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Rezensentin aus BW

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Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 26.10.2020
60 Kilo Sonnenschein
Helgason, Hallgrímur

60 Kilo Sonnenschein


sehr gut

Zeitreise : zurück ins ausgehende 19. Jahrhundert.
Ortswechsel: auf geht‘s in den kleinen fiktiver Ort Segulfjörður in Island.

Elifur, ein armer Kleinbauer mit einer Kuh und drei Lämmern, ist seit sechs Jahren verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern in einer Kate.

Das Weihnachtsfest steht bevor und um es kulinarisch mit Mehlkuchen zu verfeinern, macht er sich auf den beschwerlichen Weg durch Kälte, Eis und Schnee, um Weizen zu besorgen.

Es gelingt ihm, ein Tauschgeschäft mit einem Kaufmann und Reeder auszuhandeln:
Drei Kilogramm Weizen gegen 99 Forellen, die Elifur im Frühling liefern soll.

Dem Weihnachtsfest steht nichts mehr entgegen... könnte man meinen. Ist aber nicht so, denn daheim erwartet ihn eine Katastrophe!
Das immense Gewicht des Schnees hat seine Kate zum Einstürzen gebracht und nur sein zweijähriger Sohn Gestur ist mit dem Leben davongekommen.

Um seinem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen und wahrscheinlich auch, um die Katastrophe aus der Distanz besser verdauen zu können, plant Elifur, mit Gestur in die USA auszuwandern. Genau rechtzeitig verkauft ein Agent Tickets für Auswandererschiffe und Elifur ergreift diese Möglichkeit.

Bereits auf dem Weg dorthin, aber noch ganz zu Beginn, fordert sein Tauschpartner die 99 Forellen ein und Vater und Sohn werden mithilfe des Bezirksrichters und des Dorfpolizisten an der Überfahrt gehindert.
Elifur muss seine Schuld auf einem Haifangschiff abarbeiten und sein Sohn kommt als Pflegekind unter.

Im Verlauf begleiten wir Gestur auf seinen Lebensweg und lernen wir peu à peu sämtliche z. T. recht ungewöhnlichen Dorfbewohner und deren Schicksale kennen.

Das Leben und seine Katastrophen nehmen ihren Lauf. Veränderungen und Entwicklungen finden statt und die Moderne hält, ausgehend z. B. von im Hafen ankommenden Schiffen, Einzug.

Es ist mehr als interessant, in diese karge und abgelegene Region Islands einzutauchen und mit den harten Lebensumständen, den z. T. skurrilen Personen, der unfassbaren Armut, dem teilweise überwältigenden Unwissen und den gesellschaftlichen Veränderungen der damaligen Zeit konfrontiert zu werden.

Hallgrímur Helgason ist ein begnadeter Geschichtenerzähler mit einer überbordenden Fantasie. Man spürt beim Lesen seine Lust am Fabulieren und kann sich gut vorstellen, dass er sich manchmal ein schelmisches Augenzwinkern nicht verkneifen kann.

Es sind harte und düstere Lebensumstände, über die er schreibt, aber dieser tragikomische Roman ist keineswegs deprimierend, weil Helgason ihn mit Humor, schrägen Personen und manchmal fast absurden Situationen anreichert.

Es ist ein turbulentes und faszinierendes Werk, das mich in seiner epischer Breite und mit seiner literarischen Sprache fasziniert hat.
Mit treffenden und zum Teil drastischen Bildern beschreibt er schroffe Landschaften und vom Leben gebeutelte Menschen.

„60 Kilo Sonnenschein“ hat mir vergnügliche Lesestunden beschert und wurde, meine ich, aus gutem Grund mit einem isländischen Literaturpreis ausgezeichnet. Ob er der beste isländische Roman des Jahres ist, kann ich freilich nicht beurteilen.

Bewertung vom 25.10.2020
Was der Fluss erzählt
Setterfield, Diane

Was der Fluss erzählt


ausgezeichnet

Selten hat mich ein Roman derart positiv überrascht.
Neugierig machten mich bereits das farbenfrohe, verspielte und verträumte Cover und der geheimnisvolle Titel.
„Was der Fluss erzählt“ löste vor allem eine Assoziation bei mir aus:
Während man so vor sich hin döst ziehen Geschichten wie Schiffe auf einem Fluß vor dem geistigen Auge vorüber.

Ich stellte mich auf einen unterhaltsamen Roman ein, bei dem es sich gut abschalten und entspannen lässt.

Und jetzt komme ich zu der oben erwähnten positiven Überraschung: der Roman ist weit mehr als ein vergnüglicher Zeitvertreib, er ist eine Perle, die einen besonderen Platz in meinem Bücherregal bekommt.

Nun aber kurz zum Inhalt:
Die Geschichte spielt Ende des 19. Jahrhunderts in einer ländlichen Gegend Englands, genauer: in Radcot an der Themse.
In diesem Ort gibt es, wie in allen Orten ein Wirtshaus.
„Swan“ heißt es und eine Besonderheit hat es:
In der uralten und traditionellen Gaststube treffen sich die Bewohner nicht nur, um bei einigen Gläschen Cider oder Bier zu plaudern, sondern um sich Geschichten zu erzählen.

Eines Nachts, als draußen ein Unwetter tobt, betritt ein schwer verletzter Mann das Lokal.
In seinen Armen trägt er ein lebloses Mädchen.
Und jetzt wird es interessant, spannend und rätselhaft:
Obwohl eine Krankenschwester ihren Tod festgestellt hat, ist das Kind nach einigen Stunden (wieder) am Leben.
Es schlägt die Augen auf.
Es atmet.
Es bewegt sich.

Wer ist das Mädchen, das nicht spricht?
Wer ist der Mann, der es aus der Themse fischte?
Was ist da passiert?
Gibt es einen Zusammenhang zu der Entführung der Tochter der Vaughans vor 2 Jahren?

Plötzlich steht alles im Raum: Mythen, Legenden, Sagen, Aberglaube, Zauberei, Wunder... aber eigentlich zählt für das bereits aufgeklärte England doch die Wissenschaft?

Diane Setterfield führt den Leser schelmisch, geschickt und leichtfüßig aufs mystische Glatteis, um ihm dann letztlich doch klarzumachen, dass er sich auf realem Boden befindet.
Sie spielt mit der Fantasie und mit dem Realitätsbewusstsein des Lesers und bringt ihn dazu, sich zu wundern und zu staunen.

Ich empfehle diesen inhaltlich bezaubernden und sprachlich wunderschönen Roman, der wie ein Märchen beginnt, all denjenigen Lesern sehr gerne, die sich in eine literarisch anspruchsvolle Welt voller Poesie fallen lassen möchten.

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Bewertung vom 23.10.2020
Das ist dein Leben
Wolitzer, Meg

Das ist dein Leben


sehr gut

Das ist Dein Leben (Meg Wolitzer)


Der Roman, im englischen Original bereits 1988 erschienen, spielt im Amerika der 1970-er Jahre.

Wir begleiten die übergewichtige, extrovertierte und alleinerziehende Dottie Engels, die als Comedy-Star ständig herumreist, um auf den verschiedenen Bühnen selbstironisch Witze über ihre Figur zu reißen und ihre beiden Töchter Erica, 16 Jahre alt, und Opal, 11 Jahre alt, denen ihre Kindermädchen näher stehen als ihre allseits beliebte und berühmte Mutter, die sie häufiger im Fernsehen als zu Hause sehen.

Die beiden Mädchen gehen sehr unterschiedlich mit der Situation um, obwohl es für beide nicht einfach ist, nur im Schatten ihrer Mutter zu stehen und nur Randfiguren in ihrem Leben zu sein.

Für Erica, die auch zu Übergewicht neigt, ist es besonders schwierig, denn sie kann im Gegensatz zu Dottie nicht so entspannt mit ihrem Körper umgehen, der nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht.
Sie wird phasenweise depressiv und distanziert sich zunehmend von ihrer erfolgreichen und meist abwesenden Mutter. Auch die Beziehung zwischen den Schwestern bleibt nicht gänzlich unbeschwert.

Mit der Zeit geht die vielversprechende und ruhmreiche Karriere der Mutter zu Ende und sie wird nur noch für Werbespots engagiert.
Genauso wie der glamouröse Aufstieg, ist auch diese Entwicklung eine Herausforderung für die kleine Familie, die sich zunehmend entfremdet.
Die Krise der Mutter wird zur Krise für die Familie.
Ein einschneidendes und tragisches Ereignis ermöglicht es den Dreien dann doch wieder, sich aufeinander zuzubewegen und wieder als Familie zusammenzurücken.

Meg Wolitzer zeichnet ihre Figuren, deren Schicksal wir gespannt verfolgen, feinfühlig, psychologisch stimmig und authentisch.
Sie beschreibt die Sorgen und Nöte ihrer Protagonistinnen einfühlsam und glaubhaft.
Einen Einblick in Dotties Leben zu bekommen und die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Mädchen zu jungen Frauen zu verfolgen, war interessant.

Die Autorin hat mit „Das ist Dein Leben“ eine unterhaltsame Familiengeschichte und einen interessanten Entwicklungsroman geschrieben, über dem eine gewisse Melancholie liegt und der sich mit einem unkonventionellen Lebensentwurf, dem Umgang mit Andersartigkeit, hier Übergewicht, der oft komplizierten Beziehung zwischen Müttern und Töchtern und den Themen heranwachsender Frauen auseinandersetzt.

Der Roman, der auch Themen wie Drogenkonsum, fast food und Vernachlässigung von Körper und Gesundheit streift, liest sich geschmeidig, leicht und flüssig und beschert dem Leser, trotz mancher Längen, einige vergnügliche Lesestunden.

Ich empfehle ihn gerne weiter.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.10.2020
Bis wieder einer weint
Sichelschmidt, Eva

Bis wieder einer weint


ausgezeichnet

Die Aussage «Bis wieder einer weint» ist wahrscheinlich kaum jemandem fremd.
Jeder Erwachsene wird diese Warnung wohl schon gehört oder ausgesprochen haben, die sich darauf bezieht, dass albernes Herumtoben von Kindern plötzlich bitterernst wird und in Streit oder Weinen umschlägt.
Diese Aussage zum Titel zu machen, ist originell und macht neugierig.
Was wird hier kippen? Und warum?

Der Roman, gleichermaßen westdeutsche Familiengeschichte wie Gesellschaftsportrait, der laut Autorin autobiografisch gefärbt ist, beginnt in der Adenauerzeit und dauert bis in die frühen 1990-er Jahre an.

Kurz und knapp gesagt geht es in dieser kurzweiligen, fesselnden und berührenden Geschichte, die chronologisch und mit gekonnten Zeitsprüngen erzählt wird, um Aufstieg und Fall der Rautenberg-Dynastie, einer Unternehmerfamilie aus dem Ruhrgebiet, in der Nachkriegszeit.

Nun etwas ausführlicher:
Die schöne 17-jährige Arzttochter Inga und der stattliche, um 12 Jahre ältere Dressurreiter und erfolgreiche Geschäftsmann Wilhelm werden ein Paar.
Nach außen hin scheint alles perfekt. Finanzieller Reichtum, materielle Fülle, eine schöne Frau, ein ansehnlicher, erfolgreicher und wohlhabender Mann, eine sechsjährige Tochter.
Aber die Schattenseite des Lebens macht vor diesem sonnigen und schillernden Bild nicht Halt:
Kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter Suse stirbt Inga 1971 an Leukämie.
Während Asta, das ältere Mädchen bei ihrem Vater Wilhelm bleibt, wächst die kleine Suse bis zu ihrer Einschulung bei den Großeltern mütterlicherseits auf.
Erst dann holt der Vater auch seine jüngere Tochter zu sich und der großen Schwester nach Hause.
Für Suse, die ihre Großmutter innig liebt, bricht eine Welt zusammen, zumal sie jetzt auch noch mit der lieblosen Großmutter Marianne, der Mutter ihres Vaters, zurechtkommen muss.

Die heimlich ausgelebte Homosexualität von Wilhelm und die Verhaltensauffälligkeit von Suse, die zur Außenseiterin wird, erleichtern das familiäre Zusammenleben nicht.
Nach und nach geht es bergab.
Der äußere Schein kann nicht mehr gewahrt werden.
Lebenslügen kommen ans Tageslicht.
Wilhelms Firma geht pleite.
Es ist eine rasante Talfahrt, die ihre Spuren hinterlässt.

Erzählt wird die Geschichte auf zwei Ebenen und aus zwei Perspektiven.
Der auktoriale Erzähler bringt uns das Pärchen Inga und Wilhelm nahe, die Ich-Erzählerin Suse erzählt aus ihrer Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter.

Eva Sichelschmidt zeichnet ihre Charaktere in all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit.
Auf diese Weise entstehen lebendige und realistische Figuren mit Ecken und Kanten.
Die Atmosphäre des Verdrängens und der Wortkargheit im Nachkriegsdeutschland wird von der Autorin gut eingefangen und typische Werbeslogans oder Hits sorgen für Erinnerungen, wenn man selbst in dieser Zeit aufgewachsen ist.

Ich empfehle diesen gleichermaßen erschütternden, tragischen wie humorvollen und manchmal sogar ziemlich komischen Roman gerne weiter.
Er befriedigt den literarischen Anspruch und sorgt für gute Unterhaltung.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.10.2020
Streulicht
Ohde, Deniz

Streulicht


ausgezeichnet

Soziale Herkunft und Hemmnisse, die sich daraus ergeben.

Freunde aus der Kindheit heiraten und deshalb kehrt die namenlose Ich-Erzählerin zu dem Ort zurück, an dem sie aufgewachsen ist. „Heimatort“ möchte ich ihn an dieser Stelle ganz bewusst nicht nennen, weil sie sich dort nie wirklich heimisch, zugehörig und wohl gefühlt hat.
Es ist ein von Industrie geprägter Ort, in dem ihr Vater sein Leben lang als einfacher Fabrikarbeiter gearbeitet hat.

Der Besuch löst Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, an ihre Familiengeschichte und an die Dynamik in ihrer Herkunftsfamilie aus.
Sie kommt nicht umhin, ausgiebig darüber zu reflektieren.
Ihr Bildungsweg spielt in diesen Gedanken und Überlegungen eine große Rolle.

Ihr Vater war ein gewaltbereiter, veränderungsresistenter und wortkarger Mann und ihre Mutter ging schließlich weg und ließ sie beim trinkenden Vater zurück.

Sie erinnert sich an Schamgefühle und Ängste und ihr wird klar, dass sie, um ihres Vaters Gewalttätigkeit nicht anzufachen und um familiäre Eskalationen zu vermeiden, ein ruhiges, stilles und unscheinbares Mädchen werden musste.

Diese Entwicklung war jedoch etwas, das ihr in der Schule zum Nachteil wurde, weil sie sich dort als aufgewecktes und offenes Mädchen zeigen sollte.
Zwischen diesen Anforderungen hin und her gerissen, wird es nur einen Ausweg geben: den eigenen Weg und die Individualität zu finden.

Sie ist frühzeitig von der Schule abgegangen und hat ihre Abschlüsse erfolgreich auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt.

Jetzt, wieder auf den alten Pfaden unterwegs, fragt sie sich, warum ihr Weg so verlaufen ist und währenddessen erfahren wir, wie es dazu kam, dass sie weggegangen ist.

Der Roman beschäftigt sich v. a. mit sozialer Herkunft und ihrem Einfluss auf innere bzw. äußere Hemmnisse der individuellen Entwicklung. Themen wie Diskriminierung und Rassismus klingen deutlich an.

In der Auseinandersetzung mit ihrer Biographie wird ihr mit Wehmut klar, dass sie sich in diesem Ort nie wirklich zugehörig und in ihrem Ich-Sein angenommen, sondern fremd, ausgeschlossen und abgewertet gefühlt hat.

Am Ende der Geschichte steht nicht die Anklage derer, die der Erzählerin ihren Werdegang und ihre Entwicklung erschwert haben, sondern, so meine ich, das befriedigende, aber nicht triumphierende Gefühl, Antworten, Erkenntnis und Verständnis erlangt zu haben.

Der Roman wird nicht chronologisch und auch nicht kausal erzählt.
Nach ihrer Rückkehr erfahren wir durch Rückblenden und eher assoziativ von ihrer äußeren und inneren Realität.

Deniz Ohde wertet und erklärt nicht, sondern sie reflektiert und beschreibt detailliert.
Sie beschreibt glaubhaft und gleichermaßen einfühlsam wie eindringlich die Nöte eines Arbeiterkindes mit Migrationshintergrund, das trotz erschwerter Startbedingungen und Erfahrungen von Ungleichheit und Ablehnung den eigenen Lebensweg findet und eine akademische Laufbahn einschlägt.

Dass es dieser bewegende und kluge Roman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 geschafft hat ist für mich nicht verwunderlich.

Klare Leseempfehlung!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.10.2020
Und andere Formen menschlichen Versagens
Loß, Lennardt

Und andere Formen menschlichen Versagens


ausgezeichnet

Dieser nur 155-seitige Debutroman hat es in sich!

Nach einem Flugzeugabsturz im Jahr 1992 über Südamerika treibt die 22-jährige Marina tagelang, festgeklammert an einen Fenstersitz, im Südpazifik, bevor sie in der Ferne eine Insel erblickt.

Wenn man diese knappe Zusammenfassung hört, assoziiert man sofort „Überlebensgeschichte“und denkt an Robinson Crusoe.
Aber weit gefehlt.
Denn nach diesem Intro geht es anders weiter.
Ab jetzt verfolgen wir die verschiedenen Lebenswege und Hintergründe derjenigen Menschen, die Marina nahestehen und deren Leben sich aufgrund der Katastrophe und des antizipierten Verlusts von Marina verändern werden.

In sieben Kapiteln lernen wir neben Anderem ihre Eltern und ihren Freund kennen.
Man könnte eigentlich von sieben Kurzgeschichten sprechen, die jeweils für sich stehen könnten, aber gleichzeitig auf wundervolle Weise über Marina miteinander verwoben sind.

Beeindruckend dabei ist, dass jede Person in ihrer Vielschichtigkeit und jede Lebensgeschichte in ihrer Unterschiedlichkeit dargestellt wird. So entstehen abwechslungsreiche Geschichten und individuelle lebendige, authentische Charaktere mit Ecken und Kanten, die man gern kennenlernt und begleitet.

Wir treffen auf illustre, kauzige und grotesk gezeichnete Figuren, die niemals lächerlich dargestellt werden
Der Autor stellt sie uns mit Witz und Charme vor, was dazu führt, dass man seine Erfindungsgabe und Kreativität bewundert und seine Romanhelden mit all ihren Eigenarten ins Herz schließt.

Von Marinas Vater, einem Bauunternehmer mit Größenphantasien zu lesen, ist gleichermaßen erstaunlich wie belustigend.
Die Geschichte ihrer anerkennungsbedürftigen Mutter, einer Regisseurin, die versucht, den Verlust ihrer Tochter zu verarbeiten, indem sie einen blutrünstigen Horrorfilm dreht, ist interessant und bewegend.
Und dass ihr Freund, ein aufstrebender Nachwuchsboxer Profit aus der Katastrophe schlägt, ist befremdlich.

Ich möchte aber nun nicht mehr zum Inhalt verraten, um niemandes Lesegenuss zu schmälern.

Beim Lesen dieser abgründigen, tiefgründigen und manchmal sogar etwas verrückten Geschichten, in denen oft Ironie steckt und in denen es so vieles zu entdecken gibt, das offensichtlich oder rückblickend, teilweise bzw. oft auf irgendeine Weise miteinander in Verbindung steht, verliert man Marina erst einmal aus den Augen, weil es um von ihr unabhängige Erlebnisse und Erfahrungen geht.
Gleichzeitig ist sie aber immer präsent, weil sie ja die Sonne ist, um die sich alles dreht und weil sie ja mit ihrem Schicksal den Auslöser für die Entstehung der anderen Erzählungen darstellt.
Marina und ihr Los sind der rote Faden, der das Knäuel aus sieben Geschichten zusammenhält.

Von Kapitel zu Kapitel springen wir zu anderen Personen, an andere Orte und in andere Zeiten, wobei Lennardt Loß einen jeweils anderen und passenden Erzählton für jede Geschichte gefunden hat.
In Windeseile gelingt es ihm, den Leser in völlig andere Szenarien eintauchen zu lassen und überrascht dabei oft mit unvorhergesehenen Wendungen.

Ich empfehle diesen außergewöhnlichen, skurrilen und tragikomischen Kurzroman, der mir mit seiner frischen und lebendigen Sprache eine vergnügliche Lesezeit beschert hat, sehr gerne weiter!

Ein must-read!
Ein must-re-read!

Bewertung vom 17.10.2020
Ada
Berkel, Christian

Ada


ausgezeichnet

Zeitgeschichte, Familiengeschichte und Identitätssuche.

Es geht in „Ada“ um Selbstfindung und Identitätssuche in der noch jungen Bundesrepubublik...in einer Zeit der Umbrüche, in der bedeutende geschichtliche Ereignisse stattfanden:
Wirtschaftswunder, Mauerbau, 68-er Bewegung.

Die 1945 in Leipzig geborene Ich-Erzählerin Ada ist auf der Suche nach sich selbst, ihrer Familie und ihrem Vater.
Wir begleiten sie bis in die 90-er Jahre hinein, mit einem Schwerpunkt auf den 50-er und 60-er Jahren.

Bereits kurz nach ihrer Geburt emigriert ihre jüdische Mutter Sala mit ihr nach Buenos Aires/Argentinien und erst 9 Jahre später kehren sie nach Berlin zurück.
Es ist eine Rückkehr in ein fremdes Land, in dem die jüngste Vergangenheit totgeschwiegen wird und in eine kalte, sprachlosen Stadt. Es ist ein Heimkommen zu völlig unbekannten Leuten mit einer Sprache, die sie kaum spricht.
Und dann kommt es auch noch zum lang ersehnten Wiedersehen mit ihrem Vater Otto, einem Arzt, den sie bisher nur vom Foto kannte.
Die drei ziehen zusammen und versuchen, eine Familie zu werden.

Ada hat viele Fragen und fühlt sich mit ihren Sorgen und Nöten alleingelassen.
Wie bereits in Argentinien fühlt sie sich nirgends richtig zugehörig.
Ada erhält keine Antworten, es wird nicht gesprochen.
Sie lernt früh, ihre Angelegenheiten mit sich selbst auszumachen und wirkt, obwohl sie nicht allein ist, manchmal einsam und in mancher Hinsicht heimatlos.

Hier zeigt sich die innere Ambivalenz Adas:
Einerseits ist sie froh, dass ihr schwer erträgliche Geschichten erspart bleiben, andererseits leidet sie unter dem allgegenwärtigen Schweigen.
Die Sprachlosigkeit dieser Zeit und einer Generation wird im Roman wunderbar abgebildet.
Darüber hinaus erhält man wunderbare Einblicke in das Leben in Berlin im Nachkriegsdeutschland.

In der Geschichte geht es um die Identitätsfindung Adas, für die es unerlässlich ist, dass sie ein Bild von ihrer eigenen Vergangenheit und von ihren jüdischen Wurzeln bekommt.
Es geht darum, dass sie ihre Vergangenheit versteht, um ihren Platz in der Gegenwart zu finden.
Dabei spielen die Themen Liebe, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Freiheit natürlich durchgehend eine bedeutende Rolle.

Mir gefallen Erzählstil und Sprache des Autors.
Christian Berkel schreibt sehr gewandt, detailliert und wohlformuliert eine lebendige und spannende Familiengeschichte, die sich an wahren Begebenheiten orientiert und die als wichtiges und interessantes Zeitzeugnis gesehen werden kann.
Der melancholisch getönte Roman wirkt ehrlich und reflektiert und wird unaufdringlich in einer schnörkellosen direkten Sprache geschrieben.

Obwohl der Roman in einer anderen Zeit spielt und weil es um zeitlose individuelle Themen geht, ist er aufgrund von ähnlichen sozialen, politischen und individuellen Problemen hoch aktuell.
Die Protagonisten werden authentisch gezeichnet, deren Handlungen nachvollziehbar geschildert und die meist bedrückende, oft kühle und schweigsame Atmosphäre eindrücklich vermittelt.

Was ich (als Psychoanalytikerin) besonders originell und interessant finde, ist, dass wir Adas Geschichte in Rückblenden im Rahmen einer Psychotherapie, die sie Anfang der 90er Jahre macht, erfahren.
Vor dem Hintergrund historischer Ereignisse begleiten wir auf diese Weise Ada durch ihre Nachkriegsjugend, in der sie sich nach und nach von ihrer Familie loslöst, erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht und Drogen sammelt, in der Studentenbewegung der 60er Jahre mitmischt, ruhelos umherreist und schließlich sogar das legendäre Woodstock-Festival 1969 besucht.
Ein bisschen schade sind das recht abrupte Ende und der Zeitsprung zwischen Woodstock und Therapiebeginn, weil wir von der Phase dazwischen kaum bis nichts erfahren und die Geschichte für meinen Geschmack etwas zu plötzlich endet.

Der Roman von Christian Berkel liest sich leicht und flüssig, ist mitreißend, fesselnd und bewegend.

Ich empfehle ihn sehr gerne weit

Bewertung vom 14.10.2020
Mutter
Breznik, Melitta

Mutter


ausgezeichnet

„Mutter“ ist ein Roman, in dem eine Familiengeschichte erzählt wird, in dem es um eine Mutter-Tochter-Beziehung geht und in dem Sterben, Tod, Abschied, Verlust und Trauer eine zentrale Rolle spielen.

Die Erzählerin begleitet ihre Mutter als Tochter, Pflegerin und Ärztin in den letzten Monaten vor deren Tod. Diese Rollenvielfalt bedingt ein Mehr an Herausforderungen und Verantwortung. Sie macht es nicht leichter und hat natürlich auch Einfluss auf die Psyche und den Körper der Tochter.

Diese erlebt den Prozess des Sterbens ihrer 91-jährigen Mutter hautnah mit und beobachtet und beschreibt die Phasen und Veränderungen, die sie gemeinsam und jeder für sich erleben sehr detailliert, feinfühlig und stimmig.
Es gibt innige, traurige und freudvolle Augenblicke, die die beiden miteinander erleben.

Sprache und Erzählstil der Autorin haben mich begeistert.
Sie erzählt unaufgeregt und zart in einer schlichten und schnörkellosen Sprache.
Trotzdem oder gerade deshalb wird der Leser emotional tief berührt.
Die Emotionen springen ihm nicht entgegen. Sie vermitteln sich tröpfchenweise und subtil.

Obwohl sie behutsam vorgeht, weicht sie nicht aus. Sie erzählt gleichermaßen feinfühlig, stimmungsvoll und sanft wie ehrlich, unverstellt, klar und unumwunden.

Wir lernen durch ihre Erinnerungen und Reflexionen die Kindheit und das Aufwachsen der Erzählerin
kennen und lesen von Trennungen, Unvereinbarkeiten, Zerwürfnissen, Familiengeheimnissen und Verlusten.

Wir erfahren ihre Gedanken und Gefühle, die sie während dieser letzten Zeit mit ihrer Mutter einholen und erleben mit, wie sich eine Beziehung im Angesicht des Todes verändert, wie manches relativiert und verziehen wird.

Schmerz und Trauer wegen des endgültigen Abschieds von einem geliebten Menschen vermitteln sich eindrücklich durch diese puristische, zurückgenommene Sprache und durch die melancholisch-gedrückte Grundstimmung.

Ich möchte diesen tiefgründigen und aufrichtigen Kurzroman, der auf nur ca. 160 Seiten eine sehr berührende und bewegende, aber niemals kitschige oder seichte Geschichte über die Kostbarkeit gemeinsamer Erinnerungen und inniger letzter Augenblicke erzählt, gerne empfehlen.

Bewertung vom 13.10.2020
Weiß
Kang, Han

Weiß


ausgezeichnet

Dieser Roman war ein „must read“, weil ich schon von den beiden Vorgänger-Romanen der Autorin, „Die Vegetarierin“ und „Menschenwerk“, äußerst angetan war.
Und es hat sich wieder einmal gelohnt!

Das Cover, ganz schlicht und zart in weiß mit schwarzer Schrift und einer darüber schwebenden feinen Feder gehalten, machte mich neugierig.
Wenn man den Schutzumschlag entfernt, erblickt man eine einfache und filigran gezeichnete graue Feder auf weißen Grund.

Ein Schmuckstück mit gewichtigem Inhalt... so viel möchte ich schon vorab verraten.

Der Tod ihrer Schwester, die als zu früh geborenes Neugeborenes in den Armen ihrer Mutter starb, lag wie eine düstere Wolke aus Verlust, Abschied, Sehnsucht und lähmender Melancholie über der ganzen Familie und bestimmte ihr Werden und Sein.
Ein erschütterndes Ereignis, das unterschwellig immer vorhanden war und seine tieftraurigen Schatten auf die einzelnen Familienmitglieder und die Familie als Ganzes warf.

Den Tod ihrer Schwester verbindet die Erzählerin mit der Farbe Weiß. Weiß wie die Muttermilch.
Weiß wie die Windeln.
Weiß wie die Haut des kleinen Mädchens.

Eines Tages überfallen sie in einer winterweißen europäischen Stadt Erinnerungen, Gedanken und Assoziationen an ihre verstorbene Schwester.
Und genau diese hält sie in dem kleinen aber feinen Buch fest.
Sie assoziiert und meditiert, skizziert und tupft Bilder auf‘s Papier.
Es entstehen regelrechte Perlen aus starken und imposanten Bildern, Prosa-Gedichte und poetische Texte, die für sich alleine stehen könnten.

Die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang schreibt bedächtig und unaufgeregt, poetisch, lyrisch und kraftvoll. Sie schuf ein intimes, zartes, intensives und autobiographisch inspiriertes Werk, in dem sie ihre Trauer um den Verlust ihrer Schwester verarbeitet, die nicht mal einen Tag alt wurde.

Wie es ihr gelingt, mit so wenigen Worten und auf so wenigen Seiten eine derart eindrückliche und spürbar melancholische Stimmung zu vermitteln, ist für sich gesehen schon eine Meisterleistung.

Ich empfehle diesen nur ca. 150 Seiten langen bewegenden, ausdrucksstarken und tiefgründigen Roman, der aus kurzen Kapiteln mit besonderen Überschriften (weißer Gegenstand oder eine entsprechende Erinnerung) besteht, sehr gerne weiter.

Es ist ein literarisches Kunstwerk aus leisen Tönen, angereichert mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die den Text atmosphärisch ergänzen.
Es lohnt sich sehr, sich auf diese kurze Reise einzulassen.

Ich möchte mich inzwischen gut und gerne als Fan der 50-jährigen Autorin Han Kang bezeichnen, die in Seoul Koreanische Literatur studiert hat und vielfach ausgezeichnet worden ist.
Für ihren Roman „Die Vegetarierin“ erhielt sie den Man Booker International Prize.

Bewertung vom 12.10.2020
Fremdes Licht
Stavaric, Michael

Fremdes Licht


ausgezeichnet

Fremdes Licht

Wir begeben uns mit der Protagonistin Elaine Duval auf ein frostiges, melancholisches und philosophisches Abenteuer, wenn wir mit der Lektüre beginnen!

Ein Kometeneinschlag im 24. Jahrhundert zerstörte die Erde und Elaine Duval, die in Grönland aufwuchs und deren Großvater einst bei den Inuit lebte, ihr von deren Weisheit und Tradition erzählte und sie unbewusst und indirekt lehrte, in Kälte, Eis und Schnee zu überleben, scheint die Katastrophe als einzige davongekommen und übrig zu sein.

Wie gut, dass die Genforscherin nun, nach dem schockierenden Erwachen, eine Idee davon hat, wie sie an einem so rauen, trostlosen, unbehaglichen und einsamen Ort zurechtkommen kann.

Während Elaine sich auf ihrem beschwerlichen Weg durch diese fremdartige Welt befindet, um sie zu erkunden, lernen wir sie und ihre Vergangenheit kennen.
Wir tauchen in ihre Gedanken- und Gefühlswelt ein und vor unserem geistigen Auge erwachen eine Frau und ihre Kindheit in all ihren Facetten zum Leben.
Und eines Tages entdeckt Elaine Inuit-Zeichen. Was bedeutet das? Täuscht sie sich?

Neben diesem Erzählstrang gibt es noch einen weiteren, der im 19. Jahrhundert spielt und in dem ein Forscher über sein Tagebuch und die Vorfahrin Uki während der Weltausstellung in Chicago zu Wort kommen.

Der Roman, der ganz grob gesagt ein Mix aus Abenteuerroman, Science Fiction, Sachbuch, Biographie und kleiner Ausflug in die Esoterik ist, liest sich flüssig und ist in einer bildhaften und eingängigen Sprache geschrieben.

Inhaltlich und sprachlich hat mich der Roman „Fremdes Licht“ von Michael Stavarič überzeugt und gefesselt.

Er erzählt lebendig und intensiv auf für mich neuartige Weise völlig unaufgeregt und unspektakulär eine wahrlich phantastische Geschichte, in der es um basale Dinge des Lebens und um das Menschsein an sich geht.

Man muss sich vorbehaltlos auf ihn einlassen, um ihn zu genießen und Alltagsverstand und Alltagsgeschwindigkeit manchmal beiseite schieben.

Ich empfehle den geheimnisvollen und faszinierenden Roman, der Zeiten und Orte auf überraschende Art und brillante Weise verknüpft und durch den ich Vieles über die interessante Kultur und Lebensweise der Inuit lernte, sehr gerne weiter, denn er bescherte mir einige außergewöhnliche, vergnügliche und interessante Lesestunden.