interessant, Einblick in die Welt der Buchblogger zu erhalten, auch die Verknüpfung der Handlungsstränge und die daraus resultierende Zusammenarbeit der beiden doch so völlig unterschiedlichen Ermittler hat mir gut gefallen. Bei der Tätersuche tappte ich vollkommen im Dunkeln, es gab viele Verdächtige, und ich habe mich vom Autor mehr als einmal auf falsche Fährten führen lassen. Gestört hat mich das zeitweise unprofessionelle Verhalten der Polizei, z.B. wird ein entwendetes Buchmanuskript vor einer Hausdurchsuchung schnell zurückgelegt. Die Auflösung war zwar überraschend, aber das Motiv hat mich nicht wirklich überzeugen können.

Das Buch hat mir zwar gut gefallen, blieb aber insgesamt leider hinter meinen Erwartungen zurück.

Bewertung vom 29.07.2023
Herr Winter taut auf
Kuhlmann, Stefan

Herr Winter taut auf


sehr gut

"AVON bringt Schönheit direkt ins Haus"
Viele kennen sicher den Werbeslogan "AVON bringt Schönheit direkt ins Haus", mit dem die Kosmetikfirma AVON seit den sechziger Jahren ihre Produkte und den in den Anfangszeiten noch sehr ungewöhnlichen Vertriebsweg beworben hat. Die Produkte konnten nämlich von Beginn an nicht in Geschäften erworben werden, sondern nur über spezielle AVON-Beraterinnen. In seinem Debütroman "Herr Winter taut auf" erzählt Stefan Kuhlmann mit viel Herzenswärme die Geschichte eines ehemaligen Finanzbeamten, der nach dem Tod seiner Ehefrau deren Tätigkeit als AVON-Berater fortsetzt.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der frisch pensionierte Robert Winter, der kein sehr angenehmer Zeitgenosse ist. Er ist oft unfreundlich, ungesellig, pedantisch und manchmal cholerisch. Seine Frau Sophia weiß ihn zu nehmen, Bestätigung findet sie in ihrer Tätigkeit als AVON-Beraterin. Als sie durch einen Autounfall ums Leben kommt, bricht Roberts Welt zusammen. Der Lebensmut hat ihn verlassen, er verlässt kaum das Haus. Sein Leben erhält wieder Struktur, als er beschließt, nicht nur Sophias Bestellungen auszuliefern, sondern auch in ihre Fußstapfen zu treten. Er möchte "AVON-Berater des Jahres" werden und diese Auszeichnung Sophia widmen.

Roberts Ehrgeiz ist geweckt, und er beschäftigt sich nun akribisch mit der Produktpalette der Kosmetikfirma, sein Nachbar Basti gibt ihm hilfreiche und weniger hilfreiche Tipps, den Rest besorgt das Internet. Mit seiner direkten Art vergrault er anfangs etliche Kundinnen, aber im Laufe der Zeit wird sein Umgang mit ihnen behutsamer und feinfühliger, diplomatisch und taktvoll - jedenfalls meistens. Die Damen - und auch einige Herren - schätzen seinen Rat, und Roberts Kosmetikpartys sind ein Erfolg. Aber kann er es in der Kürze der Zeit wirklich schaffen, "AVON-Berater des Jahres" zu werden, zumal eine Konkurrentin alles daran setzt, ihn loszuwerden?

Wir lernen den mürrischen Robert kennen, erleben seine Trauer und begleiten ihn auf seinem neuen Weg als AVON-Berater, der Höhen und Tiefen für ihn bereithält. Es ist schön zu lesen, wie er im Laufe der Zeit tatsächlich auftaut, wie er zugänglicher und geselliger wird. Auch das Verhältnis zu seiner Tochter Miriam, das immer eher frostig war, verändert sich positiv.

Die in schönem Sprachstil mit viel Herz und Humor erzählte Geschichte hat mir gut gefallen, auch wenn sie in einigen Punkten etwas vorhersehbar ist. Der Autor beschreibt sehr liebevoll seinen Protagonisten Robert mit all seinen Stärken und Schwächen. Der Titel des Buches mit dem wunderschönen Cover passt ganz hervorragend, es gibt queere Themen, und es mangelt nicht an komödiantischen Übertreibungen.

Leseempfehlung für diesen gelungenen Debütroman, der mich berührt und erheitert hat!

Bewertung vom 26.07.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Beeindruckender Familien- und Umweltroman
In "Blue Skies", dem neuen Buch von T.C. Boyle, geht es um die dramatischen Folgen des Klimawandels, die er am Beispiel einer amerikanischen Familie aufzeigt.
 
Im Mittelpunkt der Geschichte, die in naher Zukunft spielt, steht die Familie Cullen, die in Kalifornien bzw. Florida lebt. Sie besteht aus dem Vater Frank, der als Hausarzt praktiziert, und seiner Ehefrau Ottilie, die bis vor drei Jahren in der Praxis ihres Mannes arbeitete. Ihr Sohn Cooper lebt nicht mehr zuhause, er ist Biologe und mit großer Leidenschaft als Insektenforscher tätig. Cat, die Tochter von Frank und Ottilie, hat mit ihrem Freund Todd in Florida ein Strandhaus bezogen, das dieser von seiner Mutter geerbt hat. 
 
In Kalifornien leiden die Menschen unter der brütenden Hitze und der anhaltenden Trockenheit, es besteht Waldbrandgefahr. Ottilie versucht, klimafreundlicher zu leben. Sie stellt auf Anraten ihres Sohnes einen Teil der Ernährung um und beginnt, Grillen und später Bienen zu züchten. Den Wasserverbrauch hat sie drastisch reduziert.
Für ihre Tochter Cat stellen die ständigen Regenfälle in Florida, die für das Strandhaus immer mehr zur Bedrohung werden, ein großes Problem dar. Die hohe Luftfeuchtigkeit verursacht Schimmel und Fäulnis im Haus. Cat geht keinem geregelten Beruf nach und träumt davon, sich als Influencerin einen Namen zu machen. Ihr Freund Todd ist Botschafter eines Rumherstellers und viel auf Reisen. Cat langweilt sich und legt sich zum Leidwesen ihres Freundes einen Tigerpython zu. 
Cooper lebt in der Nähe der Eltern. Seit seiner Kindheit ist er von der Natur fasziniert. Mit großer Sorge sieht er den Klimawandel mit seiner Verwüstung und dem Artensterben. Seine Liebe gilt den Insekten, was ihn eines Tages beinahe das Leben kosten wird. 
 
Der Roman ist äußerst unterhaltsam, teilweise auch humorvoll, und -  wie man es vom Autor kennt - in intelligentem und mitreißendem Sprachstil geschrieben. Wir begleiten die Mitglieder der Familie Cullen über einen Zeitraum von etwa 10 Jahren, erleben ihre Höhen und Tiefen, aber auch ihre Tragödien. Die bewegende Darstellung des amerikanischen Lebens in Zeiten des Klimawandels ist T.C. Boyle hervorragend gelungen. Liebevoll zeichnet er seine interessanten Figuren mit all ihren Schwächen und zeigt einmal mehr die Ausplünderung der Erde durch die Menschen auf.
Mir hat die Mischung aus Familien- und Umweltroman sehr gut gefallen, die Geschichte wirkt erschreckend realistisch und hat mich von Beginn an gefesselt.
 
Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman, der sehr zum Nachdenken anregt!

Bewertung vom 22.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Zutiefst berührende Geschichte
Der Dumont Verlag hat "Kontur eines Lebens", den neuen Roman des niederländischen Schriftstellers Jaap Robben, veröffentlicht.
 
Im Mittelpunkt der emotionalen Geschichte steht die 81-jährige Frieda. Ihr Mann Louis, mit dem sie seit einem halben Jahrhundert verheiratet ist, pflegt und umsorgt sie. Als er vollkommen unerwartet stirbt, muss Frieda in ein Pflegeheim umziehen. Ihr Sohn Tobias und seine schwangere Freundin Nadine unterstützen sie und kümmern sich um die Auflösung der Wohnung. Die Eingewöhnung in die neue Umgebung fällt Frieda schwer. Erinnerungen an ihre erste Liebe und an ein Ereignis, das 60 Jahre zurückliegt und um das niemand außer ihr weiß, werden wach und lasten schwer auf ihr. Es gibt unbeantwortete Fragen, und endlich setzt sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander und stellt Nachforschungen an.
 
Wir erleben Frieda auf einer zweiten Zeitebene. Im März 1963 ist sie 21 Jahre alt, lebt noch bei ihren Eltern und ist als Floristin in einem Blumenladen tätig. Ihre drei Schwestern haben bereits das Elternhaus verlassen und gehen eigene Wege. Die Gegend ist katholisch geprägt, die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst selbstverständlich. Auf einem zugefrorenen Fluss lernt sie den 10 Jahre älteren Otto kennen, der an der Universität arbeitet und glücklich mit seiner Frau Brigitte verheiratet ist. Frieda und Otto verlieben sich ineinander, und es kommt zwischen ihnen zu einem intimen Verhältnis, das nicht ohne Folgen bleibt ...

Der Autor beschreibt Friedas Leben auf sehr feinfühlige Art, die unter die Haut geht, aber niemals kitschig ist. Friedas Schicksal steht stellvertretend für das Schicksal vieler Frauen, die in den sechziger Jahren und auch noch danach schwanger waren, ohne verheiratet zu sein. Sie brachten Schande über ihre Familien und wurden nicht selten von diesen verstoßen. Jaap Robben schildert die schwere Zeit von Friedas Schwangerschaft und eine kurze Zeit danach. Es ist erschütternd, zu lesen, wie verächtlich und herzlos Frieda von ihren Eltern, ihrem Umfeld und im Krankenhaus behandelt wurde.
 
Lange hat mich kein Buch mehr so berührt und erschüttert wie dieses. Ich habe mit der jungen Frieda mitgefühlt und mitgelitten und der alten Frieda gewünscht, dass sie ihren Seelenfrieden findet. Die abwechselnd auf zwei Zeitebenen erzählte Geschichte ist in wunderbarem und sensiblem Sprachstil geschrieben, sie hat mich vom Anfang bis zum Ende gefesselt. Die Charaktere sind ebenso authentisch und großartig beschrieben wie der Zeitgeist der sechziger Jahre. Der Autor lässt uns nicht nur eintauchen in die Gedanken- und Gefühlswelt der jungen Frieda, sondern auch in die der alten, etwas eigenwilligen Frieda.
 
Absolute Leseempfehlung von mir für dieses großartige und bewegende Buch, das mich tief beeindruckt hat und noch lange beschäftigen wird!