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LichtundSchatten

Bewertungen

Insgesamt 241 Bewertungen
Bewertung vom 18.05.2023
Buchgestaltung in Deutschland

Buchgestaltung in Deutschland


ausgezeichnet

Über die Einheit von Inhalt und Form. Und die Lust zum Lesen.

Aus dem Inneren der Buchgestaltung, aus seinen Darlegungs- bzw. Umsetzungsideen der Inhalte kommt dieses Werk in der Reihe eher textorientierter Bücher. Es hält sich deshalb im Äußeren angenehm zurück und portraitiert einige herausragende Typographen. Vorangestellt werden Gedanken zur aktuellen Gestaltung des Buches bzw. wichtige Einflussfaktoren.

Genauer wäre zu definieren, es geht hier weniger um die Titelgestaltung, sondern eher um Typographie also die Auswahl von Schrifttypen und die Anordnung langer oder kurzer Texte auf den Innenseiten, von der Headline zur Body Copy zum Zitat etc. Wie macht man das am besten, ohne Texte zu verstecken oder sie langweilig aufzubereiten, sondern wie schafft man es, einen Diskurs, ein Gespräch zu beginnen, das der Leser mit dem Autor führen sollte?

Es stimmt: „Berufsleser unterschätzen die unterschwellige Wirkung von Typografie.“ Tatsächlich ist für schlecht gemachte Bücher das Papier zu schade. Alleine, es gibt wie in allen kreativen Berufen keine Regeln. Sie sind Krücken für kreativ Lahme.

Trotzdem, für mich hält sich der Typograph demütig zurück und sorgt dafür, dass ich gut und gerne lesen kann. Ganz entscheidend ist für mich die Titelgestaltung, sie macht Lust zum Kauf, wie ich es momentan mit einem neuen Buch erlebe: Patrick Eiden-Offe: HEGELS LOGIK LESEN. Ein Selbstversuch. Ich lasse den Titel einige Tage neben dem Computer stehen und freue mich auf den Inhalt. Zurückhaltend, pastellig, den Titel in Versalien, LOGIK in kursiv, darunter das merkwürdige Tierlogo von Matthes & Seitz. Ein sehr guter Spannungsaufbau. Ich finden diesen Hinweis auf eine echte Könnerin: Satz und Gestaltung: Gaby Michel, Hamburg. Hier erkennt man die Gewichtung: Satz vor Gestaltung, obwohl beides in gelungener Harmonie stehen.

Ich erkenne von Autoren selbst gemacht Buchtitel sofort, sie nehmen aktuell zu und wirken schon vorm Äußeren her leider oft abstoßend. Im Inneren setzt sich das dann fort mit falschen Textplazierungen, Probleme mit dem Bund, Seitenzahlenverwirrung etc.

Tatsächlich ist die eigentliche Typographie auf den Innenseiten eines Buches echtes, traditionelles Handwerk. Wer hier nicht auf einen echten Handwerksmeister zurückgreift, hat verloren, oder er muss wochenlang üben, um zu einem guten Ziel zu kommen.

Dieses wunderschöne Buch von Silvia Werfel hält sich angenehm zurück, es ist gut zu lesen, mein Gespräch mit den Gedanken der Autorin war höchst spannend.

Es ist aber kein Hand- oder Lehrbuch, sondern eher für Bibliophile wie mich oder Typographen interessant.

Bewertung vom 16.05.2023
Magie des Konflikts
Sprenger, Reinhard K.

Magie des Konflikts


ausgezeichnet

Aller Ärger ist das Ergebnis zwanghafter Erwartungen. (R.K. Sprenger)
Krisen sind Chancen.

Ein ganz hervorragendes Buch, das man sowohl auf die eigene Person beziehen kann als auch auf ein Unternehmen bzw. alle dabei auftretenden Interdependenzen. Wir alle stehen täglich vor immer größeren Problemen und müssen kulturelle Unterschiede ebenso ausgleichen wie jene von Temperamenten. Tatsächlich wird das Fahren auf Sicht, das pragmatische "Händeln" des Tages immer relevanter und ob das Leben gelingt, entscheidet sich immer mehr im Konflikt.

Letzten Endes ist Harmonie trügerisch, wenn Konflikte unausgesprochen bleiben. Ebenso problematisch ist, wenn die Gesellschaft verlernt, Probleme öffentlich zu diskutieren. "Das Einfachste als das Schwierigste: das fundamentale Anerkennen der Tatsache, dass die Welt mehrdeutig ist. Dass alle Werte ambivalent sind, alle Interessen berechtigt und alle Erwartungen erfahrungsgesättigt."

Wir müssen lernen, diese Mehrdeutigkeit auszuhalten, die Konsensgesellschaft gehört der Vergangenheit an, wir müssen mitten durch Konflikte gehen, dabei gehört Beleidigt-sein zum gestern, Offenheit und Ehrlichkeit zum notwendigen Rüstzeug.

Besonders schön am Ende des Buches, im Anhang: "Das Einzige, was wir tun können, ist korrigieren. Immer wieder." Die Ambivalenzen Hondrichs (Geben und Nehmen, Aufwerten und Abwerten, Teilhaben und Ausschließen, Verbergen und Mitteilen, Bestimmen und Bestimmt werden) sind es wert, gelesen und verinnerlicht zu werden.

Alle Konflikte sind Eigenwert-Konflikte, Herr Sprenger hat Recht, auch in dieser Aussage: "Jeder Konflikt ist Selbstbegegnung." Und weiter: "Ziel eines Konflikts ist nicht der Konsens, sondern das Weitermachen. Je mehr Selbstwert präsent ist, um so besser können Konflikte erlöst werden."

Bewertung vom 16.05.2023
Verehrte Denker
Ritter, Henning

Verehrte Denker


ausgezeichnet

Auf Jacob Taubes kam ich über Norbert Bolz, dessen Art zu denken ebenso weit scheint wie jene seines Lehrers und mit jener von Carl Schmitt verglichen werden könnte. Henning Ritter schreibt beeindruckt über Carl Schmitt: „Eine Mischung von altmodischer Höflichkeit und anarchischer Freiheit im Gespräch. Er wirkte nicht wie ein Professor, sondern wie ein Künstler, der ein uferloses Werk erläutert.“ Er brachte immer wieder höchst originelle Gesichtspunkte ins Gespräch ein ebenso wie dies Jacob Taubes zweifellos konnte, ein jüdischer Denker aus Galizien, der wenig Schriftliches hinterließ, dafür aber umso mehr Ideen und Gedanken, ein Ideenhändler und Menschenfänger.

Henning Ritter skizziert die Denker Carl Schmitt, Jacob Taubes, Klaus Heinrich, Isaiah Berlin und Hans Blumenberg, die er im Haus seines Vaters, des Professors Joachim Ritter, kennen- und schätzen lernte.

Jacob Taubes nimmt von den 107 Seiten immerhin 40 Seiten ein, er war es, warum ich dieses Buch erwarb. Die Schilderungen von Henning Ritter faszinieren, sie zeigen das Bild des Menschen Jacob Taubes, der alles und noch mehr denken wollte, alle Aspekte einer Sache un-ideologisch spannend fand.

Taubes ermunterte seine Schüler zum Denken ohne Scheuklappen, zum Infrage stellen und neu denken ohne Berührungsängste. Wollte man es negativ sehen, war er ein Mensch, der immer beeindrucken, interessant sein wollte. Im positiven Sinne war er ein echter Wissenschaftler, der über Zweifel und Versuchungen weiter kommen wollte. Er wollte alles drehen und wenden, erkennen und Bücher las er , um „den einen Satz oder das eine Wort zu finden, in dem das Wesentliche eines Buches kondensiert war.“

Weites, unerhörtes, vorurteilsfreies Denken war für Taubes ein Synonym für jüdisches Denken, für theologisches Denken. „Alle säkulare Philosophie hatte für ihn eine antitheologische Spitze, dies es abzubrechen galt: Denn sie wollte den Menschen als von Natur aus gutes Wesen hinstellen, sie war, selbst wenn sie vom radikal Bösen sprach, eine Leugnung des Bösen.“

Taubes war ein Meister des Gesprächs, seine unsagbar lebenssprühenden Sujets faszinieren bis heute, er wusste seine Zuhörer zu fesseln, egal bei welchen Themen. „Geist sollte beleben, sonst nichts, uns so wurde es die Mission von Jacob Taubes, solche geistige Erregtheit zu übermitteln.

Carl Schmitt formulierte seine Sichtweise der damaligen Universitäten, de er von ich-bezogenen Priestern durchzogen sah. „Die Kanzel wurde zum Katheter für philosophische und moralische Vorlesungen. Dann wandelte sich das Katheter zur Bühne, in dem die Bühne zur moralischen Anstalt und die moralische Anstalt zur Bühne wurde.“ Er sah drei bürgerliche Gesichter zusammenkommen, die den geistigen Typus der Zeit charakterisierten: das eines Predigers, eines Professors und eines Schauspielers. Heute würde man meinen, dass sich diese Menschen auch in der Politik und im Journalismus finden, ihre Kunst besteht darin, moraliingetränkte Sichtweisen zu versprühen, um Macht auszuüben.

Ebenso spannend wie Jacob Taubes sind die Ausführungen Ritters zu Carl Schmitt, Klaus Heinrich, Isaiah Berlin und Hans Blumenberg. Von allen Begegnungen wird man nachdenklich gestimmt und höchst angeregt. Im Anschluss an dieses Buch lese ich von Jerry Z. Muller: Professor der Apokalypse, die vielen Leben des Jacob Taubes.

Bewertung vom 16.05.2023
Wir verlieren unsere Kinder!
Müller, Silke

Wir verlieren unsere Kinder!


ausgezeichnet

Eine Flut von unglaublichen Bildern zerstört das unbeschwerte Großwerden unsere Kinder. Niemand weiß wirklich, welche Inhalte heute auf den Smartphones unserer Jüngsten geteilt und besprochen werden, welche Challenges heute en vogue sind.

Dieses Buch ist ein Schock, den alle Eltern verstehen und mit gemeinsamen Anstrengungen verhindern müssen. Kinder werden immer früher Erwachsene und können Meinungen, Erfahrungen, Gefühle und Gedanken abrzfeb, die ungefiltert, 24/7, kaum reguliert, auf sie einprasseln.

Silke Müller beschreibt konkrete Probleme der Kinder und analysiert entsprechende Plattformen wie TikTok sowie die Probleme der Künstlichen Intelligenz. Sie vermittelt Hilfestellungen und Wege für Eltern, um den Problemen richtig zu begegne.

Zentral scheint mir der Hinweis, dass alle Eltern selbst ein Profil in entsprechenden Netzwerken eröffnen sollten, um tatsächlich das zu sehen, was ihre Kinder schauen und hören können.

Online Spiele für Kinder dürfen nur freigegeben werden, wenn Erwachsene sie mindestens eine Woche gespielt haben. Wichtig dabei ist der Chat-Suchtfaktor, mit dem Kinder eingefangen und gehalten werden.

Wenn heute Drag-Queens schon in Kitas vorlesen, muss man sich nicht wundern, wenn sich Kinder in Tik-Tok Filmchen als Mangas in sexualisierten Posen darstellen.

Silke Müller weiß, wovon sie redet. Ihre Warnungen sind nachvollziehbar und die zukünftigen Maßnahmen für Staat und Eltern lassen keinen Zweifel: hier muss schnellstens gehandelt werden.

Dabei steht für mich die Verantwortung der Eltern an erster Stelle, dieses Buch verhilft zu dem notwendigen Experten- vor allem aber dem schnellen Handlungswissen.

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.05.2023
Wie man schlecht schreibt
aus dem Siepen, Stefan

Wie man schlecht schreibt


ausgezeichnet

Eigentlich glaube ich, dass Regeln ganz generell nur Krücken für kreativ Lahme sind. Und doch gibt es beim Schreiben Dinge, die missfallen (können). Jeder Leser fühlt es intuitiv. Warum ist man bei einem Buch sofort drin, bei anderen auch nach 100 Seiten immer noch nicht?

Alleine der merkfähige Name „Stefan aus dem Siepen“ brachte mich dazu, neugierig auf dieses Buch zu werden. Der mir bislang unbekannte Autor, geb. 1964, studierte Jura und arbeitet heute im Diplomatischen Dienst.

Dass Juristen analysieren können und die Ursachen benennen, kommt diesem Buch zugute. Ich bin ein intensiver Leser und habe mich auf den Seiten wirklich verloren, angeregt mit den Inhalten diskutiert und viel Neues erfahren.

Dass der Name einer handelnden Person wichtig ist bzw. die Erfindung eines guten Namens, war mir bewusst. Die Ausführungen des Autors drehen sich von Seite 51 bis 63 um dieses Problem. Hermann Hesse wird zu Beginn lobend erwähnt. Es stimmt: „Seine Namen sind literarisiert, mit erkennbarem Kunstinn ausgewählt oder erfunden, sie klingen bei aller Lebensechtheit so schön und eigentümlich, besitzen so viel poetische Ausdruckskraft, dass sie ihren Trägern sprachlichen Glanz verleihen.“

Dies ist einer der möglichen Gründe, warum ich bis heute Hesse immer wieder lesen kann: Die menschlich natürlichen, verständlichen Aussagen in allen Werken sind bestechend. Dabei fällt mir eines meiner Lieblingsbücher von ihm wieder ein: „Magie des Buches.“ Es ergänzt das Buch von Stefan aus dem Siepen auf das Trefflichste. Dort insbesondere das Kapitel „Lieblingslektüre“, in dem Hesse die Frage stellt: „Was lesen Sie am liebsten?“

„Ein Vorwort ist meist eine Verteidigungsrede, in der der Verfasser bei aller Beredsamkeit seiner Sache nichts nützt; sie ist ebensowenig imstande, ein gutes Werk zur Geltung zu bringen, als ein schlechtes zu rechtfertigen.“ (Marquis de Vauvenargues) Stefan aus dem Siepen mutet uns ein kurzes Vorwort zu – sieht also den Balken im eigenen Auge. Aber auf zweieinhalb Seiten macht er wirklich Lust auf die ganzen 274, gute und schlechte Beispiele Seite für Seite, aber ohne ein Nachwort oder Ausblick. Allerdings habe ich bei Hesse nicht mal ein Splitterchen im Auge entdeckt, wie im Vorwort, letzter Satz, formuliert.

Es stimmt, es gibt alberne Namen der Protagonisten, die der Autor damit erkennbar abqualifiziert und uns, den Lesern, nicht das Urteil überlässt. Gar nicht gut, das stimmt. Wo nochmal kommen Annettchen Dummermuth, Klara Wäscher oder Jakob Hühnlein vor? Noch viel länger die Negativliste bei Thomas Mann, er hat sogar einen Herrn Klöterjahn eingebaut. Zwischen höchstem literarischem Anspruch und diesen Lächerlichkeiten pendelte Thomas Mann hin und her, offensichtlich um mehr Zielgruppen zu erreichen und ohne dass es ihm geschadet hätte.

Das Ganze ist mithin mehr als die Summe seiner Teile und eingestreute Missgriffe steigern vielleicht die Lust am Lesen, sie geben die Luft zum Atmen, nicht jeder Satz sollte mit Sinn überfrachtet sein, das Leben und auch die Literatur ist Tag und Nacht, Langeweile und Spannung, etwas, das keine künstliche Intelligenz je schaffen könnte.

Trotzdem: es ist gut, die möglichen Fehler zu kennen, im Buch in dieser Reihenfolge: Nachlässigkeit, Unverständlichkeit, schlechter Name, Übertreibung, Abstraktheit, schlechter Anfang, Wiederholung, Überfrachtung, schlechter Titel, Fremdwörter, Füllwörter, schlechte Relativsätze, Vulgärwörter, negative Ausdrucksweisen, Wortspiele, schlechte Sexschilderung, Prahlerei, Belehrungen, schlechte Vergleiche.

Es stimmt, erotische Szenen sind äußerst schwer zu fassen, wirklich ganz wenige Autoren beherrschen diese Kunst. Houellebecq schreibt pornografisch direkt, andere verklausuliert verschämt, andere gar nicht, es dürfte das schwierigste Thema überhaupt sein. Das ausgewählte Beispiel von Brecht empfinde ich so wie vieles von ihm: eher peinlich, er, der bekanntlich unzählige Bettgeschichten hatte und ein rascher Finisher war. Vermutlich habe ich in diesem Kapitel auch erfahren, warum Grass nie auf meiner Lese-Liste stand.

Sollten erotische Schilderungen das Thema überhöhen, nicht bloßstellen? - eine Frage, die immer rätselhaft bleiben wird, wie die Tatsache, dass die schönste Sache der Welt alle Sinne benebelt und sich tatsächlich allen Worten entzieht. Erotik hat ein langes Vorspiel, eine benebelt intensive Komponente, Bewegungen, Liebkosungen, ein Jenseits der Welt und Realität, im Grunde ist es ein ganzer Roman, immer neue Romane, unerklärlich wie das Menschsein, le petit mort und das Neuerwecktwerden. Wenn es nicht schön wäre, wären wir schon längst ausgestorben.

Jeder, der Bücher bespricht oder wissen will, warum ihm etwas gefällt, das andere nicht, erfährt mit diesem Buch Anregungen die Fülle, um besser zu verstehen.

Bewertung vom 21.04.2023
Noch wach?
Stuckrad-Barre, Benjamin von

Noch wach?


schlecht

Hört sich an und liest sich irgend wie Barbara Cartland Romane, nur wirrer.

Du, liebe Karriere-Willige*in, ich möchte Dich in die Welt der bösen Männer*innen entführen und Dir erzählen, wie sie vorgehen, um Beute zu machen.

Pädagogen, Jammermann und Theaterleute werden dieses Drehbuch lieben. Es irrlichtert auf jenem Niveau, das Zettl so grandios scheitern ließ. Me, too, now woke!

"Komplett erratisch, sehr Special Interest." Vermutlich ein Denglish-Satzkonvolut zum juristischen Sing-sang.

Hirnschweigen blieb mir als Erinnerungswort an diesen Roman. Genau das empfinde ich beim Hören.

Gewandert ist er mit seinem Freund in Sils Maria hoch in das Flextal - entweiht now, zwei Freunde auf dem Weg von Nietzsche, immer bereit der eigenen Großartigkeit beizupflichten!

"Die Helmut-Dieteligkeit einer Situation", die schönste Wortkombination, wegweisend zur eigenen Zettl-Bewertung.

Wer so einen Freund der höchst-gelegenen Großartigkeit hat, muss für nichts mehr sorgen, ein downsizer der grandiosen Art.

1 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.04.2023
Das Ende der Ehe
Roig, Emilia

Das Ende der Ehe


schlecht

"Frauen arbeiten, Männer akkumulieren", meint Frau Roig.

Das Ende der Ehe muss für Frau Roig auch das Ende des Kapitalismus bedeuten. Unter dieser Radikalität geht es wohl nicht.

Ich empfehle:

1) einige aktuelle Videos mit Frau Roig
2) eine Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Matriarchaten und vor allem
3) die Bücher von Esther Vilar

Es war alles schon da, nur ist es heute radikaler noch und medien-sensations-tauglicher bzw. polarisierender.

Die PoC-Marxistin und Emanzipationist*in gendert sich frei. Und ich fühle ermattende Langeweile.

Gespannt bin ich darauf, ob und wie das Buch in der Türkei und Saudi-Arabien aufgenommen wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.04.2023
Steve Jobs
Isaacson, Walter

Steve Jobs


ausgezeichnet

Lange vor seiner Erkrankung lebte Jobs so, als würde er ewig arbeiten und wäre doch morgen tot. Ein Spannungsfeld, das er in seiner berühmten Standford Rede auf den Punkt brachte: "Mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich bald sterbe, ist das wichtigste Hilfsmittel, um weitreichende Entscheidungen zu treffen. Fast alles - alle Erwartungen von außen, jegliche Art von Stolz, alle Angst vor Peinlichkeit oder Versagen - das alles fällt im Angesicht des Todes einfach ab. Nur das, was wirklich zählt, bleibt. Sich daran zu erinnern, dass man eines Tages sterben wird, ist in meinen Augen der beste Weg, um nicht zu denken, man hätte etwas zu verlieren. Man ist bereits nackt. Es gibt keinen Grund, nicht dem Ruf des Herzens zu folgen."

Mich haben Apple Produkte von Anfang an begleitet, nur kurzzeitig habe ich einen Rechner des anderen Systems besessen. Apple Rechner waren von Anfang an vor allem dort besonders gut, wo es kompliziert zuging: im Design- und Grafikbereich. Nicht, weil sie zeitgeistig waren, wurden Apple Produkte nachgefragt, sondern sie reduzierten unnötigen Aufwand dramatisch, sie waren schlicht menschlicher, stärker vom Anwender her gedacht. Dies wird heute unterschätzt, Apple war nie ein ausschließliches Designprodukt, diese Facette kam erst mit iPod, iPhone und iPad hinzu. Basis des Ganzen war jedoch KISS: keep it simple and stupid.

"Lasst das, was Euer Herz sagt, nicht durch den Lärm der anderen übertönen." Cholerik und Wutausbrüche gehörten für Jobs zum Alltag, wenige ließ er neben sich bzw. seiner Begeisterung bestehen, und doch schuf er ein Arbeitsklima, in dem jeder das Gefühl hatte, ein Pirat zu sein - und eben nicht die Navy. Er forderte Querdenker und liebte die Reibung mit ihnen. Er positionierte seinen Mac 1984 gegen eine ganze Computer-Industrie, deren unterdrückerische Auswirkungen er mit seinen Produkten konterkarieren wollte. "The computer for the rest of us."

Besonders interessant der Abschnitt, in dem der Design-Wille von Steve Jobs erklärt wird bzw. die Hintergründe für seine Vorbilder in diesem Bereich. Es wird klar, dass er sich vom Bauhaus-Stil und allen Facetten einer rundum einfachen, emotionalen Idee beeinflussen ließ. Porsche, VW oder Mercedes, der japanische Zen-Buddhismus sind Leitbilder ebenso wie Braun (snow white ist ein Projekt Codewort in Anspielung an den Schneewitchensarg von Braun) und am Ende fährt er in den Scharzwald, um Hartmut Esslinger von frogdesign anzuheuern und nach Kalifornien zu holen. Seine Entwürfe werden stilprägend für Apple getreu dem Motto "Form follows emotion". Dieser Abschnitt hat mich tief berührt, waren doch alle Zielsetzungen von Steve Jobs mehr oder weniger jene Gefühle, die ich bei der Bedienung des Mac bis heute emfpinde. Kein Detail ist Jobs unwichtig, die Schriftenentwicklung, die Icons, die Oberfläche, selbst die Verpackung - alles steuert und entwickelt er mit, ein Meister der Finesse in allen Bereichen. Selbst Platinen müssen bei ihm schön sein, alles strahlt aus, die Gesamtpersönlichkeit eines Produkte vermittelt sich für den Bauch von außen und innen. Ein Apple ist ein Kunstwerk, das Jobs z.B. mit Eingravierungen der Beteiligten im Inneren von Rechnern zelebriert, ohne dass dies jemals ein Anwender sehen würde.

Diese Biografie beschreibt viele Facetten, die ich aus vielen anderen Biografien schon kannte - und darüber hinaus fügt sie in einer schonungslosen Offenheit (plus viele weitere, mir unbekannte Anekdoten und Erklärungen) hinzu, die bei einem Mann wie Jobs notwendig ist. Jeder kann sich so selbst ein Bild von ihm machen, einem Menschen, der stärker im Jetzt gelebt hat als andere und durch den nahenden Tod (ab 2004) getrieben war, noch schnellere, mutigere Entscheidungen zu treffen. Ab dieser Zeit redet der Autor Walter Isaacson mit Jobs und baut diese Gespräche als Hauptleidfaden in sein Buch ein. Nichts wird glorifiziert oder heldenhaft vernebelt, es sind (auch schmerzhafte) Tatsachen enthalten, die jeder individuell interpretieren kann.

Meine Schlussfolgerung ist klar. Jobs kämpfte ein Leben lang gegen die Kränkung an, verstoßen worden zu sein. Je größer er diesen Aspekt empfand, umso gewaltiger wurde seine Resilienz, sein Widerstand dagegen. Daraus bezog er seine wachsende, unbeugsame Kraft, die ansteckend begeisternd war (vor allem für mich als Anwender), die aber von jetzt auf gleich umkippen konnte in diabolische Wut und den hitzigen Kampf mit anderen. Wer je im kreativen Bereich der Ideenfindungen gearbeitet hat, weiß, dass gute Ideen gerne viele Väter haben und Beschuldigungen kursieren, jener oder jene habe Ideen gestohlen. Mein Eindruck bei Jobs: es war ihm egal, woher Ideen kamen, er sog sie auf wie ein Schwamm, immer mit dem Ziel, endlich originär geliebt zu werden (selbstverständlich liebten ihn seine Stiefeltern, aber das war ihm nicht genug). Diese Suche nach dem eigenen Kern, der Bestimmung, die Ratifizierung der Vorsehung, dies war der Antrieb für seine Produkte.

Bewertung vom 12.04.2023
Handorakel und Kunst der Weltklugheit
Gracián, Baltasar

Handorakel und Kunst der Weltklugheit


ausgezeichnet

Wie überlebt man in einer Despotie, wie macht man sich nützlich und unscheinbar?

Gracian hat mit diesem Manifest der Opportunisten ein zeitloses Werk geschaffen, das auch heute noch in anderen Despotien (Politik, Unternehmen, Organisationen) Gültigkeit hat. Dabei muss man Gracian zugestehen, dass in Herrscherhäusern bei einem Fehlverhalten eben nicht nur die Entlassung drohte, sondern der eigene Kopf rollen konnte.

Sich vor den unberechenbaren Fallstricken der Herrscher zu hüten, zu überleben, dafür sind diese Ratschläge Gold wert.

Unter Punkt 7 finden wir den Hinweis: Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten.

Sie mögen wohl, dass man ihnen hilft, jedoch nicht, dass man sie übertrifft: der ihnen erteilte Rat sehe daher mehr aus wie eine Erinnerung an das was sie vergaßen, als wie ein ihnen aufgestecktes Licht zu dem, was sie nicht finden konnten.

Kann man es besser ausdrücken? Es gilt übrigens auch umgekehrt. Möchte man ein Team wirklich motivieren, so infliltriere man eine eigene Idee portiönchenweise so lange, bis alle glauben, sie hätten diese Idee selbst entwickelt.

Jeder, der seinen Chef wirklich wenig mag, sollte die Gedanken von Gracian auflesen. Sie haben auch heute noch Gültigkeit bzw. können durchaus auf bessere, entspanntere Wege bringen.

Bewertung vom 11.04.2023
Kein Besonderer
Dringenberg, Bodo

Kein Besonderer


ausgezeichnet

Ein ganz normales Leben vor 100 Jahren: ein Junge wächst mit seiner Mutter, einer Dienstmagd auf, die von ihrem Liebhaber, einem Bauern, unterstützt wird. Beide schlängeln sich irgendwie durchs Leben. Die Mutter meint ihrem kleinen Heinrich gegenüber, es sei in jedem Fall ein besseres Dasein als in dem Zwangsregime eines Mannes gehorchen zu müssen.

Sie hält streng Ordnung in der kleinen Wohnung und sucht immer nach Möglichkeiten, ihrem Kind Schutz und Heimat zu sein. "Für ihren Sohn wollte sie unbedingt eine schulische Erziehung ohne harte Hand, daher entschied sie sich, Heinrich in diese neue, bekenntnisfreie Schule zu schicken."

Ihm gefiel, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in einem Raum unterrichtet wurden. Dabei hörte er diesen Satz der Lehrer häufiger: "Schwärmer begründen eine Religion, die Dummköpfe nehmen sie an, Betrüger führen sie fort." Dies hätte ein gewisser Voltaire vor 200 Jahren geschrieben, und das sei nach wie vor gültig.

Lernen in dieser Schule war an die Umgebung und konkrete Probleme geknüpft, die Lehrer bemühten sich, freundschaftlich mit den Kindern umzugehen, sie als Partner zu sehen. Heinrich ist klug, aber eher zurückhaltend, seiner Mutter erzähle er alles, in der Schule melde er sich nur, wenn er gefragt werde.

Er lernt schwimmen, arbeitet nebenbei als Austräger, muss dann aber in einen anderen Teil Hannovers umziehen. Wir begleiten ihn, fast unspektakulär, aber liebe- und verständnisvoll. Eine ganz normale Jugend in schwierigen Zeiten, sie entwickelt sich hin zum Dritten Reich und seinen Verstrickungen.

Der Roman vermittelt alltägliche Sorgen und Wissenswertes, z.B. über die Gute Stube, die für wohlhabendere Familien notwendig wurde. Ein Raum, heute das Wohnzimmer, der abgeschlossen blieb und nur für besondere Festtage bzw. Besuche vorbehalten war.

Heinrichs Mutter setzt aber durch, dass dieser Raum nach ihrer Heirat mit einem Gärtner auch von Heinrich benutzt werden konnte. Hier aber ruhte sich sonntags der Ehemann aus, um das Geschirr-Geklapper der Küche nicht hören zu müssen.

Heinrich geht mit seinem Stiefvater auch in die ev. Kirche und hört vom Opfer Jesu und dem Opfer, das jeder für das Vaterland notfalls zu bringen hätte. Die Indoktrination nahm alle Hürden und Organisationen, sie infiltrierte alle Bereiche des Lebens.

Heinrich und seine Mutter, später kommt der Stiefvater dazu. ziehen mehrfach in und um Hannover um, er genießt das Schwimmen in Flüssen und Seen und findet seine Zufriedenheit in der Ruhe und beim Melken von Kühen. Eine Kunst gewissermaßen, die gekonnte Behandlung eines anderen Lebewesens. Dabei kommen ihm seine mathematischen Fähigkeiten und die Erinnerungsfähigkeit zugute, er ist etwas eigenbrötlerisch, aber zufrieden mit sich selbst.

„Menschen wie Maschinen“ - so charakterisiert seine Mutter eine neue, marschierende, idealistische Bewegung für Volk und Vaterland. Für Heinrich verheißt das nichts Gutes, befremdet wendet er sich ab von den Liedern und dem endlosen Marschieren der neuen Bewegung. Seine Kammer beim Stall und die Arbeit mit den Kühnen ist ihm genug.

Von Heini, seinem alten Spitznamen, wird er zum Hein als Anerkennung seiner hervorragenden Leistungen beim Melken, schließlich, Heinrich, der Musterknabe. Nicht allen gefällt das, er müsse mehr aus sich herausgehen, nicht so stumm sein. Ein Mitknecht steckt ihm: „Wenn Du fast nichts sagst, denken die, dass Du dich für was Besseres hältst.“

Schließlich landet er beim RAB, dem Reichsarbeitsdienst und das Unheil nimmt seinen Lauf. Obwohl man weiß, wie die Geschichte ausgeht, liest sich das Buch als ein spannender Bericht eines normalen, ruhigen, zufriedenen Lebens, das schließlich durch eine hanebüchene Ideologie zerstört wird.

So still und ruhig wie der Protagonist und doch so eindringlich wie selten, dieser Roman ist mit seiner gekonnten, leisen Erzählweise etwas ganz Besonderes. Die Zeit aus den 20er und 30er Jahren steht vor dem Leser, sie erhebt sich unheilvoll auf ein Leben, das nichts mit dem ganzen Brimborium zu tun haben wollte.