Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
LichtundSchatten

Bewertungen

Insgesamt 237 Bewertungen
Bewertung vom 16.05.2023
Wie man schlecht schreibt
aus dem Siepen, Stefan

Wie man schlecht schreibt


ausgezeichnet

Eigentlich glaube ich, dass Regeln ganz generell nur Krücken für kreativ Lahme sind. Und doch gibt es beim Schreiben Dinge, die missfallen (können). Jeder Leser fühlt es intuitiv. Warum ist man bei einem Buch sofort drin, bei anderen auch nach 100 Seiten immer noch nicht?

Alleine der merkfähige Name „Stefan aus dem Siepen“ brachte mich dazu, neugierig auf dieses Buch zu werden. Der mir bislang unbekannte Autor, geb. 1964, studierte Jura und arbeitet heute im Diplomatischen Dienst.

Dass Juristen analysieren können und die Ursachen benennen, kommt diesem Buch zugute. Ich bin ein intensiver Leser und habe mich auf den Seiten wirklich verloren, angeregt mit den Inhalten diskutiert und viel Neues erfahren.

Dass der Name einer handelnden Person wichtig ist bzw. die Erfindung eines guten Namens, war mir bewusst. Die Ausführungen des Autors drehen sich von Seite 51 bis 63 um dieses Problem. Hermann Hesse wird zu Beginn lobend erwähnt. Es stimmt: „Seine Namen sind literarisiert, mit erkennbarem Kunstinn ausgewählt oder erfunden, sie klingen bei aller Lebensechtheit so schön und eigentümlich, besitzen so viel poetische Ausdruckskraft, dass sie ihren Trägern sprachlichen Glanz verleihen.“

Dies ist einer der möglichen Gründe, warum ich bis heute Hesse immer wieder lesen kann: Die menschlich natürlichen, verständlichen Aussagen in allen Werken sind bestechend. Dabei fällt mir eines meiner Lieblingsbücher von ihm wieder ein: „Magie des Buches.“ Es ergänzt das Buch von Stefan aus dem Siepen auf das Trefflichste. Dort insbesondere das Kapitel „Lieblingslektüre“, in dem Hesse die Frage stellt: „Was lesen Sie am liebsten?“

„Ein Vorwort ist meist eine Verteidigungsrede, in der der Verfasser bei aller Beredsamkeit seiner Sache nichts nützt; sie ist ebensowenig imstande, ein gutes Werk zur Geltung zu bringen, als ein schlechtes zu rechtfertigen.“ (Marquis de Vauvenargues) Stefan aus dem Siepen mutet uns ein kurzes Vorwort zu – sieht also den Balken im eigenen Auge. Aber auf zweieinhalb Seiten macht er wirklich Lust auf die ganzen 274, gute und schlechte Beispiele Seite für Seite, aber ohne ein Nachwort oder Ausblick. Allerdings habe ich bei Hesse nicht mal ein Splitterchen im Auge entdeckt, wie im Vorwort, letzter Satz, formuliert.

Es stimmt, es gibt alberne Namen der Protagonisten, die der Autor damit erkennbar abqualifiziert und uns, den Lesern, nicht das Urteil überlässt. Gar nicht gut, das stimmt. Wo nochmal kommen Annettchen Dummermuth, Klara Wäscher oder Jakob Hühnlein vor? Noch viel länger die Negativliste bei Thomas Mann, er hat sogar einen Herrn Klöterjahn eingebaut. Zwischen höchstem literarischem Anspruch und diesen Lächerlichkeiten pendelte Thomas Mann hin und her, offensichtlich um mehr Zielgruppen zu erreichen und ohne dass es ihm geschadet hätte.

Das Ganze ist mithin mehr als die Summe seiner Teile und eingestreute Missgriffe steigern vielleicht die Lust am Lesen, sie geben die Luft zum Atmen, nicht jeder Satz sollte mit Sinn überfrachtet sein, das Leben und auch die Literatur ist Tag und Nacht, Langeweile und Spannung, etwas, das keine künstliche Intelligenz je schaffen könnte.

Trotzdem: es ist gut, die möglichen Fehler zu kennen, im Buch in dieser Reihenfolge: Nachlässigkeit, Unverständlichkeit, schlechter Name, Übertreibung, Abstraktheit, schlechter Anfang, Wiederholung, Überfrachtung, schlechter Titel, Fremdwörter, Füllwörter, schlechte Relativsätze, Vulgärwörter, negative Ausdrucksweisen, Wortspiele, schlechte Sexschilderung, Prahlerei, Belehrungen, schlechte Vergleiche.

Es stimmt, erotische Szenen sind äußerst schwer zu fassen, wirklich ganz wenige Autoren beherrschen diese Kunst. Houellebecq schreibt pornografisch direkt, andere verklausuliert verschämt, andere gar nicht, es dürfte das schwierigste Thema überhaupt sein. Das ausgewählte Beispiel von Brecht empfinde ich so wie vieles von ihm: eher peinlich, er, der bekanntlich unzählige Bettgeschichten hatte und ein rascher Finisher war. Vermutlich habe ich in diesem Kapitel auch erfahren, warum Grass nie auf meiner Lese-Liste stand.

Sollten erotische Schilderungen das Thema überhöhen, nicht bloßstellen? - eine Frage, die immer rätselhaft bleiben wird, wie die Tatsache, dass die schönste Sache der Welt alle Sinne benebelt und sich tatsächlich allen Worten entzieht. Erotik hat ein langes Vorspiel, eine benebelt intensive Komponente, Bewegungen, Liebkosungen, ein Jenseits der Welt und Realität, im Grunde ist es ein ganzer Roman, immer neue Romane, unerklärlich wie das Menschsein, le petit mort und das Neuerwecktwerden. Wenn es nicht schön wäre, wären wir schon längst ausgestorben.

Jeder, der Bücher bespricht oder wissen will, warum ihm etwas gefällt, das andere nicht, erfährt mit diesem Buch Anregungen die Fülle, um besser zu verstehen.

Bewertung vom 21.04.2023
Noch wach?
Stuckrad-Barre, Benjamin von

Noch wach?


schlecht

Hört sich an und liest sich irgend wie Barbara Cartland Romane, nur wirrer.

Du, liebe Karriere-Willige*in, ich möchte Dich in die Welt der bösen Männer*innen entführen und Dir erzählen, wie sie vorgehen, um Beute zu machen.

Pädagogen, Jammermann und Theaterleute werden dieses Drehbuch lieben. Es irrlichtert auf jenem Niveau, das Zettl so grandios scheitern ließ. Me, too, now woke!

"Komplett erratisch, sehr Special Interest." Vermutlich ein Denglish-Satzkonvolut zum juristischen Sing-sang.

Hirnschweigen blieb mir als Erinnerungswort an diesen Roman. Genau das empfinde ich beim Hören.

Gewandert ist er mit seinem Freund in Sils Maria hoch in das Flextal - entweiht now, zwei Freunde auf dem Weg von Nietzsche, immer bereit der eigenen Großartigkeit beizupflichten!

"Die Helmut-Dieteligkeit einer Situation", die schönste Wortkombination, wegweisend zur eigenen Zettl-Bewertung.

Wer so einen Freund der höchst-gelegenen Großartigkeit hat, muss für nichts mehr sorgen, ein downsizer der grandiosen Art.

1 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.04.2023
Das Ende der Ehe
Roig, Emilia

Das Ende der Ehe


schlecht

"Frauen arbeiten, Männer akkumulieren", meint Frau Roig.

Das Ende der Ehe muss für Frau Roig auch das Ende des Kapitalismus bedeuten. Unter dieser Radikalität geht es wohl nicht.

Ich empfehle:

1) einige aktuelle Videos mit Frau Roig
2) eine Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Matriarchaten und vor allem
3) die Bücher von Esther Vilar

Es war alles schon da, nur ist es heute radikaler noch und medien-sensations-tauglicher bzw. polarisierender.

Die PoC-Marxistin und Emanzipationist*in gendert sich frei. Und ich fühle ermattende Langeweile.

Gespannt bin ich darauf, ob und wie das Buch in der Türkei und Saudi-Arabien aufgenommen wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.04.2023
Steve Jobs
Isaacson, Walter

Steve Jobs


ausgezeichnet

Lange vor seiner Erkrankung lebte Jobs so, als würde er ewig arbeiten und wäre doch morgen tot. Ein Spannungsfeld, das er in seiner berühmten Standford Rede auf den Punkt brachte: "Mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich bald sterbe, ist das wichtigste Hilfsmittel, um weitreichende Entscheidungen zu treffen. Fast alles - alle Erwartungen von außen, jegliche Art von Stolz, alle Angst vor Peinlichkeit oder Versagen - das alles fällt im Angesicht des Todes einfach ab. Nur das, was wirklich zählt, bleibt. Sich daran zu erinnern, dass man eines Tages sterben wird, ist in meinen Augen der beste Weg, um nicht zu denken, man hätte etwas zu verlieren. Man ist bereits nackt. Es gibt keinen Grund, nicht dem Ruf des Herzens zu folgen."

Mich haben Apple Produkte von Anfang an begleitet, nur kurzzeitig habe ich einen Rechner des anderen Systems besessen. Apple Rechner waren von Anfang an vor allem dort besonders gut, wo es kompliziert zuging: im Design- und Grafikbereich. Nicht, weil sie zeitgeistig waren, wurden Apple Produkte nachgefragt, sondern sie reduzierten unnötigen Aufwand dramatisch, sie waren schlicht menschlicher, stärker vom Anwender her gedacht. Dies wird heute unterschätzt, Apple war nie ein ausschließliches Designprodukt, diese Facette kam erst mit iPod, iPhone und iPad hinzu. Basis des Ganzen war jedoch KISS: keep it simple and stupid.

"Lasst das, was Euer Herz sagt, nicht durch den Lärm der anderen übertönen." Cholerik und Wutausbrüche gehörten für Jobs zum Alltag, wenige ließ er neben sich bzw. seiner Begeisterung bestehen, und doch schuf er ein Arbeitsklima, in dem jeder das Gefühl hatte, ein Pirat zu sein - und eben nicht die Navy. Er forderte Querdenker und liebte die Reibung mit ihnen. Er positionierte seinen Mac 1984 gegen eine ganze Computer-Industrie, deren unterdrückerische Auswirkungen er mit seinen Produkten konterkarieren wollte. "The computer for the rest of us."

Besonders interessant der Abschnitt, in dem der Design-Wille von Steve Jobs erklärt wird bzw. die Hintergründe für seine Vorbilder in diesem Bereich. Es wird klar, dass er sich vom Bauhaus-Stil und allen Facetten einer rundum einfachen, emotionalen Idee beeinflussen ließ. Porsche, VW oder Mercedes, der japanische Zen-Buddhismus sind Leitbilder ebenso wie Braun (snow white ist ein Projekt Codewort in Anspielung an den Schneewitchensarg von Braun) und am Ende fährt er in den Scharzwald, um Hartmut Esslinger von frogdesign anzuheuern und nach Kalifornien zu holen. Seine Entwürfe werden stilprägend für Apple getreu dem Motto "Form follows emotion". Dieser Abschnitt hat mich tief berührt, waren doch alle Zielsetzungen von Steve Jobs mehr oder weniger jene Gefühle, die ich bei der Bedienung des Mac bis heute emfpinde. Kein Detail ist Jobs unwichtig, die Schriftenentwicklung, die Icons, die Oberfläche, selbst die Verpackung - alles steuert und entwickelt er mit, ein Meister der Finesse in allen Bereichen. Selbst Platinen müssen bei ihm schön sein, alles strahlt aus, die Gesamtpersönlichkeit eines Produkte vermittelt sich für den Bauch von außen und innen. Ein Apple ist ein Kunstwerk, das Jobs z.B. mit Eingravierungen der Beteiligten im Inneren von Rechnern zelebriert, ohne dass dies jemals ein Anwender sehen würde.

Diese Biografie beschreibt viele Facetten, die ich aus vielen anderen Biografien schon kannte - und darüber hinaus fügt sie in einer schonungslosen Offenheit (plus viele weitere, mir unbekannte Anekdoten und Erklärungen) hinzu, die bei einem Mann wie Jobs notwendig ist. Jeder kann sich so selbst ein Bild von ihm machen, einem Menschen, der stärker im Jetzt gelebt hat als andere und durch den nahenden Tod (ab 2004) getrieben war, noch schnellere, mutigere Entscheidungen zu treffen. Ab dieser Zeit redet der Autor Walter Isaacson mit Jobs und baut diese Gespräche als Hauptleidfaden in sein Buch ein. Nichts wird glorifiziert oder heldenhaft vernebelt, es sind (auch schmerzhafte) Tatsachen enthalten, die jeder individuell interpretieren kann.

Meine Schlussfolgerung ist klar. Jobs kämpfte ein Leben lang gegen die Kränkung an, verstoßen worden zu sein. Je größer er diesen Aspekt empfand, umso gewaltiger wurde seine Resilienz, sein Widerstand dagegen. Daraus bezog er seine wachsende, unbeugsame Kraft, die ansteckend begeisternd war (vor allem für mich als Anwender), die aber von jetzt auf gleich umkippen konnte in diabolische Wut und den hitzigen Kampf mit anderen. Wer je im kreativen Bereich der Ideenfindungen gearbeitet hat, weiß, dass gute Ideen gerne viele Väter haben und Beschuldigungen kursieren, jener oder jene habe Ideen gestohlen. Mein Eindruck bei Jobs: es war ihm egal, woher Ideen kamen, er sog sie auf wie ein Schwamm, immer mit dem Ziel, endlich originär geliebt zu werden (selbstverständlich liebten ihn seine Stiefeltern, aber das war ihm nicht genug). Diese Suche nach dem eigenen Kern, der Bestimmung, die Ratifizierung der Vorsehung, dies war der Antrieb für seine Produkte.

Bewertung vom 12.04.2023
Handorakel und Kunst der Weltklugheit
Gracián, Baltasar

Handorakel und Kunst der Weltklugheit


ausgezeichnet

Wie überlebt man in einer Despotie, wie macht man sich nützlich und unscheinbar?

Gracian hat mit diesem Manifest der Opportunisten ein zeitloses Werk geschaffen, das auch heute noch in anderen Despotien (Politik, Unternehmen, Organisationen) Gültigkeit hat. Dabei muss man Gracian zugestehen, dass in Herrscherhäusern bei einem Fehlverhalten eben nicht nur die Entlassung drohte, sondern der eigene Kopf rollen konnte.

Sich vor den unberechenbaren Fallstricken der Herrscher zu hüten, zu überleben, dafür sind diese Ratschläge Gold wert.

Unter Punkt 7 finden wir den Hinweis: Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten.

Sie mögen wohl, dass man ihnen hilft, jedoch nicht, dass man sie übertrifft: der ihnen erteilte Rat sehe daher mehr aus wie eine Erinnerung an das was sie vergaßen, als wie ein ihnen aufgestecktes Licht zu dem, was sie nicht finden konnten.

Kann man es besser ausdrücken? Es gilt übrigens auch umgekehrt. Möchte man ein Team wirklich motivieren, so infliltriere man eine eigene Idee portiönchenweise so lange, bis alle glauben, sie hätten diese Idee selbst entwickelt.

Jeder, der seinen Chef wirklich wenig mag, sollte die Gedanken von Gracian auflesen. Sie haben auch heute noch Gültigkeit bzw. können durchaus auf bessere, entspanntere Wege bringen.

Bewertung vom 11.04.2023
Kein Besonderer
Dringenberg, Bodo

Kein Besonderer


ausgezeichnet

Ein ganz normales Leben vor 100 Jahren: ein Junge wächst mit seiner Mutter, einer Dienstmagd auf, die von ihrem Liebhaber, einem Bauern, unterstützt wird. Beide schlängeln sich irgendwie durchs Leben. Die Mutter meint ihrem kleinen Heinrich gegenüber, es sei in jedem Fall ein besseres Dasein als in dem Zwangsregime eines Mannes gehorchen zu müssen.

Sie hält streng Ordnung in der kleinen Wohnung und sucht immer nach Möglichkeiten, ihrem Kind Schutz und Heimat zu sein. "Für ihren Sohn wollte sie unbedingt eine schulische Erziehung ohne harte Hand, daher entschied sie sich, Heinrich in diese neue, bekenntnisfreie Schule zu schicken."

Ihm gefiel, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in einem Raum unterrichtet wurden. Dabei hörte er diesen Satz der Lehrer häufiger: "Schwärmer begründen eine Religion, die Dummköpfe nehmen sie an, Betrüger führen sie fort." Dies hätte ein gewisser Voltaire vor 200 Jahren geschrieben, und das sei nach wie vor gültig.

Lernen in dieser Schule war an die Umgebung und konkrete Probleme geknüpft, die Lehrer bemühten sich, freundschaftlich mit den Kindern umzugehen, sie als Partner zu sehen. Heinrich ist klug, aber eher zurückhaltend, seiner Mutter erzähle er alles, in der Schule melde er sich nur, wenn er gefragt werde.

Er lernt schwimmen, arbeitet nebenbei als Austräger, muss dann aber in einen anderen Teil Hannovers umziehen. Wir begleiten ihn, fast unspektakulär, aber liebe- und verständnisvoll. Eine ganz normale Jugend in schwierigen Zeiten, sie entwickelt sich hin zum Dritten Reich und seinen Verstrickungen.

Der Roman vermittelt alltägliche Sorgen und Wissenswertes, z.B. über die Gute Stube, die für wohlhabendere Familien notwendig wurde. Ein Raum, heute das Wohnzimmer, der abgeschlossen blieb und nur für besondere Festtage bzw. Besuche vorbehalten war.

Heinrichs Mutter setzt aber durch, dass dieser Raum nach ihrer Heirat mit einem Gärtner auch von Heinrich benutzt werden konnte. Hier aber ruhte sich sonntags der Ehemann aus, um das Geschirr-Geklapper der Küche nicht hören zu müssen.

Heinrich geht mit seinem Stiefvater auch in die ev. Kirche und hört vom Opfer Jesu und dem Opfer, das jeder für das Vaterland notfalls zu bringen hätte. Die Indoktrination nahm alle Hürden und Organisationen, sie infiltrierte alle Bereiche des Lebens.

Heinrich und seine Mutter, später kommt der Stiefvater dazu. ziehen mehrfach in und um Hannover um, er genießt das Schwimmen in Flüssen und Seen und findet seine Zufriedenheit in der Ruhe und beim Melken von Kühen. Eine Kunst gewissermaßen, die gekonnte Behandlung eines anderen Lebewesens. Dabei kommen ihm seine mathematischen Fähigkeiten und die Erinnerungsfähigkeit zugute, er ist etwas eigenbrötlerisch, aber zufrieden mit sich selbst.

„Menschen wie Maschinen“ - so charakterisiert seine Mutter eine neue, marschierende, idealistische Bewegung für Volk und Vaterland. Für Heinrich verheißt das nichts Gutes, befremdet wendet er sich ab von den Liedern und dem endlosen Marschieren der neuen Bewegung. Seine Kammer beim Stall und die Arbeit mit den Kühnen ist ihm genug.

Von Heini, seinem alten Spitznamen, wird er zum Hein als Anerkennung seiner hervorragenden Leistungen beim Melken, schließlich, Heinrich, der Musterknabe. Nicht allen gefällt das, er müsse mehr aus sich herausgehen, nicht so stumm sein. Ein Mitknecht steckt ihm: „Wenn Du fast nichts sagst, denken die, dass Du dich für was Besseres hältst.“

Schließlich landet er beim RAB, dem Reichsarbeitsdienst und das Unheil nimmt seinen Lauf. Obwohl man weiß, wie die Geschichte ausgeht, liest sich das Buch als ein spannender Bericht eines normalen, ruhigen, zufriedenen Lebens, das schließlich durch eine hanebüchene Ideologie zerstört wird.

So still und ruhig wie der Protagonist und doch so eindringlich wie selten, dieser Roman ist mit seiner gekonnten, leisen Erzählweise etwas ganz Besonderes. Die Zeit aus den 20er und 30er Jahren steht vor dem Leser, sie erhebt sich unheilvoll auf ein Leben, das nichts mit dem ganzen Brimborium zu tun haben wollte.

Bewertung vom 09.04.2023
Kiefer-Yoga
Reindl, Julia

Kiefer-Yoga


ausgezeichnet

Zähneknirschen und Kieferverspannungen sind heute für viele zu großen Problemen geworden, echte Zivilisationskrankheiten. Letzten Endes ist dies auch das Ergebnis eines zu stressigen Arbeitens und Lebens. Zu viel prasselt auf uns ein und der Körper beginnt, Missverhältnisse z.B. nachts (durch Zähneknirschen) abzuarbeiten.

Julia Reindl nähert sich dem gesamten Bereich ganzheitlich und erklärt die vielfältigen Wirkungen und Querverbindungen des Kiefers.

Ihre Vorgaben und Erklärungen für ein Training bzw. das Yoga zur Verbesserung von Fehlstellungen sind wirklich gut und eingängig erläutert, man ist sofort dabei und hat Lust, mitzumachen.

Es ist nicht zu viel, nicht zu wenig, genau jener Weg, der einem erlaubt, die Dinge tatsächlich schnell und dauerhaft anzuwenden, also einfach in den Alltag zu integrieren.

Bewertung vom 09.04.2023
Mehr Demokratie wagen
Frey, Bruno S.;Zimmer, Oliver

Mehr Demokratie wagen


ausgezeichnet

Demokratien sollten stärker mit partizipativen Elementen angereichert werden, vor allem durch die Instrumente Dezentralisierung und Referendum. Die Autoren plädieren für eine stärkere Kontrolle von Parlament und Regierung durch die Bürger und führen ihre Argumente anhand von 3 Bereichen aus:

1. Politische Entscheidungsfindung (heute zu stark in den Händen von Berufspolitikern)
2. Ort der Demokratie (vor allem dort, wo konkrete Lebenswelten betroffen sind)
3. Emotionale und funktionale Aspekte der Demokratie (Identität und Zugehörigkeit)

Die EU, aber auch Deutschland sind heute keine Beispiele lebendiger Demokratien mehr, sie agieren in einer Art und Weise, die Wolfang Schäuble zum Ausdruck brachte, der den deutschen Bürgern keine direkte Mitbestimmung wie z.B. in der Schweiz zutraut.

"Je geringer die Distanz zwischen Demokratie und der bürgerlichen Erfahrungs- und Lebenswelt, desto näher kommt sie dem Ideal des demokratischen Self-government."

Wer hinter die heute so schnell angedachten, autoritären, zentral gesteuerten Staatsverständnisse blicken will und eine Lösung sucht, findet mit diesem Buch die richtigen Anregungen.

Bewertung vom 09.04.2023
Rüpel und Rebell
Schlaffer, Hannelore

Rüpel und Rebell


ausgezeichnet

Rüpel, die rebellisch denken und Rebellen, die sich rüpelhaft benehmen. Dieses Buch handelt von Figuren, die mit ihrem Denken angriffslustig und mit ihrem Benehmen anstößig sein woll(t)en.

"Der Intellektuelle entwirft sich selbst und zeigt dies in Wort und Haltung." Die Absicht des Intellektuellen sei es, zu prüfen und nicht zu handeln, sein höchstes Ziel Menschenkenntnis.

Er ist nie auf Wort und Stil festzulegen, einer, der vom Außen ins Innere des allzu Sicheren dringt. Von Diderot bis Richard David Precht, Hannelore Schlaffer vermittelt vielfältige, spannende Kennzeichen der Intellektuellen, die heute aber einen schweren Stand haben: "Der unangepasste Sonderling verblasst in einer Gesellschaft, in der alle den unangepassten Sonderling spielen."

Vermutlich lieben es die vermeintlichen Intellektuellen heute, ihre Ranglistenplätze bei Cicero einzusehen, zwischen all dem Interview- und Talkshow-Podcast-Stress.

Jan Böhmermann und Margot Kässmann rangieren dort auf den 30er Plätzen und Peter Sloterdijk sitzt einsam dem Ganzen vor, immerhin hat er sich noch rüpelhaftes Benehmen geleistet (Verlassen einer Talksendung).

Wer diese Leute auflistet und einreiht, grenzt sie aus und der Querdenker heute scheint als aufgehender Stern des wahren Intellektuellen.

Bewertung vom 09.04.2023
Ich bedaure nichts
Reimann, Brigitte

Ich bedaure nichts


ausgezeichnet

Der Umschlag gefällt mir nicht weniger als der Inhalt. Ein ehrliches Tagebuch ohne Wichtigkeitsabsicht.

Der Griff in das sozialistische Elend. Ein ganz normales kreatives Leben in der DDR breitet sich aus, durchfurcht von Hoffnung, Verzweiflung, Liebe, Hoffnung, Schreiben, Hass.

"Ich warte immer, bis Entscheidungen sich mir aufdrängen."

Tagebücher sind so schrecklich banal und irre echt. Man kann aber durchaus Satzperlen fischen: "Irgendwas muss geschehen, damit ich wieder aktiv werde und nicht mehr so schlaftrunken bin vor Glück und Geborgenheit."

Öde DDR Langeweile, Frauenzweifel und Eroberungen, das pralle, seichte, gelangweilte Da-Sein in gedehnter Langeweile und großartigen Erfolgen.

Ideologie und Leben, Sozialismus und Realität, man fühlt sich hin und her gerissen, panische Angstgefühle jagen Erfolge und die Flucht aus der Wirklichkeit macht weite Sätze.

Ein reales, bitteres Stückchen DDR aus dem Inneren einer Schriftstellerin formuliert. Sozialismus in all seinen Schattierungen vermittelt fast immer kindliches, lebensfernes Streben. Allzumenschliches hinter den hehren, moralischen Zielen.