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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 28.06.2022
Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2
Abel, Susanne

Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2


ausgezeichnet

In „Was ich nie gesagt habe“ schreibt Susanne Abel nicht nur die Geschichte von Greta und ihrem Sohn Tom fort, sondern gewährt gleichzeitig auch einen Blick in die Familienhistorie der Monderaths. Aber keine Sorge, diesen Roman kann man auch ohne Kenntnis von „Stay away from Gretchen“ lesen, da sämtliche relevanten Ereignisse erwähnt und in die Handlung eingearbeitet wurden. Auch wenn die Autorin immer wieder Verbindung zum Vorgänger herstellt, ist der Fokus diesmal auf Tom und die männliche Linie gerichtet und beschäftigt sich mit der zentralen Frage, welche traumatischen Auswirkungen das Verschweigen wichtiger Geschehnisse und Entscheidungen innerhalb einer Familie auf die Nachgeborenen haben kann.

Schauen wir zuerst auf die Form. Abel verwendet ein Konzept, das in Romanen, die sich mit Familiengeheimnissen auseinandersetzen, Usus ist und bereits im Vorgänger erfolgreich war. Es gibt zwei Handlungsebenen im Wechsel, zum einen natürlich die Vergangenheit, beginnend im Jahr 1933 bis Ende des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus, zum anderen die Gegenwart, und hier das Jahr 2016, in dem der Protagonist unverhofft mit einem Halbbruder konfrontiert wird und sämtliche Gewissheiten seines Lebens mit einem Mal in Frage gestellt werden. Die Ähnlichkeit der Halbgeschwister ist für beide überraschend und wirft Fragen nach dem gemeinsamen Vater auf. Einem Vater, der zeit seines Lebens unnahbar war und keine Nähe zuließ. Und so beginnen sie, in dessen Vergangenheit nach Antworten zu suchen, nicht wissend, dass sie damit die Büchse der Pandora öffnen.

Abel beschreibt das Leben im Nationalsozialismus, das Aufwachsen der Kinder, deren Verführung durch die Rattenfänger, ihre Überzeugung, für die gerechte Sache zu kämpfen, wenn sie als Jugendliche in den Krieg ziehen. Sie schildert die Trauer der Menschen, die ein geliebtes Kind verlieren, dessen Leben als unwert eingeordnet wird. Die Schrecken der Bombennächte, in der ganze Familien ausradiert werden. Die menschenverachtenden Auswüchse dieser Ideologie und deren Anhänger, die gnadenlos Menschleben zerstören und eine Generation hervorbringen, deren Schuldgefühl und Schweigen familiäre Nähe unmöglich macht.

Dem Roman liegt eine gründliche Recherchearbeit der Autorin zugrunde. Nicht alle erwähnten Personen in diesem Roman sind fiktiv, ebenso die Konsequenzen, Ereignisse und Reaktionen, die sich daraus für die Protagonisten ergeben, was deren Handeln umso glaubwürdiger macht. In einem ausführlichen Nachwort, ergänzt durch eine umfangreiche Literatur- und Medienliste, geht Susanne Abel darauf im Detail ein.

Bewertung vom 27.06.2022
Bretonische Nächte / Kommissar Dupin Bd.11
Bannalec, Jean-Luc

Bretonische Nächte / Kommissar Dupin Bd.11


gut

Der Autor kennt die Bretagne wie seine Hosentasche und hat schon wiederholt die verschiedenen Facetten dieser Region aufgezeigt. Es sind immer die Alleinstellungsmerkmale der Handlungsorte, denen er seine Aufmerksamkeit widmet. Landschaftliche oder kulinarische Highlights, kulturelle und historische Besonderheiten, außergewöhnliche architektonische Kleinode, wie die liebevoll restaurierte Abbye des Anges aus dem 16. Jahrhundert, nahe der Bucht von Aber Wrac’h im Finistère, deren Umgebung er auch in „Bretonische Nächte“ stimmungsvoll und kenntnisreich in Szene setzt.

Kadegs 89-jährige Tante ist verstorben, nachdem zahlreiche Vorboten ihren nahen Tod angekündigt haben. Das allein wäre nicht außergewöhnlich und keine Ermittlung wert, aber dann wird Kadeg nachts auf dem Gelände ihres Anwesen niedergeschlagen und lebensgefährlich verletzt. Das nehmen nicht nur Kommissar Dupin sondern auch Kadegs Teamkollegen persönlich und setzen alles daran, den Täter/die Täterin dingfest zu machen.

Mittlerweile ist die Reihe beim elften Band angelangt und zeigt leichte Ermüdungserscheinungen. Über weite Strecken hat man den Eindruck, dass sich der Autor nicht entscheiden kann, welches Motiv er den gewalttätigen Übergriffen zugrunde legen soll. Die Handlung plätschert mehr oder weniger vor sich hin, die Anzahl der Verdächtigen ist wie immer übersichtlich. In der Erbmasse ist jede Menge Geld im Spiel, um dessen Verteilung es die eine oder andere Unstimmigkeit gibt. All das reicht aber bei Weitem nicht, um Spannung zu erzeugen und das Interesse an der Auflösung hochzuhalten. Der Berg kreist und gebiert schlussendlich eine Maus, sprich, auf den letzten Metern wird ein Motiv aus dem Hut gezaubert, das zumindest mich nicht überzeugen konnte. Das ist weder komplex noch raffiniert, und die Vermutung liegt nahe, dass dem Autor langsam aber sicher die Ideen ausgehen.

Das Tüpfelchen auf dem i ist jedoch die Schlusssequenz, ein müder Cliffhanger und eine überflüssige Konzession an die Leserschaft.

Bewertung vom 23.06.2022
Der Buchladen von Primrose Hill
Martin, Madeline

Der Buchladen von Primrose Hill


sehr gut

„Lädchen-Bücher“ sind mir ein Gräuel, laufen sie doch immer nach dem gleichen Schema ab. Protagonistin wagt einen Neuanfang/erbt einen Laden, muss mit Problemen kämpfen, trifft eine gutaussehenden Mann, den sie nicht ausstehen kann, aber verliebt sich dann in ihn, weil er edel, hilfreich und gut ist, und dann leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Groschenroman-Niveau.

Aber der Klappentext mit London, Bücher und Blitzkrieg hat mich getriggert, und deshalb ich meine Vorurteil über Bord geworfen und mich an Madeline Martins „Der Buchladen von Primrose Hill“ herangewagt. Wie erwartet sind ähnliche Handlungselemente zwar auch in diesem Roman zu finden, aber glücklicherweise nur wohldosiert. Eine junge Frau kommt nach London, findet Arbeit in einer Buchhandlung, entdeckt ihre Liebe zu Büchern, und lernt - natürlich – auch einen Mann kennen, der nicht nur die Liebe zur Literatur in ihr weckt. Er spielt allerdings keine große Rolle, weil er zum Kriegsdienst eingezogen wird und erst kurz vor Ende des Romans wieder auftaucht.

Es ist eine Geschichte über das Leben im Krieg zwischen 1939 bis 1945. Über Menschen, die sich allen Widrigkeiten stellen, Entbehrungen ertragen, Verluste beklagen, trauern und weitermachen, auch wenn die Welt um sie herum aus den Fugen gerät und alles zusammenbricht.

Es ist eine Geschichte über Hoffnung und die Magie der Bücher, Trostspender selbst in dunkelsten Zeiten. Wenn der Bunker unter den Bombeneinschlägen erzittert, Menschen Angst um ihr Leben haben, die Düsternis heller wird, weil die Protagonistin aus George Eliots „Middlemarch“ vorliest und sie mit in eine Zeit nimmt, in der der Alltag unbeschwert ist.

Es ist eine Geschichte über Menschen, die den Wert des gedruckten Wortes erkennen. Exemplarisch dafür steht der Buchhändler, der Exemplare mit Brandstellen, die aus den Flammen der Bücherverbrennungen der Nazis gerettet wurden, aufkauft und sammelt, sie in einen Safe einschließt, damit sie der Nachwelt erhalten bleiben.

Es ist eine Geschichte über das Überleben in schweren Zeiten, eine Hommage an die Literatur, Bücher, Buchhandlungen und nicht zuletzt auch an die Leser.

Nachtrag: Wer sich schon einmal mit diesem historischen Zeitraum beschäftigt hat, ist vielleicht auch auf ein ganz besonderes Ereignis gestoßen, den „Blitz“ am 29. Dezember 1940. In dieser Nacht ging durch das massive Bombardement der Nationalsozialisten die Innenstadt in Flammen auf. Zwischen 18 Uhr und 6 Uhr morgens wurden 100.000 Brandbomben und 24.000 Sprengbomben abgeworfen. Unter anderem auch auf die Paternoster Row, Zentrum des Londoner Buchhandels, die komplett ausbrannte, wobei über 5 Millionen Bücher ein Opfer der Flammen wurden.

Bewertung vom 21.06.2022
Virginia und die neue Zeit / Die Liebenden von Bloomsbury Bd.1
Martin, Stefanie H.

Virginia und die neue Zeit / Die Liebenden von Bloomsbury Bd.1


gut

Seit Romanbiografien in den letzten Jahren inflationär den Markt überschwemmen, stehe ich diesem Genre zugegebenermaßen skeptisch gegenüber. Nun also „Die Liebenden von Bloomsbury“ über die Frauen der Bloomsbury Group, und dann gleich noch im Dreierpack. Den Anfang macht Virginia Woolf, kein Postergirl oder die Frau von Soundso, sondern eine ernst zu nehmende Autorin, die seit „A room of one’s own“ vielen Frauen Inspirationen für ein selbstbestimmtes Leben geliefert hat. Die Autorin Stefanie H. Martin schreibt auch Young Adult Romane (überhaupt nicht mein Fall), hat aber auch über Charlotte Brontë promoviert, was eine gewisse Kompetenz vermuten lässt.

Beschrieben werden die Anfänge der Bloomsberries im Zeitraum zwischen 1903 bis 1909, einer Gruppe gut ausgebildeter junger Intellektueller, meist Absolventen der Universität Cambridge, die sich zu Diskussionsrunden über Literatur, Kunst und Wissenschaft im Haus der Stephen-Geschwister Virginia, Vanessa, Toby und Adrian am Gordon Square 46 in Bloomsbury, wobei es im viktorianischen Zeitalter eher unüblich ist, dass Frauen an diesen Zirkeln teilnehmen. Aber es gibt Situationen, in denen man sich gegen Konventionen auflehnen muss, denn nur so besteht eine Chance auf Veränderung. Das ist Virginia zwar bereits früh klar, aber noch bewegt sie sich in diesem vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen, auch wenn ihr Sinnen und Trachten darauf ausgelegt ist, für ihre schreibende Kunst zu leben. Anfangs sind es zwar nur Essays, die sie in verschiedenen Publikationen platzieren kann, aber wir wissen, dass es ihr gelingen, aber sie auch verzehren wird.

Diese Annäherung an Virginia Woolf ist historisch zwar korrekt, aber eben doch sehr populär aufbereitet. Dennoch eignet sich der gut lesbare Roman für „Neulinge“ durchaus als Einstieg in Virginias Leben und Werk. Bleibt zu hoffen, dass die Lust der Leserinnen geweckt wird, Virginia Woolf im Original bzw. der Übersetzung zu lesen.

Bewertung vom 21.06.2022
All dies ist nie geschehen
Norek, Olivier

All dies ist nie geschehen


ausgezeichnet

Mein eindringlicher Appell: Lest dieses Buch!

Drei Weg, die sich kreuzen: Adam, Ex-Polizeiinspektor aus Syrien. Kilani, ein stummer sudanesische Junge. Und Bastien, auf eigenen Wunsch zur Polizei von Calais versetzt.

„Angesichts der Grausamkeit der Realität wollte ich es mir nicht erlauben, eine Geschichte zu erfinden. Nur der Verlauf der hier geschilderten polizeilichen Ermittlungen ist fiktiv.“

So Olivier Norek, der diese Aussage seinem auf Tatsachen beruhenden Roman „Entre deux mondes“ voranstellt, in der Übersetzung unter dem nichtssagenden Titel „All dies ist nie geschehen“ erschienen.

Sie kommen aus Afghanistan, Sudan, Eritrea, Iran, Pakistan, Äthiopien, Sudan, Jemen und Syrien. Ihr Ziel: Über den Ärmelkanal nach „Youkay“. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort: Der Dschungel von Calais. Die Vorhölle.

Der Handlungszeitraum erstreckt sich von Juli bis zur Räumung des provisorischen Camps im Oktober 2016. Und auch wenn seither mehr als fünf Jahre vergangen sind, leben noch immer unzählige Geflüchtete in den Wäldern, unter Brücken oder provisorischen Lagern in und um Calais, weshalb dieses 2017 im Original erschienene Buch nichts von seiner Aktualität verloren hat. Erschütternd, hart und kompromisslos zeigt uns der Autor, wie Europa mit Migranten umgeht, die nicht blond und blauäugig sind. Keine Verurteilung, sondern Denkanstöße.

Norek, Enkel eines schlesischen Migranten und geboren in Frankreich, hat fünfzehn Jahre bei der Polizei von Seine-Saint-Denis Dienst getan, und aus dieser Tätigkeit speisen sich die Themen seiner Romane. Für diesen hier hat er über einen längeren Zeitraum vor Ort im Dschungel recherchiert. Tagsüber sich die Geschichten der Migranten erzählen lassen, ihre Interaktionen beobachtet, nachts mit den Polizisten unterwegs, die angewiesen sind, deren Überfahrt nach England zu verhindern. Randnotiz: Frankreich hat sich von GB dafür seit 2015 mit mindestens 131 Millionen Euro entlohnen lassen.

Bewertung vom 19.06.2022
1979 - Jägerin und Gejagte
Mcdermid, Val

1979 - Jägerin und Gejagte


ausgezeichnet

Val McDermids neuer Roman markiert den Beginn einer fünfbändigen Reihe, in der uns die Autorin auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen möchte. Im Zentrum steht Allie Burns, eine junge Journalistin, die im Auftaktband „1979“ ihre erste Stelle bei dem fiktiven Glasgower Boulevardblatt Clarion angetreten hat. Die Ähnlichkeiten mit McDermids Biografie sind nicht zufällig. Offenbar musste sie ähnliche Erfahrungen als junge Berufsanfängerin in einem von alten weißen Männern dominierten Arbeitsumfeld machen, das von Sexismus und Homophobie geprägt war. Denn auch sie verdiente bis 1991 ihre Speckbrötchen als Journalistin, bevor sie sich ab diesem Zeitpunkt ausschließlich dem Schreiben von Kriminalromanen widmete.

Ende der siebziger Jahre sind Journalistinnen in den Redaktionen noch die Ausnahme. Zwar gibt es sie vereinzelt, aber dann sollen sie sich nach Ansicht der männlichen Kollegen gefälligst um die Frauenthemen kümmern. Für persönliche Ambitionen bleibt da wenig Platz. Das gilt auch für Allie Burns. Aber sie ist ehrgeizig und sich ihrer Fähigkeiten bewusst, möchte endlich weg von diesen klassischen 3K-Themen, die man ihr immer aufs Auge drückt. Sie will investigativ arbeiten, die Titelseite mit einer Enthüllungsstory füllen. Unterstützt wird sie dabei von Danny, einem jungen Kollegen, der wie sie darauf brennt, sich einen Namen zu machen. Der erste Schritt in diese Richtung ist die gemeinsame Titelgeschichte über eine dubiose Anlageberatungsgesellschaft, für die sie sich die Anerkennung der arrivierten Journalisten verdienen. Und der nächste Scoop lässt nicht lange auf sich warten und steht in direktem Zusammenhang mit dem schottischen Referendum von 1979. Bei einer Veranstaltung der Scottish National Party belauscht Allie eine Unterhaltung, die sie vermuten lässt, dass ein Bombenanschlag geplant ist. Als Frau ist ihr der Zugang zu der Splittergruppe verwehrt, aber Danny gelingt es, das Vertrauen der Männer zu gewinnen…

Ja, es gibt einen Toten und natürlich auch die Suche nach dem Mörder. Aber „1979“ ist kein Kriminalroman, sondern die Chronik eines Jahres, in dem Großbritannien an einem Wendepunkt angelangt ist. Die Inflation liegt bei 17 %, als Gegenmaßnahme friert die Labour-Regierung unter PM Jim Callaghan die Löhne ein. Die Gewerkschaften sind empört, ermutigen ihre Mitglieder zum Dauerstreik. In Schottland und Wales gibt es Bestrebungen, Regionalparlamente einzusetzen. Und in Westminster lauern die Torys unter Margret Thatcher auf ihre Chance. Wir wissen, was dann geschehen ist.

McDermid schafft es, mit wenigen Pinselstrichen die siebziger Jahre wieder auferstehen zu lassen. Schreibmaschinengeklapper, übervolle Aschenbecher und zum Ausklang des Tages ein paar Gläser Famous Grouse. Dazu den einen oder anderen Musiktitel (am Ende des Buches ist eine Playlist zu finden), Verweise auf journalistische Vorbilder wie Woodward, Bernstein und Joan Didion, und nicht zu vergessen die Verbeugung vor William McIlvanney, Autor der Laidlaw-Trilogie und Vater des Tartan Noir.

Alles wohldosiert und unaufdringlich, nie auf Kosten der Story. Ist charmant nostalgisch und weckt Erinnerungen. Ein großer Wurf, der einmal mehr die besondere Begabung der schottischen Autorin vor Augen führt. Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.06.2022
Mörderisches Madeira / Comissário Torres Bd.2
Bento, Tomás

Mörderisches Madeira / Comissário Torres Bd.2


schlecht

Madeira, das schroffe Kleinod im Atlantik, früher ein Geheimtipp, mittlerweile fest in touristischer Hand. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Verfasser von Urlaubskrimis dieses Eiland als Handlungsort für sich entdeckt haben. Aber ist eine quasi exotische Lokalität ein Garant für einen spannenden Kriminalroman? Und hat der Autor die Fähigkeit, die besondere Atmosphäre diese Insel zum wesentlichen Bestandteil der Handlung zu machen?

Es ist Frühling, und Laura Fleming, die wir bereits aus dem Vorgänger „Tod auf Madeira“ kennen, hat ihre Koffer gepackt. Der Abgabetermin für ihren neuen Krimi steht ins Haus, und sie hofft, auf Madeira Ruhe zum Schreiben zu finden. Aber sie freut sich auch auf ein Wiedersehen mit einem Freund, Comissário Mauricio Torres, den sie bei ihrem letzten Aufenthalt auf der Insel kennengelernt hat. Aber ehe sie sich versieht, steckt sie mitten in einem Mordfall, in dem Mauricio die Hände gebunden sind, denn der Hauptverdächtige ist sein Bruder.

Bereits der Vorgänger war ein mehr als konventionell gestrickter Krimi, weder atmosphärisch noch sonderlich spannend. Und auch „Mörderisches Madeira“, der zweite Band der Reihe, ist voller Klischees, die nur jemand verbraten kann, der auf den ausgetretenen Pfaden der Pauschaltouristen wandelt. Das fängt bereit bei der Auswahl des Handlungsortes an. Prazeres? Wirklich? Natürlich wieder in der Nähe des touristischen Hotspots Calheta. 700 Einwohner, landschaftlich schön gelegen, aber jede Menge Ferienwohnungen, Hotels und Apartmentanlagen, die dem Ort die Einzigartigkeit genommen haben. Und auch die Rumbrennerei, hier der Tatort und das nächste Alleinstellungsmerkmal der Story, hat auf der Insel längst an Bedeutung verloren.

Auch bei der Beschreibung der Protagonisten ist kein Fortschritt festzustellen. Klar, alles läuft darauf hinaus, dass Laura und Mauricio ein Paar werden. Aber braucht es dazu die gebetsmühlenhaften Wiederholungen? Laura hat Eheprobleme, Mauricio trauert noch immer um seine tote Frau, beides ist hinlänglich bekannt und trägt nicht zum Fortgang der Krimihandlung bei. Genau so wenig wie die das Erwähnen von Saudade und Fado. Nein, die Madeirer sind kein Volk von lebensmüden Melancholikern, offenbar hat der Autor noch nie die ausgelassene und lebensfrohe Atmosphäre bei einem Dorffest auf der Insel erlebt.

Weder zeugt dieser Kriminalroman von Ortskenntnis noch bietet er eine spannende und unterhaltsame Lektüre. Und Werbung für die Blumeninsel ist er schon zweimal nicht, dafür uninspiriert und langatmig. Ein Ärgernis!

Bewertung vom 13.06.2022
Milde Gaben / Commissario Brunetti Bd.31
Leon, Donna

Milde Gaben / Commissario Brunetti Bd.31


ausgezeichnet

Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass sich nicht nur die Touristen sondern auch die Kriminellen aus Venedig zurückgezogen haben. Tote Hose in der Questura, lediglich Kleinkram ohne besondere Relevanz. Kein Grund für den Commissario einzugreifen. Doch dann taucht eine Besucherin aus der Vergangenheit in seinem Büro mit einem etwas seltsamen Anliegen auf. Elisabetta Foscarini, die ehemalige Nachbarstochter, fordert einen Gefallen von Brunetti ein. Sie ist besorgt und vermutet, dass ihr Schwiegersohn in zwielichtige Geschäfte verwickelt ist. Zumindest hat er ihrer Tochter gegenüber Andeutungen gemacht, dass auch sie in Gefahr sein könnte.

Der Commissario zögert, denn solche inoffiziellen Überprüfungen könnten ihn in große Schwierigkeiten bringen. Elisabettas überhebliche Art aus Teenagertagen ist ihm noch unangenehm in Erinnerung, aber auch die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit ihrer Mutter, die ohne großes Aufhebens in der Vergangenheit immer wieder seine Mutter unterstützt und dafür gesorgt hat, dass auch in Zeiten, in denen das Geld knapp war, ein ordentliches Essen auf dem Tisch der Brunettis stand. Glücklicherweise ist der Vice Questore aushäusig und so willigt der Commissario schließlich ein, die Geschäfte des Schwiegersohns etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Unterstützt wird er dabei wie immer von seinen üblichen Mitarbeitern Griffoni, Vianello und natürlich Signorina Elletra, die bei der Informationsbeschaffung wieder einmal jenseits der Legalität agiert.

„Milde Gaben“ präsentiert mit Venedig ein vertrautes Setting, auch wenn sich dieses im Lauf der Reihe verändert hat. Und nicht zum Besten. Die klassischen Geschäfte für den täglichen Bedarf der immer weniger werdenden Bewohner sind verschwunden, an ihrer Stelle gibt es jetzt Touristenkitsch aus Fernost. Palazzi wurden an zahlungskräftige Investoren verhökert, die bei ihren Umbaumaßnahmen deren historische Relevanz ignorieren. Geblieben ist die Gewissheit, dass das Venedig der Vergangenheit unaufhaltsam im Verschwinden begriffen ist. Und so, wie die alte Serenissima verschwindet, verlieren auch die alten Werte immer mehr an Bedeutung und/oder werden nur noch zum eigenen Vorteil genutzt.

Im Zentrum des Geschehens stehen einmal mehr die dehnbaren italienischen Gesetze samt der Lücken, die Betrügereien Tür und Tor öffnen und die Grenzen zwischen kriminellem und nicht-kriminellem Verhalten verwischen. Im speziellen Fall Brunettis wird dies ergänzt durch das vage Gefühl der persönlichen Verpflichtung, das ihn mit der gegebenen Zusage hadern lässt, wenn er wider besseres Wissen moralische Grenzen überschreitet und Regeln beugt, um einen eingeforderten Gefallen zu erweisen.

Die Frage nach Tat oder Täter rückt in den Hintergrund, ist in Leons Romanen eh meist nebensächlich. Sie konzentriert sich eher auf die individuellen und/oder die gesellschaftliche Auswirkungen, will Denkprozesse anstoßen.

Ein leiser Roman, wehmütig und fern jeder Hektik, der die richtigen Fragen stellt. Beantworten muss sie jeder selbst - nach bestem Wissen und Gewissen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.06.2022
Was die Nacht verschweigt
Doughty, Louise

Was die Nacht verschweigt


sehr gut

Üblicherweise mache ich einen großen Bogen um Romane, deren wesentlicher Bestandteil das Übernatürliche ist. Im Fall von Louise Doughtys neuem Roman „Was die Nacht verschweigt“ haben jedoch sowohl der Klappentext als auch die Besprechung in einer englischen Tageszeitung mein Interesse geweckt: Eine Nacht im November, ein verlassener Bahnsteig im Osten Englands, ein Mann, der im Begriff ist, sein Leben zu beenden, und eine Frau, die keine Möglichkeit sieht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Warum? Gibt es einen Grund dafür, dass Selbstmörder exakt diese Stelle auswählen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen? Mysteriös, oder?

Die Story wird behutsam aufgebaut und zeigt in der Konsequenz das gesamte Spektrum einer toxischen Beziehung. Zuerst führt sie die Umgebung und die Akteure anhand von alltäglichen Begebenheiten ein, danach fokussiert sie den Blick auf das vergangene Leben der mittlerweile toten Protagonistin, beschreibt nicht nur ihr unglückliches Dasein sondern auch rückblickend die Unfähigkeit, diesem mit heiler Haut zu entkommen. Trotz dieser „dunklen“ Thematik schafft es Doughty glücklicherweise immer wieder, kleine Momente des dringend benötigten Durchatmens zu integrieren, indem sie sich augenzwinkernd auf banale Alltagssituationen konzentriert, die Distanz schaffen.

Doughty ist nicht Stephen King, bei ihr hausen keine Monster im Schrank, vor denen man sich fürchten muss, sie verstecken sich in den dunklen Ecken der Psyche. Ihr Interesse gilt den Brüchen innerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen und den Konsequenzen, die schließlich daraus erwachsen. Dass die Erzählerin im vorliegenden Fall bereits tot ist, gibt der Autorin die Möglichkeit, tragische Ereignisse reflektierend und mit Abstand unter die Lupe zu nehmen. Ein erzählerisches Mittel, das zwar halbwegs funktioniert, meiner Meinung nach aber nicht zwingend nötig gewesen wäre.

Bewertung vom 03.06.2022
Ein Bauch spaziert durch Venedig
Klink, Vincent

Ein Bauch spaziert durch Venedig


ausgezeichnet

Was tun Touristen, wenn sie zum ersten Mal in einer Stadt sind, die sie noch nicht kennen? Bestenfalls schauen sie in dem Reiseführer nach Highlights, die man unbedingt gesehen haben muss, hetzen dann von einem Ort zum anderen, machen ein Foto für die Daheimgebliebenen und das war‘s dann schon. Ein Flaneur hingegen spaziert entspannt durch die Straßen, schaut, riecht, hört, beobachtet, genießt mit allen Sinnen, bekommt ein Gefühl für das Drumherum, die Kultur, das Leben, die Menschen und verliebt sich vielleicht sogar leidenschaftlich in diese Stadt. So ist es zumindest mir mit London bei unzähligen Besuchen ergangen.

Vincent Klink, Sternekoch und Flaneur, hat diesen Herzensplatz für Venedig reserviert. Wer aber glaubt, dass sich ein Küchenchef nur für das interessiert, was auf dem Teller liegt, ist hier auf dem falschen Dampfer…ähm, auf dem falschen Vaporetto. Das heißt, wer Klinks Buch über Paris und/oder Wien nicht kennt und einen kulinarischen Reiseführer erwartet, sollte die Finger von „Ein Bauch spaziert durch Venedig“ lassen. Alle anderen sind zu einem sinnenfreudigen, informativen und von einem Kenner geführten Besuch der Lagunenstadt eingeladen.

Natürlich kommt auch die „Cucina Veneziana“ mit ihren typischen Gerichten nicht zu kurz, im Anhang gibt es dazu ein eigenes 11-seitiges Kapitel, sowie diverse in den Text eingestreute Rezepte. Aber der Großteil des Buches widmet sich der Baukunst und der Malerei, kenntnisreich durch Hintergrundinformationen ergänzt. Und auch die kritischen Anmerkungen zu dem überbordenden Tourismus mit seinen negativen Folgen und den dubiosen Praktiken der Verwaltung, die historische Kleinode an den Meistbietenden verschleudern, kommen zu ihrem Recht. Abgerundet werden die Stadtspaziergänge im Anhang durch eine separat aufgeführte Auswahl von Kirchen mit Kunst sowie einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis für die vertiefende Lektüre.

Fazit: Eine rundum gelungene Liebeserklärung an Venedig.