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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 01.08.2022
Herumtreiberinnen
Wilpert, Bettina

Herumtreiberinnen


sehr gut

Herumtreiberinnen verhandelt die Situation an den Rand gedrängter Frauen im Osten Deutschlands.

Den Mittelpunkt bildet die 17jährige Manja in den 80er Jahren. Sie lernt die freigeistige Maxi kennen, trampt mit ihr und geht mit dem mosambikanischen Vertragsarbeiter Manuel eine Beziehung ein. Sie landet in der Lerchenstraße, jenem Ort, der die verschiedenen Zeitebenen des Romans zusammenführt.

In der DDR befindet sich in der Lerchenstraße eine geschlossene venerologische Station für "Herumtreiberinnen". Manja wird dort festgehalten, wird immer wieder gynäkologisch untersucht. Sie wird der brutalen "Erziehung" zugeführt, wieder ein brauchbares Mitglied der sozialistischen Gesellschaft zu werden.

Zu Zeiten des Nationalsozialismus ist in der Lerchenstraße ein Übergangslager für Zwangsarbeiter:innen, Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma und "Asoziale". Hier landet Lilu, das Kind eines "Roten" und erfährt wie Manja Freiheitsentzug und Gewalt.

In den 2000ern ist in der Lerchenstraße ein Wohnheim für Geflüchtete. Ronja ist Sozialarbeiterin und bemüht sich um gute Bedingungen für die Bewohner:innen, was nur begrenzt gelingen kann. Sie stößt auf alte Akten und beschäftigt sich mit der Vergangenheit des Hauses.

Die zeitlichen Ebenen sind miteinander verwoben, alle drei Frauen sind ähnlich alt, ähnlich klug, ähnlich suchend. Es verschränken sich individuelle Geschichten mit der Zeitgeschichte, denn, wie es für sie ausgeht, ist im Kontext der Verhältnisse zu sehen.

An der einen oder anderen Stelle stolperte ich über den Aufbau und einiges blieb für mich nicht ganz rund. Dennoch empfehle ich Herumtreiberinnen, sogar sehr, denn es leistet wichtige Aufklärungsarbeit zu deutscher Geschichte und Gegenwart, zu Gewalt und Ausgrenzung in ihrer Kontinuität, nicht nur örtlich und es macht nachdenklich.

Bewertung vom 01.08.2022
Liebesroman
Sajko, Ivana

Liebesroman


ausgezeichnet

Liebesroman ist auf den ersten Blick ein Abgesang auf die Liebe. Auf den zweiten Blick zeigt es uns die Widrigkeiten der kaputten, korrupten kroatischen Nachkriegsgesellschaft.

Fieberhaft landen wir mit Seite eins in einer atemlos-unerbittlichen Auseinandersetzung. Dem Mann entweicht "heißer Dampf". Er brüllt "mit der Kraft eines verletzten Menschen, als hätte sie ihn verbrüht, und sie (hat) kurz den Eindruck, dass durch sein Brüllen die Wände einstürzen würden, deshalb krümmt sie sich zusammen".

Eine namenlose Schauspielerin mit passablem Talent und ein namenloser Humanist, der einen Liebesroman schreibt, stehen sich gegenüber. Ein Kind ist dazwischen, es fühlt sich unbeachtet, ungeliebt, kann die Ohnmacht und Verzweiflung seiner Eltern nicht sehen.

In einem kammerspielartigen Szenario folgen wir den mit Lautstärke und Tempo spielenden Gedanken und Dialogen. Sie sind leise-ernüchtert, laut-verzweifelt, hauchend-sehnsüchtig, flüsternd-resigniert, dann wieder brüllend-knallend-angreifend.

Der Sajko-Sound begeistert und trifft mich unmittelbar. Er ist pur, intensiv, poetisch, brachial, persönlich und universell. Ich bin verliebt in diesen Text über den Niedergang, über die raumgreifende wütende Ernüchterung.

In den oberen Schichten beobachten wir die Verunmöglichung der Errettung der Liebe in das alltägliche Leben, sobald sich die Liebenden enttäuschen und verletzen.
In den Schichten darunter geht es um die sich immer weiter reduzierenden Möglichkeiten für eine Schauspielerin, die ein Kind bekommt, für einen erwerbslosen Humanisten, der eine Familie bekommt. Die Spielräume werden immer enger für beide in einer postjugoslawischen, postkriegerischen, verarmten, kapitalistischen, korrupten Zagreber Situation, in der für Kunst, für Würde und für Integrität kein Spalt frei bleibt.

Bewertung vom 15.06.2022
Schnee im Mai
Melnik, Kseniya

Schnee im Mai


gut

#schneeimmai von #kseniyamelnik ⚫

vereint neun russische Erzählungen. Sie spielen in der Peripherie, in Magadan.

1929 noch ein Fischerdorf, wurde Magadan 1930 ein großes Zwangsarbeitslager. In den 1930ern wuchs es zum Verwaltungszentrum des Gulags im Norden an. Es blieb ein wichtiger Hafen, Militärstützpunkt und Sperrgebiet bis in die 90er Jahre. 150.000 Menschen lebten in Magadan, jetzt ist es in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht und hat mehr als ein Drittel seiner Menschen verloren.

Die schattige Geschichte von Magadan scheint durch die Erzählungen, das kalte Wetter, die Abgeschiedenheit, das harte Leben, dem seine Menschen mit Leidenschaften und Begehren trotzen.
In den 70er Jahren fahren wir auf Einkaufstour nach Moskau und verpassen ein Rendezvous mit einem italienischen Fussballer. Ende der 80er Jahre begleiten wir ein krebskrankes Kind zu einer Heilerin. In den 50er Jahren sehnen wir uns nach einem echten französischen Lippenstift, genießen ein jugoslawisches Kleid. Wir tauchen ein in die Welt eines Tanzlehrers und eines in Ungnade gefallenen Tenors. Auch die Emigration in die USA nach dem Ende der Sowjetzeit bekommt ihren Platz.

Melnik selbst ist in Magadan geboren und nach Alaska, später Los Angeles ausgewandert. Ihre changierende Liebe und Distanz zu der russischen Peripherie und eine wehmütige Melancholie wehen durch die Erzählungen. Ich habe die Geschichten gern gelesen und empfehle sie all jenen, die an Russland und dem Osten interessiert sind.

Bewertung vom 15.06.2022
Die aktuelle Situation
Herzberg, Ruth

Die aktuelle Situation


ausgezeichnet

Die aktuellen Situation, das ist die Pandemie, das aus dem Leben fallen in eine surreale Zeit. Es ist das Single sein, das Mutter sein, das Homeschooling und das sich irgendwie durchhangeln. Die aktuelle Situation, das sind schlechte Beziehungen, zu wenig Sex, zu wenig Liebe, zuviel Sex und zuviel Liebe.

Die aktuelle Situation beginnt groß. Die ersten 50 Seiten komme ich aus der Begeisterung und dem Lachen nicht heraus. Die Protagonistin, eine alleinerziehende Autorin, stolpert in die Pandemie. Die Alltagssituationen, insbesondere mit den Kindern, sind komisch, trocken, selbstironisch. Die Männergeschichten sind gewohnt unglücklich, etwas tragisch, aber so, dass es zum Lachen ist, inklusive Ertapptmomenten.
Die Balance zwischen Humor und Tragik, genau richtig, denke ich und immer wieder danke Ruth Herzberg für diese Figuren, für den Humor und für den schonungslosen Blick.

Je weiter die Pandemie in die Protagonistin stolpert, desto mehr kippt die Balance, die innere Balance der Figur und die Balance des Textes. Mein Lachen versiegt, die Figur leidet, kämpft mit der Einsamkeit, mit der Selbstablehnung, mit innerer Leere und mit betäubenden Sexgeschichten, die, so ist ihr von Anfang an klar, nicht gut ausgehen werden. Ich klebe am Text, kann ihn kaum zur Seite legen, denn ich hoffe, dass die Figur herausfindet aus diesem toxischen Pandemiebrei und wieder eine schönere Zeit hat. Die Figur bekommt die Kurve, zum Glück, auch in ihrer zeitweise provozierenden und polarisierenden Haltung zu Covid, denn sie zweifelt und ist zeitweise nahe an Corona-Leugner:innen und Impfgegner:innen.

Bewertung vom 28.05.2022
Cat Person
Roupenian, Kristen

Cat Person


sehr gut

Oh Cat Person, was hast du mich genervt. Du hast provoziert, geschrien, mich verwirrt, überrascht, mich unterhalten, geekelt und begeistert.

Gleich bei den ersten beiden Geschichten dachte ich, dich muss ich mir nicht geben. Kranke, sadistische Geschichten, mit der Faszination für True Crime spielend. Immer wenn ich Charles Manson lese, höre, schaue, baut sich in mir eine große Abneigung auf und ich verliere das Interesse. Nein, dieser Faszination kann und möchte ich nicht folgen, Andere, bitte, macht.
Nun gut, dachte ich und blieb dabei, auch weil ich Cat Person mit Anderen las. Ja, poentiert, eingängig, schön böse und lustig kann die Autorin ja auch und die Geschichten unterhalten, sehr.

Dann kam Nachtläufer und es packte mich die Begeisterung, eine fast perfekte Geschichte über einen Weißen amerikanischen jungen Mann, der ein Jahr nach dem Abitur "Entwicklungshilfe" in Kenia macht und dabei gehörig auf die Nase fällt. Die Geschichte ist komplex, böse und so entlarvend. Bei Cat Person kippte meine Begeisterung und Liebe fast, nur fast. Denn die Geschichte ist gut, treffend steckt sie den Finger in die Wunde des modernen Datings und bohrt schonungslos weiter in den Geschlechterbeziehungen, auf eine laute, etwas aufdringliche Weise. Überrascht lese ich weiter, märchenhafte Parabeln über Selbstliebe, über Gier, plastisch, klug und verwirrend zugleich. Eine langatmige Variation von Cat Person folgt, hat die mich genervt. Eine versteckt queere Liebesgeschichte, leider schwach. Mit Ekel lese ich eine wirre Geschichte über Hautkrankheiten und Folie à Deux, da möchte ich schon nicht mehr weiter. Puh, nur noch eine Geschichte, naja, die Beißerin vermag mich nicht mehr umzustimmen, ich bin froh, Cat Person zuzuklappen.

Cat Person ist laut, anstrengend, nervig, die Botschaften plakativ, mitunter treffend, mitunter platt.

Und doch, es ist ein gutes Buch, denn es weckt Emotionen. Cat Person ist intensiv, herausfordernd, im Gedächtnis bleibend.

Bewertung vom 28.05.2022
Das Journal der Valerie Vogler
Schwab, Constantin

Das Journal der Valerie Vogler


sehr gut

Mit Das Journal Der Valerie Vogler zeigt Constantin Schwab sein Gespür für Geschichten und Figuren, ein vielversprechendes Debüt.

Wir lesen das Journal einer ehrgeizigen Journalistin, die eingeladen wird nach Spitzbergen für eine Woche. Das unbekannte Kunstkollektiv AURORA öffnet Türen. Die einmalige Gelegenheit, das Geheimnis von AURORA zu lüften. Hoch gehandelt auf dem Kunstmarkt weiß nämlich niemand, wer hinter dem Kollektiv steckt und wie die hochpreisigen Werke entstehen.

Angekommen trifft sie auf rigide Charaktere und Regeln. Sie bekommt eine Liste vorgelegt, die sie zu befolgen hat. Ihr Telefon muss sie abgeben, es herrscht Dunkelheit am Polar, Uhren gibt es nicht. Vogler ist zur Zeit, Ort und zur eigenen Person nicht mehr orientiert.

Ein Kammerspiel beginnt, das Vogler misstrauisch beäugt. Sie fühlt sich kontrolliert, beobachtet, manipuliert, eingesperrt. Die Farbgebung der Zimmer hat eine verborgene Bedeutung. Ein Zimmer ist ihr strengstens untersagt. Mit Vogler suchen wir nach Zusammenhängen und erleben grauenvolles. Die Künstler stellen ihr Kollektiv und die Werke über Alles.

Mehr sei nicht verraten, da der Roman von der Spannung lebt, das Ende ist abrupt und streitbar.

Bewertung vom 25.05.2022
Eine Nebensache
Shibli, Adania

Eine Nebensache


ausgezeichnet

Eine Nebensache von Adania Shibli
ist in seiner fragmentarischen Reduziertheit intensiv, vielschichtig, lyrisch. Die Sprache und Symbolik ist tief, schwer, die Botschaft beklemmend. Eine Nebensache, das sind kollektive Traumata, tiefe Wunden, die intergenerationale Weitergabe, eine Zeitungsnotiz und der Fakt, dass Todes- und Geburtstag zusammen fallen.

Wir beobachten mit einem fernen, fast surrealen Blick eine staubige, flirrende Szenerie.
1949, ein Jahr nach der Staatsgründung Israels, Waffenstillstand, Aufbruch und Al Nakba. In der Negev-Wüste, nahe der ägyptischen Grenze, betrachten wir eine Gruppe israelischer Soldaten, ein Camp, unwirklich, Schützengräben, staubige Leere, Hunde bellen.
Eine Beduinin wird gefangen genommen, einfach so, weil nicht Frieden ist. Wir bleiben fern, streifen nur die Sicht eines der Soldaten. Der Virus des Bösen ergreift ihn, zeitweise, die anderen Soldaten eine gierende Masse, zeitweise. Wir beobachten, wie die Frau versucht zu überleben, mit Distanz, ihr Blick wird für immer verschlossen bleiben. Sie wird ausgezogen, mit Benzin übergossen, abgespritzt, die Haare geschnitten und dann passiert, was in der Luft liegt. Sie wird vergewaltigt, misshandelt und umgebracht.

Schnitt, heute.

Eine palästinensische Frau, selbstbewusst, klug, trifft auf die Geschichte der Beduinin. Ihr Todestag, ihr Geburtstag, 25 Jahre danach. Sie verbindet sich mit der Beduinin, kann gar nicht anders. Sie sucht, sie sucht, sucht, sucht... Es treibt sie zur Reise hinüber ins nahe ferne Israel, in das Auge der Gefahr. Sie bringt Landkarten, alte, neue, palästinensische, israelische, legt sie übereinander, nebeneinander. Fieberhaft die Wahrnehmung, die Spurensuche, immer stärker der Wechsel von Versteinerung und intensiver Beunruhigung. Immer näher kommt sie Israelis und es wühlt sie auf, bis in innerste Schichten. Es saugt sie immer tiefer, sie atmet den Staub der Wüste, riecht nach Benzin, hört fernes Hundebellen, sieht Soldaten. Immer wieder überflutet sie pure Panik, doch sie rennt hinein.

Eine Nebensache ließ sich nur mit Konzentration und Anstrengung ertasten.
In der Regel ist es egal, wie viel Lärm um mich herum ist, ich lese und falle in den Text, wenn er gut ist. Hier brauchte ich Stille, musste viele Absätze mehrmals lesen.
Eine Anstrengung, die sich nicht minder lohnte, denn der Text ist klug, aufwühlend, pur. Und wenn es so etwas gibt, er ist wahr, wahrhaftig. Eine Nebensache sät seine Botschaften gegen Krieg, Ungerechtigkeit, Gewalt, ohne explizit zu werden und ohne die Traumata der anderen Seite zu verschweigen. Die Botschaften erwachsen beim Lesen, verranken sich im Nachhall und im Gespräch über den Text. Ein besonderes Stück Literatur, ganz nahe rückt es ans Herz.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2022
Morgen wird Sex wieder gut
Angel, Katherine

Morgen wird Sex wieder gut


ausgezeichnet

Ich habe ihn inhaliert, diesen klugen Essay über Frauen und Begehren. Ich kam aus dem Nicken nicht mehr heraus, aus dem inspiriert sein, dem Nach- und dem Weiterdenken. Denn es ist kompliziert, das Begehren und es geht nicht, es frei von vielfältigen gesellschaftlichen Kontexten zu leben. Ebensolches stimmt für Männer, ebensolches stimmt für queere Menschen, ebenso und anders, mit anderen Rollen und Begrenzungen konfrontiert.

Angel startet eindrucksvoll mit einer Szene, in der die Themen ganz nahe kommen, die der Essay behandelt.
Der Pornodarsteller James Deen drehte einen Film, GirlX, in den 2010ner Jahren, in denen er gefeiert wurde als Pornostar, den die Frauen begehrten. Noch vor den #metoo Debatten und vor den Vorwürfen gegen ihn selbst, die nicht zu einer Verurteilung führten, aber sein Image veränderten.
In dem GirlX Video gibt es wenig Sex zu sehen. Die Frau ist eine sexuell positive Frau, sie entscheidet und handelt, sie ist selbstbewusst, lacht. Sie erregt die Vorstellung gefilmt zu werden. Wir sehen sie aber auch verletzlich, schwankend. Wir schwanken mit ihr, merken das Machtgefälle, das sich durch ihren Konsent nicht auflösen wird.

Konsenz, die Diskurse um weibliches und männliches Begehren und Erregung werden in ihrer Entstehungsgeschichte dargestellt, gerade in der Reaktion auf sexualisierte Gewalt gewürdigt. Angel interessieren die Grenzen dieser Konzepte. Auf der Suche nach passenden Konzepten kritisiert sie, dass zu erfüllender Sexualität die Verletzlichkeit und Offenheit gehört. Das klare Nein und Ja sagen, setzt voraus, dass Frau genau weiß, was sie begehrt und wohin sich ihr Begehren entwickeln wird. Auch der Anspruch an feministische sexuell positive Frauen, ihren Körper genau zu kennen und dann erst sexuelle Erfüllung zu erlangen, greife zu kurz.

Die Spannung bestehe gerade darin, sich zu begegnen, sich zu entdecken, sich hinzugeben und zu führen und dabei die Grenzen der anderen Person zu achten.
Nicht einfach, aber besser als die sexuelle Erfüllung auf die Zukunft zu vertagen, wie der auf Foucaults Aufsatz von 1976 zurückgehende Buchtitel nahelegt.

»Herauszuarbeiten, was wir wollen, ist eine Lebensaufgabe, und sie muss immer wieder in Angriff genommen werden. Vielleicht liegt das Glück gerade darin, dass wir niemals fertig damit werden.«

Bewertung vom 25.05.2022
Die glücklichsten Menschen der Welt
Soyinka, Wole

Die glücklichsten Menschen der Welt


sehr gut

Die glücklichlichsten Menschen der Welt sind in Nigeria zuhause, so sagt man in Nigeria. Ironisch, scharf, manchmal übertreibend greift Wole Soyinka in seinem umfangreichen Spätwerk diese Selbstbetitelung auf.

Soyinka ist ein beeindruckender Mensch. 1986 gewann er als erster Vertreter der Literatur aus dem afrikanischen Kontinent den Literaturnobelpreis. Zu Recht, denn er kann erzählen, sein Sound lässt die Figuren und Beziehungsgeflechte aufleben. Dabei ist er direkt in der anti- und postkolonialen Kritik und nimmt die aktuellen Probleme, Widersprüche und Konflikte ins Visier. Dies und seine Aktivitäten für den Frieden in den 1960ern im Biafrakrieg missfielen der Regierung und er kam in Isolationshaft für zwei Jahre. In den 90ern trieb es ihn ins Exil, er lehrte in Atlanta und erlangte die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Später pendelte er zwischen USA, Großbritannien und Nigeria, bis er aus Protest gegen Trump öffentlich seine US-Staatsbürgerschaft aufgab.

Heute ist Soyinka 87 Jahre alt, seinen letzten Roman hat er vor 50 Jahren geschrieben und jetzt will er es noch einmal wissen. Er kann es immer noch, ein überzeugendes Bild einer widersprüchlichen Gesellschaft zeichnen, der Doppelmoral, der Korrumpierung durch Macht, die Verquickung mit Religion und mit Kriminalität aufzeigen. Er bedient sich hier des Mittels der Satire. Doch wie bei Satiren üblich, bleibt ein eventuelles Lachen im Halse stecken ob der Tatsache, dass Realitäten beschrieben werden.

"Die glücklichsten Menschen der Welt" ist ein imposantes episches Werk, das sich Zeit nimmt. Vier Männer bilden die Mitte der Erzählung. Es werden weitere Figuren an Figuren gereiht, Politiker, Prediger, mächtige Männer. Frauen sind nur randständig Thema. Hauptsächlich folgen wir Interaktionen und Dialogen, das Innenleben bleibt für unseren Lesegeschmack zu wenig ausgeleuchtet. Die Erzählform und Sprache wirkt wie aus der Zeit gefallen. Dennoch beeindruckt Soyinka mit seiner scharfen Beobachtungsgabe, seinem Zorn und Drang zu erzählen über die korrumpierende Macht und Ungerechtigkeiten der Welt.

Bewertung vom 25.05.2022
Einschlafen
Hofstede, Bregje

Einschlafen


sehr gut

Bregje Hofstede hat ein Gespür für Themen, sie kann essayistisch und sie kann erzählen.

Einschlafen. Wie eine Schlaflose die Nacht zurück erobert hat 24 Kapitel, jedes benannt nach einer Stunde, beginnend mit 01:00 Uhr, einer prägnanten Uhrzeit für die Insomniacs unter uns. Hofstede beginnt mit ihrer eigenen Geschichte der Schlaflosigkeit, ihrer Fixierung darauf. Sie greift gängige Tipps und Mythen auf, die alle nicht griffen.
Aktueller Forschung und Expert:innen, die sich auf physiologische Prozesse konzentrieren, gibt sie viel Raum. Sie erweitert diese Sichtweise zunächst auf die Psyche, die Emotionen, dann auf den Kontext und auf das Soziale.
Es sind individuelle Lösungen, die die Autorin findet, die Abkehr von der Großstadt und frugalistische Tendenzen. Meine Lösungen wären es nicht. Es bleibt aber genügend Raum für eigene Gedankengänge.

Bei der Fülle an zitierten Studien und Expert:innen klopfen zwei Herzen in meiner Brust. Ein Herz, das private, geht mit, folgt den unterschiedlichen Mosaiksteinen, erinnert einiges, findet andere Details neu und inspirierend.
Das andere, das berufliche und akademisch ausgebildetes Herz ist vorsichtig, denn Carl Poppers Erkenntnistheorie hat sich in mein Hirn gehämmert. Es gibt zu viele Studien und Expert:innen im psychologischen Bereich, die das eine oder das Gegenteil zum Ergebnis haben bzw. vertreten. Es war mir bei der Anreihung der Studien und den Expert:innen oft nicht ersichtlich, welche Aussagekraft sie haben. Sie schienen stets zu den Argumenten und Gedanken der Autorin zu passen.

Trotz der kleinen Einschränkungen ist Einschlafen ein sehr lesenswertes Buch.
Wen die Schlafstörungen beschäftigen, wer essayistische autobiographische Texte mag, wer Überwintern von Katherine May gerne gelesen hat, der und dem sei Einschlafen ans Herz gelegt.