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Aischa

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Insgesamt 533 Bewertungen
Bewertung vom 14.10.2022
Hund, Wolf, Schakal
Karim Khani, Behzad

Hund, Wolf, Schakal


ausgezeichnet

Neben der Liebe zählt Kriminalität in all ihren Facetten wohl zu den häufigsten literarischen Themen. Braucht es also noch einen Roman, der den Lebensweg eines Jungen hin zum Kriminellen aufzeigt? Definitiv, zumindest wenn das so modern und mitreißend wie in Behzad Karim Khanis Debüt gelingt.

Er erzählt die Geschichte Saams, einer 11jährigen Halbwaisen, der mit Vater und Bruder in den Wirren der iranischen Revolution nach Westberlin flieht. Dabei wurde ich nicht nur davon überrascht, dass ich den Protagonisten fast ausnahmslos sympathisch fand, auch dann noch, als er vom Kleinkriminellen zum brutalen Schläger wird. Auch die Sprache Khanis hat mich - im positiven Sinn - verblüfft: Er schafft kreative, treffende Bilder, zum Beispiel schreibt er über eine Reihe an Pfähle angebundene Baumsetzlinge, sie "befanden sich im Rohbau". Khani dichtet einer winterlichen Bank geradezu poetisch-zart einen "Dreitagebart aus Eis" an, aber er kann auch kraftvoll-brutal werden, etwa wenn er die Vergewaltigung eines Jungen dadurch verdeutlicht, dass er "Sperma scheißt".

Die Figur des Vaters bekommt etwas rührend Komisches, wenn er rätselt, ob die Häuschen in den Berliner Schrebergärten deutsche Slums oder doch eher eine Siedlung einer speziellen Religionsgemeinschaft sind. Ein klein wenig zu kurz kommt in meinen Augen, wieso sich das Machtgefüge zwischen Vater und Sohn so extrem zuungunsten des Ersteren verschiebt. Denn das passiert ja nicht "einfach so". Gelungen ist die Schilderung des Gefängnisalltags, in dem Agressionen der Häftlinge untereinander nachvollziehbar "einfach so" entstehen.

Saams Lebensweg ist unbedingt glaubwürdig, und so empfehle ich "Hund, Wolf, Schakal" nicht nur jedem Jugendrichter als Nachttischlektüre, sondern allen, die ein echtes Interesse an jungen Menschen haben, die auf die schiefe Bahn geraten sind.

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Bewertung vom 10.10.2022
Euphorie
Cullhed, Elin

Euphorie


ausgezeichnet

Elin Cullhed nähert sich der berühmten Literatin Sylvia Plath frappierend distanzlos. Die ausnahmslos aus der Ich-Perspektive verfasste Erzählung hat mich schnell vereinnahmt und ich wähnte mich bei der Lektüre unweigerlich in einer Romanbiografie, obwohl "Euphorie" gemäß einer Vorbemerkung der Autorin genau das nicht sein will. Zwar bedient sich der Plot hemmungslos biografischer Eckdaten Plaths, so dass man immer wieder meint, Auszüge aus ihren Tagebüchern zu lesen. Doch laut Cullhed ist die Sylvia im vorliegenden Roman dennoch reine Fiktion. Wieso also einerseits die große Ähnlichkeit zur realen Person, andererseits dieser Hinweis? Als Absicherung vor möglichen Klagen der Erben?

Egal - ob biografisch oder nicht, "Euphorie" ist die grandios geschriebene Innenansicht einer zerrissenen Seele, gequält durch Depressionen, zutiefst verunsichert und stets, jeder und jedem gefallen wollend. Die hochtalentierte Schriftstellerin Plath scheitert am Alltag als Ehefrau, Mutter und Dichterin, weder genügt sie den Ansprüchen ihres Schriftsteller-Ehemanns Ted Hughes, noch ihren eigenen. Sie wird zerrieben zwischen überbordender Liebe und zerstörerischem Hass.

Der Roman mutet seiner Leserschaft einiges zu, es ist beileibe kein Wohlfühlroman. Aber er lässt erahnen, wie erdrückend die Last einer psychischen Erkrankung sein kann. Sprachlich gesehen erweist Cullhed der außergewöhnlichen Plath mit "Euphorie" eine würdige Reminiszenz, es ist ein großartiger Roman über eine großartige Dichterin.

Bewertung vom 13.09.2022
Blinder Spiegel
Jamal, Salih

Blinder Spiegel


weniger gut

Nach den ersten Sätzen war ich durchaus angetan von der Geschichte über eine zunehmend toxische Affäre in Paris. Denn Salih Jamal hält sich nicht mit unnötigem Vorgeplänkel auf, nein, er führt seine Leserinnen und Leser ohne Umschweife mitten ins Geschehen. Und auch einige poetische oder kreative Sprachbilder nahmen mich sehr für die Erzählung ein. Doch leider sollte sich das schnell ändern.

Dass es zwischen den Protagonisten ausgerechnet auf einem Friedhof und noch dazu am hellichten Tag zu einem Blow Job kommt, mag man noch als plakative Verdeutlichung der stark sexuell geprägten Beziehung zwischen Elle und Lui deuten. Doch dann kippt die Sprache unversehens ins Kitschig-Schwülstige, und Luis meint beim Orgasmus die Callas singen zu hören. Tut mir leid, aber das ist keine gute Literatur, sondern schlichtweg Peinlichkeitsprosa. Die extreme Beziehung zwischen dem unsteten Fluglotsen und der "im goldenen Käfig" gefangenen Ehefrau wird entweder küchenpsychologisch oder gleich gar nicht erklärt. Eine Nebenfigur nimmt urplötzlich eine wichtige Rolle ein, um ebenso unerwartet wieder zu verschwinden, ihre Nähe zum Protagonisten bleibt schleierhaft.

Auch die Form des schmalen Büchleins ist nicht eindeutig: Einerseits ist es wie ein klassisches Drama in fünf Akten aufgebaut, andererseits weist es auch viele Merkmale einer Novelle auf, wie die begrenzte Anzahl von Personen, weitgehend eindimensionale Figuren ohne Entwicklung und ein außergewöhnliches Ereignis als zentrales Element mit extremem Wendepunkt. Irgendwie ist die Story nicht Fisch und nicht Fleisch, ganz als ob der Autor sich nicht entscheiden konnte oder wollte.

Ich jedenfalls habe mich entschieden: Dieses existenzialistische Einsamer-Wolf-verfällt-unglücklicher-Ehefrau-Gesülze muss niemand lesen, ich habe es leider zu spät gemerkt.

Bewertung vom 12.09.2022
Ein Mann mit vielen Talenten
Freeman, Castle

Ein Mann mit vielen Talenten


ausgezeichnet

Autor Castle Freeman lebt und schreibt in Vermont, und dort lässt er auch seinen Mephisto (hier mit dem bedeutungsvollen Namen Dangerfield) mit dem schrulligen Säufer und Ex-Lehrer Taft einen teuflischen Pakt schließen. Wie im allseits bekannten Faust-Motiv soll dieser dem Fürsten der Finsternis seine Seele verkaufen und im Gegenzug für eine begrenzte Zeit irdische Wünsche erfüllt bekommen.

Doch anders als bei Johann W. von Goethe oder Christopher Marlowe erkauft sich Freemans Taft vulgo Faust keine jugendliche Wolllust, nein, der alte Sonderling entpuppt sich überraschenderweise als selbstloser Wohltäter, der die teuflischen Talente nutzt, um Kinder gesunden zu lassen, Mobber zu bestrafen oder Nachbarn finanziell unter die Arme zu greifen.

Dies wird in großartigen Dialogen erzählt, Freeman liefert ein wahres Feuerwerk bissiger Schlagabtausche. Seine Figuren sind überzeugende Provinzcharaktere, ich habe dem Plot jede noch so skurrile Wendung abgenommen. Eine erfrischende, humorvolle Neuinterpretation des jahrhundertealten Faust-Motivs, auf gerade einmal 175 Seiten. Hier ist kein Wort zu viel, und zugleich gibt es nichts, was ich vermisst hätte! Brillant!

Bewertung vom 12.09.2022
Das Leben eines Anderen
Hirano, Keiichir_

Das Leben eines Anderen


ausgezeichnet

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen" - dieses Zitat des Philosophen Theodor W. Adorno ist hinlänglich bekannt, wenn auch oft sehr frei interpretiert. Der preisgekrönte, hierzulande noch weitgehend unbekannte, japanische Bestsellerautor Keiichirō Hirano stellt im vorliegenden Roman ebenfalls philosophische Betrachtungen an, die grundlegendste könnte in etwa lauten: "Gibt es ein richtiges Leben nach dem falschen?"

Die Geschichte beginnt dramatisch: Eine junge Witwe erfährt anlässlich des ersten Todestages ihres verstorbenen Gatten, dass dieser unter falscher Identität gelebt hatte. Er war nicht derjenige, für den er sich ausgegeben hatte, doch wer war er dann gewesen? Wen hatte sie geliebt? Ein von der Witwe beauftragter Anwalt begibt sich auf Spurensuche und stößt dabei auf ein kriminelles Netz aus Menschen, die sich eine neue Identität zulegen wollen, solchen, die ihre eigene verkaufen und Identitätsbrokern, die ein Geschäftsmodell daraus gemacht haben, Angebot und Nachfrage zusammen zu führen. Und die Nachfrage ist vielfältig, ganz so wie auch die Gründe, aus denen man in Japan das Gesicht verlieren kann und davon bedroht ist, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.

Überdies erfährt man viel von den Verwerfungen, mit denen Japan in der Vergangenheit - der Roman spielt im Jahr 2012 - zu kämpfen hatte: die tiefgreifende Verunsicherung durch den Tsunami und den dadurch verursachten Reaktorunfall in Fukushima, oder Rassismus gegenüber den Zaichini, der koreastämmigen Minderheit, die auch in dritter Generation und mit japanischer Staatsangehörigkeit noch angefeindet wird.

Hirano erzählt dies alles bemerkenswert ruhig und zurückhaltend, und dabei nicht weniger eindringlich. "Das Leben eines Anderen" ist bislang sein einziger ins Deutsche übersetzte Roman, es bleibt zu hoffen, dass sich dies bald ändert.

Bewertung vom 08.09.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


weniger gut

In einem Interview anlässlich der Veröffentlichung ihres Erfolgsromans "Ein wenig Leben" erklärte Autorin Hanya Yanagihara, sie hätte sich mit ihrem Lektor darüber gestritten, wie viel ein Leser ertragen kann.

Nun, ich kann nur für mich sprechen und auch nur über ihren aktuellen Roman "Zum Paradies", aber ich HABE dieses Werk definitiv als Zumutung empfunden. Und zwar in erster Linie aufgrund seiner Länge und der Anhäufung von Nichtigkeiten. Vor allem in der zweiten Romanhälfte verliert sich Yanagihara in langweiligen Wiederholungen, die Geschichte kommt nur im Schneckentempo voran, und meine Geduld wurde aufs Äußerste strapaziert.

Dabei ist die Romanidee sehr attraktiv: drei Teile, die im Abstand von je einem Jahrhundert in New York spielen, mit einer gemeinsamen Kulisse eines Wohnhauses am Washington Square. Aber wieso wimmelt es in den knapp 900 Seiten nur so von Männern namens Charles, Edmund, David und William? Anfangs habe ich noch verweifelt nach Abstammungslinien gesucht, bald habe ich überfordert aufgegeben.

Teil eins ist noch am originellsten, eine in der Vergangenheit angesiedelte Utopie. Wir schreiben das Jahr 1893, und Homosexualität ist gleichermaßen weit verbreitet wie gesellschaftlich akzeptiert. Gleichgeschlechtliche Ehen sind selbstverständlich, den Kinderwunsch erfüllt man sich in diesen Partnerschaften durch Adoption. Doch das war es dann auch schon an Originalität, der Rest ist eine schwülstige Variation des Themas "Geld oder Liebe".

Der zweite Teil mäandert zwischen der durch die AIDS-Epidemie erschütterten schwulen Community New Yorks und der sich in Auflösung befindlichen Gesellschaft der hawaiianischen Natives. Die Erzählung wird immer sprunghafter, surreal, schwer verständlich. Schade, ich hätte gerne mehr über die Insulaner erfahren, zumal die Autorin selbst hawaiianische Vorfahren hat.

Die größte Zumutung ist schließlich der letzte Teil, der leider rund die Hälfte des gesamten Romans einnimmt. Hat sich hier keine Lektorin getraut, der Erfolgsautorin die Stirn zu bieten und Belangloses zu kürzen? Ihr zu sagen, dass sich hinter der offensichtlichen Formverliebtheit - Gesellschaftsroman, Sittengemälde, Briefroman - nicht nur Banalitäten und emotionales Geschwurbel verstecken dürfen?

Jedenfalls möchte ich hiermit das wundervolle Design- Prinzip "Form follows function" auf die Literatur übertragen, und zwar mit dem Postulat "Form follows fiction"!

Bewertung vom 26.08.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


ausgezeichnet

Bereits für ihr Romandebüt "Desorientale" wurde Négar Djavadi mehrfach ausgezeichnet, und auch "Die Arena" ist in meinen Augen extrem preisverdächtig.

Der Roman vereint Gesellschaftskritik - insbesondere an Medien, Polizeiarbeit und verfehlter Integrationspolitik - mit Elementen des Thrillers. Die Autorin zeichnet ein schillerndes Kaleidoskop an Figuren, und so wie die bunten Splitter sich in diesem optischen Gerät durch Drehung des verspiegelten Rohrs blitzschnell zu völlig neuen Bildern zusammensetzen, so ergeben sich auch im Buch von Kapitel zu Kapitel überraschend neue Sichtweisen. Dabei gelingt es Djavadi trotz der zahlreichen Personen und des komplexen Handlungsgefüges, sich nicht in einer der vielen Verzweigungen zu verlieren. Nein, man wird als Leser*in gekonnt und auf extrem hohem Niveau unterhalten und ins fulminante Finale geleitet.

Der Titel könnte nicht treffender gewählt sein: Die Arena als Kampfplatz römischer Gladiatoren wird nun in die Pariser Banlieues verlegt, wo sich konkurrierende Banden jugendlicher Drogendealer verzweifelte, tödliche Kämpfe liefern. Wir kennen ebenso die Wahlkampfarena, in der Politiker medienwirksam mit harten Bandagen um Stimmen der Wahlberechtigten kämpfen. Im Roman thematisiert Djavadi dies anhand des Wahlkampfs für das Amt der Pariser Bürgermeisterin. Und letztlich dürfen wir auch einen Blick auf die Arena als Zirkusmanege oder Musikarena werfen. Nämlich immer dann, wenn es um beifallheischende (Selbst-)Darstellung geht, sei es in Form von Social Media Posts oder am Beispiel des Protagonisten Benjamin, der als Serienchef eines internationalen Streaming-Konzerns unter immensem Erfolgsdruck steht.

Beeindruckt bin ich auch von der stilistischen Treffsicherheit Djavadis. Ob sie eine vierzehnjährige Schülerin, eine ehrgeizige Polizistin mit Migrationshintergrund, die cinematophile Mutter des Protagonisten oder einen syrischen Geflüchteten sprechen lässt - ich glaube ihr bzw. den Figuren jedes einzelne Wort.

"Die Arena" ist ein in jeder Hinsicht gelungener Roman, den man sich nicht entgehen lassen sollte, auch wenn man sich durch die Lektüre definitiv vom romantisierten Parisbild der Tourismusindustrie verabschieden muss.

Bewertung vom 23.08.2022
Glücksorte in der Oberpfalz
Stoltenberg, Stefanie

Glücksorte in der Oberpfalz


gut

Bis Ende der 1980er Jahre als Zonenrandgebiet stigmatisiert ist die Oberpfalz noch heute nicht unbedingt der bayerische Regierungsbezirk, der einem als erstes in den Sinn kommt, wenn man attraktive Ausflugsziele sucht.

Dass diese Region überraschend attraktive Freizeitdestinationen bietet, zeigt die gebürtige Nabburgerin Stefanie Stoltenberg mit dem vorliegenden Reiseführer. Die von ihr ausgewählten 80 "Glücksorte" sind erfreulich abwechslungsreich, es finden sich Wanderungen in der Natur oder ungewöhnliche Museen in der Stadt, es gibt Kulinarisches, Sportliches, Kulturelles, Besinnliches und Actionreiches.

Jeder Glücksort wird auf einer Doppelseite vorgestellt, wobei eine Seite von einem großformatigen Farbfoto eingenommen wird. Hier muss man leider erste Abstriche machen; die Bilder wirken teils amateurhaft und sind nicht immer sehr aussagekräftig. Die Texte sind gefällig, aber leider rutscht so manche Beschreibung in eine banale Plauderei ab, ich hätte mir stattdessen mehr konkrete Informationen gewünscht, etwa zu Öffnungszeiten, Preisen etc. Zwar kann man dies anhand der angegebenen Websites selbst recherchieren, dies ist jedoch etwas mühsam. Zudem lassen die 80 Ausflugsziele keinerlei Sortierung erkennen, sondern sind bunt durcheinander gewürfelt. Daher wären kleine Symbole hilfreich, die auf einen Blick zeigen, ob sich der Tipp für Kinder eignet, barrierefrei ist, eine sportliche oder kulturelle Aktivität beinhaltet. Zur Orientierung befindet sich auf der hinteren Innenklappe eine Übersichtskarte. Nur leider ist diese nicht wirklich übersichtlich gestaltet: Die Nummern, die den Glücksorten zugeordnet sind, sind sehr klein und dünn geraten, so dass die Karte weniger Hilfsmittel als vielmehr Suchrätsel ist.

Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass von den 80 vorgestellten Zielen lediglich 26 mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind, für die große Mehrzahl ist man leider bei der Anreise aufs Auto angewiesen. Dies mag dem vergleichsweise schlecht ausgebauten ÖPNV in der Oberpfalz geschuldet sein, man sollte es jedoch vor dem Kauf des Buchs bedenken.

Wer sich daran nicht stört, sondern vor allem Anregungen für noch weitgehend unbekannte Ausflugstipps sucht, wird an der handlichen Klappenbroschur seine Freude haben.

Bewertung vom 18.08.2022
Meine Schwester
Flitner, Bettina

Meine Schwester


sehr gut

Bettina Flitner ist bislang vor allem als Fotografin in Erscheinung getreten, manchen ist sie vielleicht auch als Frau an der Seite von Alice Schwarzer bekannt. Nun hat Flitner ihr erstes literarisches Buch veröffentlicht, ein Memoir, in dem ihre ältere Schwester eine zentrale Rolle spielt. Die Schwester, die jahrelang unter Depressionen litt und ihr Leben durch Selbstmord beendete, ebenso wie die Mutter 33 Jahre zuvor.

Die beiden Schwestern müssen nicht nur mit dem Suizid der Mutter klar kommen, sondern auch damit, den Erwartungen des Vaters an ihre beruflichen Laufbahnen nie zu genügen. Überhaupt ist das familiäre Umfeld schwierig. Die Eltern sind linksliberale Bildungsbürger und haben wechselnde Liebschaften. Es war zwar die Zeit der Hippies, der sexuellen Revolution und der freien Liebe, doch so wirklich frei schienen sie nicht - Eifersucht prägte den Alltag. Zwar suchte man dies vor den Töchtern zu verbergen, in dem die Eltern Krisengespräche auf Französisch führten, aber die Kinder bekamen die Spannungen natürlich dennoch zu spüren. Auch das Verhältnis zu den Großeltern war alles andere als herzlich, waren diese doch voller althergebrachter Standesdünkel und sehr autoritär.

Bettina Flitner macht all dies - und noch vieles mehr - mit ihrem literarischen Debüt öffentlich. Vorwürfe findet man dabei erstaunlich wenige, oft nur in Andeutungen. Nein, dies ist keine Anklageschrift, sondern der Versuch der Autorin, durch möglichst nüchternes Erzählen die eigene Geschichte besser zu verstehen. Und doch ist der Text sehr bewegend, auch wenn es manch langatmige Passage gibt. Überdies beschlich mich mehr als einmal das unangenehme Gefühl, unerlaubterweise in einem fremden Tagebuch zu lesen. Vermutlich deshalb, weil Flitner nichts verfremdet oder anonymisiert, sondern alle Familienangehörigen bei vollem Namen nennt. Einzig Susanne wird von ihr fast durchgängig als "meine Schwester" benannt, ganz als ob die Autorin bei aller Offenheit doch einen Rest an Distanz wahren möchte.

Sprachlich ist der Text recht solide, die Sätze sind oft knapp, ruhig, unprätentiös. Insgesamt überzeugt mich die Form nicht ganz so wie der Inhalt. Die Erzählung wirkt auf mich, als ob Tagebücher etwas überarbeitet und für die Öffentlichkeit aufpoliert wurden. Die wenigen Metaphern sind nicht sonderlich originell, etwa die Darstellung der Depression als schwarze Raben, die die Kranke umflattern.

Aber "Meine Schwester" ist ein Buch, das mich berührt hat. Nicht zuletzt dadurch, dass sich Flitner auf die Suche nach Antworten begibt und es zugleich aushält, dass einige Fragen offen bleiben. Und darin liegt, bei aller Tragik, auch ein gewisser Trost.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.08.2022
Isarrauschen
Hillebrand, Diana

Isarrauschen


ausgezeichnet

Autorin Diane Hillebrand lässt alle hier versammelten 18 Kurzgeschichten in München spielen, und da ich zugegebenermaßen ein erklärter Fan der wunderschönen Isarmetropole bin, hat sie damit quasi schon einen Stein bei mir im Brett.

Hillebrand ist zwar selbst "Zuagroaste", kennt die bayerische Landeshauptstadt nach über drei Jahrzehnten (und überdies mit einem waschechten Münchner als Ehemann an ihrer Seite) jedoch definitiv gut genug, um authentisch darüber schreiben zu können. Das merkt man nicht nur am Setting der Geschichten, die auch mal abseits der touristischen Hotspots spielen, sondern auch daran, wie treffsicher sie Münchner Typen skizziert, ganz in der Tradition von Sigi Sommer oder Karl Valentin. Hillebrands Figuren sind meist die sogenannten "kleinen Leute", etwa eine alleinerziehende Mutter mit Geldsorgen, ein Rentnerehepaar, das in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Routine nebeneinander her lebt oder ein eifersüchtiger Trambahnfahrer.

Viele Geschichten haben mich zum Schmunzeln gebracht, einige aber auch zum Nachdenken, denn bei aller Leichtigkeit in der Erzählweise schlägt Hillebrand auch sozialkritische Töne an.

Gerne mehr davon - diese literarischen München-Häppchen haben Appetit gemacht, den Hunger aber nicht gestillt!