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mapefue
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Kirchbichl

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Insgesamt 167 Bewertungen
Bewertung vom 17.01.2021
Gone Baby Gone / Kenzie & Gennaro Bd.4
Lehane, Dennis

Gone Baby Gone / Kenzie & Gennaro Bd.4


ausgezeichnet

Im Indian Summer 1997 verschwindet in Boston die vierjährige Amanda spurlos. Auch nach drei Tagen hat die Polizei nicht eine einzige vielversprechende Spur. Für solch scheinbar aussichtslose Fälle gibt es in Boston nur ein einziges, das geniale Detektivduo: Patrick McKenzie & Angela „Angie“ Gennaro.

„Alles an diesem Verschwinden ist faul, vierjährige Kinder verschwinden nicht einfach so, ohne dass jemand nachhilft,“ bringt es Gennaro auf den Punkt. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht wie wahr ihre Vermutung werden sollte.

Die Dialoge zwischen Kenzie und Gennaro sind erfrischend und charmant, ironisch und überhaupt nicht verletzend. Das ist einer der wahren Schätze von Lehanes Thriller und deren Übersetzung, ohne die es nicht funktioniert.

Auffällig gegenüber den ersten drei Bänden der Kenzie/Gennaro-Reihe ist, dass Lieutenant Doyle, der ausgerechnet die Einheit Crimes Against Children CAC der Bostoner Polizei leitet, seine Detectives Nick „Poole“ Raftopoulos und Remy Broussard dem Detektivduo McKenzie & Gennaro als Aufpasser zuteilt.

Der Thriller hat natürlich eine kriminalistische Rahmenhandlung - Kindesentführung-Drogen-Kriminelle-korrupte Polizei – doch Lehanes bestimmende Thematik ist der Schutz des Kindeswohls, wer dafür verantwortlich ist und wie weit er gehen soll. Grundsätzlich ist der Kinderschutz in den USA ein sehr restriktiver, in jedem Bundesstaat besonders geregelt und nach unseren europäischen Maßstäben viel zu streng. Auf der einen Seite ist der Staat sehr streng, dennoch es ist in den USA fast unmöglich einer Mutter das Kind abzunehmen, wenn sie sich bezüglich des Kindes nicht strafbar macht.

"Gone Baby Gone" ist ein spannender, nervenaufreibender und hoch emotionaler Thriller nicht nur für die Protagonisten, vor allem für Kenzie und noch mehr für Gennaro, sondern auch für den emotionalisierten Leser. Der verdächtige Personenkreis dieser Kindesentführung ist ebenso groß wie übersichtlich und wechselt vielfach.

Mit einer Rachel beginnt Lehanes Thriller und mit dieser Rachel am Ende schließt sich der Kreis. Jedoch keine runde Sache, das gibt der Plot nicht her, dafür ist die darin innewohnenden Thematik hochexplosiv.

Das Cover zeigt die Skyline von Boston mit Christian Science Church, im linken Bildteil, direkt daneben der Prudential Tower, im rechten Bildteil das State House. Im Vordergrund steht Patrick McKenzie, in der rechten Hand seine .45er Colt Commander. Filmposten der Miramax Film Corp.

Filmtipp: Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel ist ein US-amerikanischer Kriminalfilm aus dem Jahr 2007. Regie führte Ben Affleck, der das Drehbuch gemeinsam mit Aaron Stockard anhand des Romans Gone Baby Gone, Kein Kinderspiel von Dennis Lehane aus dem Jahr 1998 schrieb. In den Hauptrollen Casey Affleck (Patrick McKenzie), Michelle Monaghan (Angela „Angie“ Gennaro) und Morgan Freeman (Police Chief Jack Doyle).

Bewertung vom 08.01.2021
Cloris
Curtis, Rye

Cloris


sehr gut

Kein Abenteuerroman im eigentlichen Sinn, denn es geht nicht vordergründig um das Überleben im hochalpinen Bergland nach einem Flugzeugabsturz in den Bitterroot Mountains, Montana/Idaho, noch weniger um einen echten Survival-Roman, sondern eher um eine „scripted reality.“ Das stolpernde Gestapfe der 72jährigen Mrs. CLORIS Waldrip gleicht eher einer begleiteten Solowanderung von Feuerstelle zu Feuerstelle.

Im Mittelpunkt stehen die Charaktere der Forest Ranger: Ranger Debra „Deb“ Lewis, Alkoholikerin, die Merlot (gezählte 63 Mal genannt) liebt und ohne Unterlass trinkt, vorzugsweise aus ihrer Thermosflasche. Logisch sie arbeitet/lebt in den USA; man möchte der lieben Deb gerne sagen, ‚den besten Merlot gibt es im Napa-und Sonoma-Valley.‘ Sie ist witzig, scharfzüngig, etwas zynisch, schwer gekränkt durch ihren Mann, von dem sie sich hat scheiden lassen, denn er hatte drei Ehefrauen! In anderen Bundesstaaten. Zu seiner Verteidigung sagte er, ‚er hätte viel Liebe zu geben.‘ Frauen verstehen das nicht.
Ranger Claude „Claudey“ Paulson, der nicht richtig tickt. Die anderen: Der eine „Pete“ strickt, Bloor, der andere, der sich ständig die Hände mit Kreide einreibt und seine Tochter Jill.

Mit einer unglaublichen Nonchalance beschreibt Cloris ihre 77 Nächte in der Wildnis und als stünde sie neben sich nennt sie ihren Ehemann Richard - Mr. Waldrip. Es fehlte noch, dass sie ihre Erlebnisse in der dritten Person schilderte. Sie reflektiert ihr vergangenes und ihr aktuelle Leben und macht sich Gedanken um die Zukunft, wobei es ihr nicht gelingt sich aufzuknüpfen. Es ist für Cloris wahrlich erstaunlich, dass der Wald voller Bäume ist.

Rye Curtis tritt mit seinem Debütroman CLORIS den Beweis an, dass er ein großartiger Erzähler ist. Die ziellose Wanderung in der Wildnis dient nur als Vehikel für die schmerzhafte Auseinandersetzung aller Protagonisten mit deren eigenem Ich. Oberflächliche Komik kontrastiert mit tiefer Tragik, ein spannender Roman ohne Sentimentalität, aber mit voller Empathie und dem Himmel sei Dank – frei nach Cloris – kein kitschig romantisches Ende, sondern ein tiefsinniges.

Koojee

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2021
Blues in New Iberia
Burke, James Lee

Blues in New Iberia


ausgezeichnet

James Lee Burkes Robicheaux-Saga geht in die 22. Runde.

Desmond Cormier kehrt nach 25 Jahren als erfolgreicher Filmproduzent aus Kalifornien nach New Iberia zurück. Als armes Kind von den Großeltern im Chitimacha Indianerreservat aufgezogen. Eine junge Frau auf ein Holzkreuz genagelt wird an die Küste Louisianas angeschwemmt. Eine Mordserie nimmt ihren Anfang und die Drapierung eines jeden Toten entspricht einer Tarotkarte.

James Lee Burke entwickelt auf dieser fast 600 Seiten starken Krimischwarte einen unglaublichen Plot, unheimlich und mysteriös zugleich. Die Hauptrollen des Polizeiapparats spielen Helen, die Chefin von Dave, abhängig von ihrer psychischen Verfassung mal mehr und mal weniger in Dave verliebt, Clete, Ex-Polizist, Detektiv und bester und loyaler Freund von Dave und Sean, junger Polizist, der noch in der Lernphase steckt. Besonders angetan und emotional überwältigt ist Dave jedoch von einer neuen, viel zu attraktiven und viel zu jungen Kollegin Bailey Ribbons, deren Namen er für „sehr schön“ hält und nicht nur das… Es ist nervtötend wie Burke dieses „Soll er es tun oder sein lassen“ in die Länge zieht: Dave tut es und lässt es. Zwei ungustiöse Polizisten: Axel und Frankie.

Die Handlung ist ähnlich unübersichtlich wie das Bayou Louisianas, die schwer zugängliche Sumpflandschaft des Mississippi-Mündungsdeltas. So zauberhaft das Bayou ist, so zauberhaft kann Burkes Blues in New Iberia sein, wenn sich der Leser denn verzaubern lässt. Mögen manche Dialoge wie Sprechblasen eines Comics wirken, ist der Schreibstil mit der deutschen Übersetzung hochklassig: „Sein Gesicht erinnerte mich an ein leeres Blatt Papier, das sich auf glühenden Kohlen zusammenzog. Grausamkeit hat viele Erscheinungsbilder. Am wenigsten attraktiv sind sie, wenn man sie in sich selbst entdeckt“ (S. 33). „Das Böse hat einen Geruch. Es ist eine Präsenz. Die ihren Träger verzehrt. Wir leugnen es, weil wir dafür keine plausible Erklärung haben. Es riecht nach Verwesung innerhalb von lebendem Gewebe“ (S 70). Burke lässt Robicheaux auf den Punkt kommen: „Normalerweise beinhaltet die Motivation eines jeden Mordes Sex oder Geld oder Macht oder eine beliebige Kombination aus diesen dreien“ (S. 107). Eine philosophische Anwandlung Robicheauxs am Ende eines Gesprächs mit Bailey: „Ich wollte nicht gehen. Ich wollte Jahrzehnte jünger ein. Ich wollte alles sein, nur nicht was ich war. Leider kann es in einem gewissen Alter zum festen Bestandteil des Lebens werde, etwas sein zu wollen, was man nicht sein kann, oder etwas haben zu wollen, was man nicht haben kann“ (S. 113).

Bewertung vom 26.12.2020
Kilometer 123
Camilleri, Andrea

Kilometer 123


ausgezeichnet

Andrea Camilleri erzählt in seinem letzten Kriminalroman „Kilometer 123“ eine Geschichte über Liebe, Eifersucht und Hass, Gier und Verrat. Der Inhalt ist klassisch, die Art des Erzählens meisterlich und unorthodox, weil überwiegend in direkter Sprache. Atemlos folgt man der raffiniert gestrickten, furios erzählten Dialogen, Telefonaten, SMS, Zeitungsartikeln, Polizeiberichte, Mails, verzichtet auf jegliche Beschreibung, kommentierende Einlässe, zusammenfassenden oder erklärenden Text; mit ihren immer neuen Wendungen bis zum unerwarteten wie überraschenden Ende. Ein kurzweiliges, ebenso irrsinniges wie glaubwürdiges Verwirrspiel. Der Leser steht unter einem ständig erhöhten Adrenalinspiegel, der zu einem Durchlesen der 142 Seiten anhält.

Amore mio…

Von den drei Pärchen Maria und Francesco, Ester und Stefano und Giulio Davoli mit Giuditta Davoli, sicher ein hintergründiges Wortspiel von Camilleri, denn eine kleine Umformung ergibt diavolo, zu Deutsch Teufel, was den Charakter der beiden beschreiben sollte, bleiben zwei nach einem teuflischen Spiel in inniger Verbundenheit übrig. Wer das ist, das erfährt der Leser erst auf den letzten zwei Seiten. Camilleri hofft, dass neben Witz auch die sozialanalytische Kritik an den aktuellen Zuständen in Italien nicht übersehen wird.

Für seine deutschen Leser hat Camilleri einem Detektiv den Namen Tedeschi „Deutscher“ gegeben. Camilleri versteht sich auf ironische Pointen.

Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er war Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. 1978 wurde sein erstes literarisches Werk Der Lauf der Dinge von vierzehn Verlagen abgelehnt. Jedoch nachdem er den richtigen Verlag gefunden hatte wurde er Mitte der 90er-Jahre mit seinen Krimis zu einem der meistgelesenen Autoren in Italien.
Er starb am 17. Juli 2019 im Alter von 93 Jahren in Rom.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.12.2020
Harlem-Romane
Himes, Chester

Harlem-Romane


ausgezeichnet

Tipp an den werten Besitzer und die werte Besitzerin dieses Buches, die beginnen (wollen) dieses Buch/diese drei Romane zu lesen, bzw. an solche, die gerade dabei sind, sich dieses Buch zu kaufen: Als einer der ersten schwarzen Krimiautoren befasste sich Chester Himes mit der Gesellschaft und den kriminellen Umtrieben im schwarzen Harlem Ende der 50er Jahre. Bei seiner Vita sind die Romane authentisch und ungeschönt, mit hintergründigem Humor, teils Slapstick nahe an hardboild Thriller. Himes war in seinem Heimatland nicht erfolgreich, der Erfolg stellte sich erst ein nach seiner Auswanderung nach Europa.

Nicht die Suche nach dem Täter steht im Vordergrund, sondern die handelnden Charaktere, im Besonderen das berühmte schwarze Harlemer Detective-Team Coffin Ed Johnson und Grave Digger Jones und die gnadenlose direkte Beschreibung der Szenerie. Farbige gibt es viele – (ofenrohr)schwarz, dunkelbraun, braun, bananenschalenfarbig, (senf)gelbe Färbung ranziger Sahne, sepiafarben…
Die Erzählsprache ist einfach, um nicht zu sagen simpel, der Plot ist überschaubar, die Auflösung nicht ohne Überraschung. Die Romane eignen sich als Vorlage für eine Comics-Ausgabe. Anfänglich habe ich mir mit dem Erzählstil und der Geschichte schwergetan, aber ich rate jedem bis zum dritten Roman durchzuhalten, denn dann hat man sich an Stil und Plot gewöhnt und es bestätigt sich die Klasse von Himes.

Zwei Kostproben belegen den eindrucksvollen Erzählstil von Himes: „Es war ihm nicht mal was geblieben, für das es sich gelohnt hätte zu beten. Sein Mädchen war fort. Ihr Golderz war dahin. Sein Bruder war tot und selbst die Leich fort. Er wollte sich nur noch der Barmherzigkeit des Herrn anvertrauen. Das war alles, was er tun konnte, um nicht wie ein Kind loszuheulen.“ (Jackson in Die Goldmacher von Harlem)

„Wir sind hier in Harlem, so einen Ort gibt’s nicht noch einmal auf der Welt. Hier muss man ganz von vorn anfangen, weil die Leute in Harlem aus Gründen Dinge tun, auf die niemand sonst in der Welt kommt.“ (Grave Digger in „Fenstersturz in Harlem)

Eine Banalität, aber trotzdem wahr: Das alte schwarze Harlem gibt es längst nicht mehr, gentrifiziert, nur noch bei Chester Himes nachzulesen.

Bewertung vom 14.12.2020
Die amerikanische Krankheit
Snyder, Timothy

Die amerikanische Krankheit


ausgezeichnet

Timothy Snyders neuestes Buch "Die amerikanische Krankheit" beginnt mit: "Als ich um Mitternacht in die Notaufnahme eingeliefert wurde, benutzte ich das Wort ‚Unwohlsein‘ (malaise), um dem Arzt meinen Zustand zu beschreiben. Mein Kopf schmerzte, meine Hände und Füße kribbelten, ich hustete und konnte mich kaum bewegen."

Snyder schildert, wie er in Kliniken in Florida und Connecticut an den Folgen eines Abszesses und mangelnder Aufmerksamkeit fast gestorben wäre. Er schreibt über seine einsame Wut in einem Dämmerzustand zwischen Tagträumen und Todesangst. Die Erfahrung des Spitalsaufenthalts brachte ihn dazu, "über die Freiheit und über Amerika nachzudenken", eine beklemmende Abrechnung mit einem amerikanischen System. Snyder: „Die Samstagabende in New Haven (hospital) sind hart für Ärzte, Pfleger, Personal und Patienten. Es WAR Samstagabend.“ Snyders Kollegen waren erstaunt, dass er keine einflussreichen Fürsprecher zu seinem Schutz herbeigerufen hatte, als er in der Notaufnahme war. Das lässt den Schluss zu: Einige Amerikaner werden sich freuen, dank Reichtum und Beziehungen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben, weil sie dazugehören und andere nicht.

Der Satz, dass alle Menschen gleich sind, werde schon bei der Geburt nicht ernst genommen – siehe die je nach Schicht und Vermögen unterschiedlichen Behandlungen und Todesraten – und erst recht nicht im Krankheitsfall. Es könne keine Freiheit geben, so Snyder, wenn es keinen universellen Zugang zum Gesundheitssystem gibt.

Und dann noch Covid. Es bestätigte und verschärfte alles, was ihm an Mängeln aufgefallen war. Es fokussierte seine Beobachtungen wie ein Brennglas und motivierte ihn, zu der Pandemie Stellung zu nehmen. Er fand Voraussetzungen in autoritären Regimes, die Epidemien dazu benutzen, "Andere" zu beschuldigen, um eigene Versäumnisse zu leugnen. Er sieht das politische System der USA mittlerweile als gefährlich nahe solchen Vorbildern. Snyder: „Wenn wir Amerikaner andere als Krankheitserreger und uns selbst als gesunde Opfer sähen, dann seien wir‚ kaum besser als sie‘, die Nazis.“

Gerade der Vergleich Covid hüben und drüben gibt viel zu denken, und Snyder bietet dazu Anschauungsmaterial genug. Es liest sich wie eine subjektive Suada, doch jede Aussage ist in einem 16 Seiten langen Anhang belegt.

Prof. Dr. Timothy Snyder (*1970), Historiker mit dem Schwerpunkt Europa, ist einer der führenden amerikanischen Historiker und Intellektuellen. Er hat den Richard C. Levin Lehrstuhl für Geschichte an der Yale University inne und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Promoviert wurde er 1997 an der University of Oxford, wo er British Marshall Scholar war. Bevor er 2001 an die Yale University kam, hatte er Forschungsstipendien in Paris, Wien und Warschau inne sowie ein Academy Scholarship an der Harvard University. Er spricht fünf und liest zehn europäische Sprachen. Zu seinen Publikationen zählen sieben preisgekrönte Monographien, die alle in diverse Sprachen übersetzt wurden und in mehreren Ländern Bestseller waren.

Bewertung vom 09.12.2020
Girl on the Train - Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich
Hawkins, Paula

Girl on the Train - Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich


ausgezeichnet

"Girl on the Train" ist zu Beginn eine Charakterstudie aus drei subjektiven Perspektiven und mit vielen Rückblenden: Abwechselnd treten drei Ich-Erzählerinnen auf: Rachel, das "Girl on the Train", völlig aus der Bahn geworfen, geschieden, arbeitslos und alkoholkrank. Megan, die Frau von nebenan, Babysitterin bei Anna, psychisch instabil und Anna, Evies führsorgliche Mutter und Rachels Nachfolgerin als Ehefrau von Tom. Insgesamt: Eine düstere Versammlung von gestörten Personen.

Rachel Watson ist 34 Jahre alt. Vor zwei Jahren trennte sich ihr Mann Tom von ihr, weil sie aufgrund ihrer Kinderlosigkeit depressiv und alkoholkrank geworden war. Über die Trennung kommt sie nicht hinweg. Obwohl sie inzwischen arbeitslos ist, fährt sie nach wie vor jeden Morgen mit dem Pendlerzug nach London – und sieht dabei das Haus, in dem Tom jetzt mit Anna und der kleinen Evie wohnt. In der Nachbarschaft ist inzwischen ein anderes Ehepaar – Jess/Megan und Jason/Scott - eingezogen, und Rachel malt sich das Glück der beiden aus. ‚Sie sind, was ich verloren habe, alles was ich gerne wäre,‘ denkt Rachel.
Rachel, eine vertrocknete, geschiedene, obdachlose Alkoholikerin; sie hatte viel zu lange keinen guten Grund mehr, einen klaren Kopf zu bewahren. Rachel: „Irgendetwas verstörte mich – bis ich schließlich merkte, dass ich es selbst war.“

Das Vorstadt- und Beziehungsdrama, entwickelt sich zu einem Psychothriller.

Hawkins gelingt es, den Leser mit ihrem Erzähl- und Schreibstil zu fesseln. Mag dem einen oder anderen die detailliert beschriebenen alkoholisierten geistigen Irrfahrten Rachels zu viel sein, nimmt die Person Rachel dennoch den Leser gefangen, ohne dass man große Sympathie für sie entwickelt. Wer den Film kennt hat die phänomenale Schauspielerin Emily Blunt natürlich immer im Hinterkopf, wenngleich Emily Blunt nicht zu 100% der Rachel im Buch entspricht. Hat man sich an die schrillen Psychogramme der drei Frauen und die stets zu beachtenden Rückblenden gewöhnt steht am Ende folgendes Fazit: Ein genialer Roman und zurecht ein literarischer Welterfolg.

Filmtipp
Girl on the Train (Originaltitel: The Girl on the Train) ist ein US-amerikanischer Thriller des Regisseurs Tate Taylor aus dem Jahr 2016 mit Emily Blunt (Rachel), Rebecca Ferguson (Anna) und Haley Bennett (Megan). Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch Girl on the Train der britischen Autorin Paula Hawkins aus dem Jahr 2015.

Bewertung vom 01.12.2020
Die Spur der Schakale
Lüders, Michael

Die Spur der Schakale


gut

In Michael Lüders zweiten Politthriller Die Spur der Schakale ermittelt die junge Sophie Schelling diesmal im kalten Norwegen. Im vorangegangenen Thriller Never Say Anything (Initialen NSA nicht zufällig) überlebte sie nur knapp den mörderischen Angriff zweier US-Helikopter in den heißen Wüsten Afghanistans. Nicht so ihr Freund Hassan.

Inzwischen ist Sophie quasi Undercover in Norwegen, arbeitet jedoch als Mitarbeiterin einer kleinen, aber feinen Geheimdiensteinheit E 39 mit einer toughen Chefin Berit im Mordfall des Top-Managers, Nummer 2 von Nordic Invest, dem größten Staatsfonds der Welt. Ein Auftragsmörder tötet Personen, die bestimmten politisch-kriminellen Agenden gefährlich werden könnten.

Die Ermittlungen decken ein Komplott auf, in das Geheimdienste, Finanzdienstleister, Schattenbanken, Datenfirmen mit riesigen Rechenzentren, die norwegische Politik und dessen Polizeiapparat involviert sind.

Fakt oder Fiktion, zu real, um wahr zu sein. Die Spieler sind die weltgrößte Investmentgesellschaft, BlackRock, im Buch Blackhawk genannt und der norwegischen Staatsfond, der viele hunderte Milliarden Euro verwaltet, die US-amerikanischen Geheimdienste, die CIA und die NSA und die größte Datenkrake Elendilmir. Wenn es doch nur wahr wäre mit deren hehren Zielen: Terrorbekämpfung, Flüchtlingsströme aufzuhalten, den Klimawandel, Unterstützung von Menschen mit zu geringen Lohnzuwächsen und unzureichender Altersversorgung. Die unschöne Wahrheit: kriminelle Machenschaften der Hochfinanz, Auftragsmorde unliebsamer Personen, Waffenverkäufe an den Iran, Geheimtreffen in der Türkei, CIA und NSA.

Lüders finale Botschaft: Das Leben ist schön.

Liest sich gut, stilistisch einwandfrei, jedoch kein literarisches Highlight, unter Umständen sogar in einem durchzulesen, das heißt, es ist Spannung vorhanden. Der kriminalistische Teil hat mir sehr gut gefallen, alles was in der Schattenwelt passiert muss ich nicht glauben, noch weniger verstehen. Fazit: Ganz besonders für Liebhaber verworrener Politkrimis ist dieses Buch ein echter Lesegenuss.

Das passende Schlusswort von Tom, der sich zum Investigativ Journalist zum Gourmet der norwegischen Küche gewandelt hat: „Ich fürchte, ich kann nur kleine Teile der Wirklichkeit erfassen und verstehen.“

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2020
Götter und Tiere
Mina, Denise

Götter und Tiere


ausgezeichnet

Denise Mina hat sie ein kluges Zitat von Abraham Lincoln vorangestellt: "Fast alle Menschen ertragen schlechte Zeiten, aber willst du den Charakter eines Menschen prüfen, gib ihm Macht."

Gewalt hat viele Gesichter. Drei Erzählstränge prägen das vorweihnachtliche Glasgow:

Eine Postfiliale wird überfallen. Ein älterer Herr übergibt seinen Enkel einem jungen Mann, um auf diesen aufzupassen und hilft dem Posträuber beim Einsacken des Geldes. Er schein den Räuber zu kennen, wir aber von diesem mit einer AK-47 durchsiebt.

Bei einer Fahrzeugkontrolle eines vermeintlichen Drogenhändlers wird im Kofferraum des Audi Q7 eine Tasche mit ca. 200T Pfund von den zwei Detectives „sichergestellt“. Zu spät merken sie, dass es eine Falle ist.

Ein Politiker der Labour Party kämpft verzweifelt um seinen guten Ruf mit der Presse und mit seiner Frau Annie. „Annie Get Your Gun“ möchte man ihr zurufen. Wie geht dieser Politiker mit einem Presseartikel um, in dem er des außerehelichen Geschlechtsverkehrs mit eine minderjährigen Parteimitarbeiterin beschuldigt wird?

Die Geschichten entwickeln sich behutsam, Mina lässt ihren Figuren viel Zeit und Raum für persönliche Gedanken und Gefühle, dennoch bekommt der Leser den Eindruck vom verbrecherischen Milieu und deren Strukturen: "Sehr böse Männer beherrschen Glasgow."

Die dominierende Figur ist Detective Sergeant Alex Morrow von der Strathclyde Police, Mutter von Zwillingen mit engagiertem Hausmanne sehnt sich nach fröhlichen Weihnachten.

Das Cover ist eine Aufnahme von Jim Byrne, einem schottischen Photographen, Musiker, Designer und Künstler. Sie zeigt Paradise, Anniesland in Glasgow West End aus seinem GWE Photo Diary December 2019.

Von der Alex Morrow-Reihe sind bis 2020 neun Bücher in englischer Originalfassung erschienen. Nur zwei deutsche Fassungen gibt es: Blut Salz Wasser, 2018 und Götter und Tiere, 2020.

Entsprechende englische Ausgaben: Gods and Beasts (Alex Morrow 3), 2014 und Blood, Salt, Water (Alex Morrow 5), 2017. Deutsche Verlage scheuen sich etwas, Denis Mina zu übersetzten, während die englischen Ausgaben von vielen verschiedenen Verlagen aufgelegt werden.
Denise Mina schreibt keine normalen Krimis, sondern "politische Romane". Denn die Frage, wer der Täter war, ist ihr weniger wichtig als der Hintergrund und das Warum.

Sie bildet eine soziale und politische Realität mit schmerzendem Tiefgang ab, hier im schottischen Glasgow und sie ist die wahre "Queen of Tartan Noir".
Sie lässt Aristoteles aus Morrow sprechen: „Die nicht in Gemeinschaft leben oder ihrer bedürfen, sind entweder Götter oder Tiere.“

Bewertung vom 24.11.2020
Die Topeka Schule
Lerner, Ben

Die Topeka Schule


gut

Geschichte einer Familie um die Jahrtausendwende, in Kansas.

Der Autor Ben Lerner, geboren in Topeka, Kansas, war wie sein Hauptprotagonist Adam Gordon Mitglied eines Debattierteams an der Topeka High-School. Bei diesen Schülerdebatten geht es um das Zerpflücken der Argumente des gegnerischen Teams, ins Finale zu kommen und natürlich zu siegen. Wer am besten Schnellsen (schnell lesen) und am schnellsten Sprechen kann hat die besten Chancen. Rhetorik als Statussymbol.

Adams Eltern, Mutter Jane und Vater Jonathan sind beide in einer psychiatrischen Einrichtung tätig. Für Lerner eignet sich dieses Umfeld am besten zu Analyse der tiefen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft: Eine Krise der Rhetorik und eine Krise der Männlichkeit.

Wenn auch nicht immer leicht zu lesen und das Weiterlesen einige Überwindung kostet, kann man nachvollziehen, dass Lerners Roman wahre Begeisterungsstürme ausgelöst hat. Textpassage wie diese entschädigen für manche Konfusion: „Das Gegenteil einer trivialen Wahrheit ist einfach falsch. Das Gegenteil einer großen Wahrheit ist auch wahr. Es ist entweder August, oder es ist nicht August. Leben ist Schmerz, das ist wahr; je profunder die Aussage, desto umkehrbarer.“

Den roten Faden verliert man manchmal und es schwierig ist der Handlung zu folgen, wechseln die Kapitel nicht chronologisch und man weiß gar nicht, worum es wirklich geht. Die sehr dichte Schreibweise erfordert ein sehr konzentriertes Lesen.

Lerner schreibt diese Familiengeschichte nicht für die vernachlässigte weiße Schicht US-Amerikaner, die sich nicht auf dieses Debattierniveau schwingen kann oder will, sondern für die intellektuelle Literaturelite Amerikas.

Das Umschlagfoto am Cover kommt von The Wichita Eagle, der größten Tageszeitung aus Wichita, Kansas und zeigt den Hesston Tornado von 13. März 1990, knappe 60 km nördlich von Wichita Tornado. Die Stärke des Hesston Tornado wurde mit F5 auf der 12teiligen Fujita-Skala bewertet.

Mit Lerner habe ich das fiktiven Lerner Airfield auf der South Base des ehemaligen Militärgeländes Wendover Airfield, Utah als Drehort aus „Con Air” assoziiert.