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Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

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Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 26.08.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Der 15-jährige Sam langweilt sich in seinen Sommerferien 1985 in der Kleinstadt Grady in Missouri - bis er die Möglichkeit erhält, für das vor der Schließung stehende Kino "Metropolis" zu arbeiten. Dort lernt er mit Cameron und Hightower nicht nur neue Freunde kennen, sondern auch Kirstie - und mit ihr die Liebe. Doch während die jugendlichen Abenteuer immer intensiver werden, kämpft Sams krebskranke Mutter zuhause um ihr Leben. Und so erlebt Sam einen Sommer, den er nie wieder vergessen wird...

Gleich im ersten Satz bereitet Benedict Wells in seinem neuen Roman "Hard Land" seine Leser:innen darauf vor, was sie erwartet: "In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb", heißt es dort aus Sicht des Ich-Erzählers Sam. Und auch wenn Wells später zugibt, sich dabei an "Salzwasser" von Charles Simmons orientiert zu haben, gibt es wohl kaum einen passenderen Einstieg in einen Roman, der die große Bandbreite der jugendlichen Gefühle auffährt - und ganz nebenbei auch noch berühmte erste Romansätze als Unterthema behandelt.

"Hard Land" kreiert eine Stimmung, die Protagonist Sam selbst wohl als "euphancholisch" - welch wunderbares Wort - bezeichnen würde. Da ist einerseits die Aufbruchstimmung Sams, der in diesem Sommer 1985 Schritt für Schritt erwachsen wird und bei dem durch seine neuen Freundschaften eine Euphorie entfacht wird, die sich auch auf die Leser:innen überträgt. Es überwiegen allerdings die melancholischen Momente. Etwa wenn die vier Hauptfiguren gemeinsam auf dem Dach des untergehenden Kinos sitzen und wissen, dass drei von ihnen schon bald Grady verlassen werden. Oder wenn Sam an seinem 16. Geburtstag drei ganz besondere Prüfungen bestehen muss.

In nahezu jedem Moment erkennt man die Liebe und Warmherzigkeit, die Benedict Wells seinen Figuren und auch der fiktiven Kleinstadt Grady zukommen lässt. Insbesondere Sam wächst den Leser:innen unmittelbar ans Herz. Man hofft, leidet, liebt und trauert mit ihm. Und auch dass "Hard Land" im Vergleich zu den von Wells im Nachwort gelobten Werken Joey Goebels ein ganzes Stück braver ausfällt, schadet der Qualität des Romans nicht. Im Gegenteil: Selten spürte ich beim Lesen eines Coming-of-Age-Romans diese allumfassende Wärme, die ganz ohne Zynismus auskommt.

Selbst die Zweifel, die ich vor dem Lesen hatte, ob ein deutschsprachiger Autor, der 1984 geboren wurde, wohl die Stimmung eines US-Nestes des Jahres 1985 einfangen kann - und warum der Roman in den USA und nicht in Deutschland spielt - verpufften ob der verblüffenden Nostalgie des Textes, der in seinen stärksten Momenten auch an Stephen Kings "Stand By Me" oder die wunderbare erste King-Verfilmung von "Es" erinnert.

So ist "Hard Land" ein Roman geworden, der mich mehrfach zum Lachen, doch genauso oft zum Weinen brachte. Eine Kunst, die Benedict Wells hier hervorragend beherrscht, und mich sehr berührt hat.

Bewertung vom 13.08.2021
Daddy
Cline, Emma

Daddy


sehr gut

2016 sorgte Emma Cline mit ihrem Debütroman "The Girls" auch in Deutschland für Aufsehen. Dass sie mit "Daddy" eine Sammlung von Erzählungen folgen lässt, ist eine mutige Entscheidung - die sich allerdings gelohnt hat. Sieben der zehn Storys sind in den vergangenen Jahren bereits in namhaften Magazinen wie dem "New Yorker" erschienen, doch den meisten deutschen Leser:innen vermutlich unbekannt.

Nicht umsonst heißt der Erzählband "Daddy", denn in den zehn "Storys", so der Untertitel des Verlags, spielen die Väter sehr oft eine zentrale Rolle. Nicht selten sind diese Väter von Ängsten geplagt: die Angst des übergriffigen Vaters vor der Vergangenheit, die Angst des gealterten Vaters vor der Bedeutungslosigkeit, die Angst des werdenden Vaters vor der Zukunft. Meisterlich beherrscht Emma Cline dabei das Spiel mit den Erwartungen und der Fantasie der Leser:innen. Vieles wird nur angedeutet, manchmal sogar nur zwischen den Zeilen. Längst hat sich der Leser sein Urteil gebildet, eine Figur vielleicht sogar schon verurteilt. Und selbst die Enden der Erzählungen sind häufig so offen, dass es einem selbst überlassen wird, die Geschichte im Kopf weiterzuspinnen.

Überrascht wird man durch feine Untertöne in den Dialogen und Beschreibungen, durch Figuren, deren Glück irgendwann verloren ging und die nun umso fester darum kämpfen, es zurückzuerobern: illusionslos und immer ein wenig an der Grenze zur Einsamkeit, manchmal sogar schon darüber hinweg.

Doch trotz der überwiegend traurigen Figuren gelingt es Emma Cline seltsamerweise nur manchmal, mich mit diesen zu berühren. Hervorheben möchte ich die Erzählungen "Sohn von Friedman" und "Marion", bei denen ich genau diesen Zugang zu den Charakteren fand und von denen gerade die letztgenannte mich auch atmosphärisch mitgerissen hat. Friedman, ein einsamer, gealterter Regisseur oder Produzent, dessen Sohn seinen ersten Film präsentiert, ist eine Figur, die mir naheging. Fast schon unsichtbar verschwindet er bei allen, die ihn umgeben, in der Bedeutungslosigkeit - tragisch. In "Marion" lernen wir ein elfjähriges Mädchen kennen, das sich in seiner Einsamkeit eine etwas ältere Freundin aussucht, die in einer Hippie-Kommune lebt - und scheitert, obwohl es sich so stark bemüht.

In einigen anderen Storys fehlte mir genau dieser Zugang zu den Figuren, sie blieben fremd und unnahbar, insbesondere wenn sie sich im Drogen- oder Alkoholrausch befanden.

Ein kleinerer Kritikpunkt, der nicht darüber hinwegtäuscht, dass es sich bei Emma Clines "Daddy" um eine lesenswerte Sammlung von Erzählungen handelt: überraschend, pointiert und mit viel Freiraum für die Fantasie der Leser:innen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.08.2021
Dresden
Göring, Michael

Dresden


sehr gut

Fabian ist 20, als er 1975 erstmals in die DDR reist, um die Brieffreundin seiner Tante und deren Familie in Dresden zu besuchen. Es entwickelt sich eine langjährige Freundschaft, in deren Verlauf Fabian merkt, wie sich die Hoffnungen und Wünsche der Familie Gersberger ändern. Und auch Fabian selbst verändert sich durch seine Erfahrungen in dieser Familie - und deren unerschütterlichen Zusammenhalt...

Von Michael Göring kannte ich bisher den wunderbaren Vorgängerroman "Hotel Dellbrück", und auch "Dresden - Roman einer Familie" hat mich überzeugt und berührt. Das Besondere ist vor allem die große Empathie, die der Autor seinen Figuren zukommen lässt. Ihre Ängste und Probleme nimmt er ernst, für ihre Fehler zeigt er Verständnis. Dadurch überträgt sich die familiäre Wärme des Romans fast zwangsläufig auf die Leser:innen. Zudem verurteilt er die DDR nicht, ist aber auch weit von einer "Ostalgie" entfernt.

In wechselnden Kapiteln begleitet man einerseits die Freundschaft Fabians zur Familie Gersberger in den Jahren 1975 bis 1989, während andererseits die Flucht Kais - des Sohns der Familie Gersberger - 1989 über die Prager Botschaft in den Westen geschildert wird. Diese Konstruktion gelingt Michael Göring sehr gut, sie sorgt für Abwechslung und spannende Momente. Gleichzeitig betrachtet man mit Faszination die Dialoge des Romans und Geschehnisse in der DDR, aus denen man fast beiläufig sehr viel Wissenswertes aus der finalen Phase des Staates erfährt. Gerade mit dem Wissen, dass einen Monat später die Mauer fallen sollte, erlebt man so fast ungläubig die Anstrengungen Kais auf seinem Weg in den Westen.

Die angesprochenen Dialoge sind dabei zugleich Stärke und Schwäche von "Dresden". Einerseits wirkt es ungemein authentisch, wenn sich die Figuren über ihre Nöte und Freuden austauschen, und lässt die Menschen zu Wort kommen, die diese Zeit wirklich miterlebt haben und oft ungehört bleiben. Auf der anderen Seite wird der Dialog als Stilmittel fast erschöpfend eingesetzt, so dass kaum Raum und Zeit für innere Monologe und Gedanken der Figuren bleiben.

Ein weiterer kleinerer Kritikpunkt ist die Schattierung der Charaktere. Zwar benötigt nicht jeder Roman einen klassischen (Anti-)Helden, doch bei "Dresden" hatte ich vor allem bei den Eltern Gersberger - Gabi und Ekki - das Gefühl, dass sie einfach zu gut sind, um wahr zu sein. Vielleicht ist das eine zynische oder abgeklärte Sicht, doch streckenweise fühlte ich mich durch die alles durchdringende Liebe der beiden ein wenig übersättigt.

Doch kann man das Michael Göring zum Vorwurf machen? Der Autor selbst hat seit mehr als 45 Jahren Freunde in Dresden, wie wir im Nachwort erfahren. Sollte er also eigene Erfahrungen dieser Freundschaft in die Romanhandlung eingeflossen haben lassen, so spürt man stark diese freundschaftlichen Gefühle - und die Liebe zu seinen Figuren.

Und letztlich ist diese Wärme, die der Roman von Beginn bis zum Ende ausströmt, auch das, was mich stark berührt hat. Der finale Kniff war da zwar keine große Überraschung mehr, ändert jedoch nichts an der Qualität dieses lesenswerten Buches. Michael Göring leistet mit ihm im Jahr, in dem wir auch dem Mauerbau vor 60 Jahren gedenken, einen wunderbaren Beitrag gegen das Vergessen, den ich dringend auch jüngeren Leser:innen empfehlen kann, die die DDR heutzutage vielleicht nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen.

Bewertung vom 01.08.2021
Besichtigung eines Unglücks
Loschütz, Gert

Besichtigung eines Unglücks


ausgezeichnet

Im Dezember 1939 prallen im sachsen-anhaltinischen Genthin zwei Züge aufeinander. Bis heute ist es das schwerste Zugunglück der deutschen Geschichte. Der in Genthin geborene Gert Loschütz widmet ihm seinen neuen Roman "Besichtigung eines Unglücks". Es ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Roman geworden.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass dies der erste Roman des Autors ist, den ich gelesen habe. Völlig unverständlich, denn Gert Loschütz präsentiert sich in "Besichtigung eines Unglücks" als herausragender Erzähler mit feinem Gespür für zwischenmenschliche Töne und einer äußerst gelungenen Komposition des Textes.

Der erste Abschnitt widmet sich in szenischer Darstellung dem Zugunglück fast protokollarisch. Journalist Thomas Vandersee, Erzähler und Protagonist des Romans, erfährt fast beiläufig nach Jahrzehnten über das Unglück in seinem Heimatstädtchen und recherchiert erst stärker darüber, als er eine mögliche Verbindung zur Geschichte seiner Mutter Lisa darin erkennt. Diese protokollarische Rekonstruktion vermittelt eine regelrechte Sogwirkung. Wo die Befürchtung groß sein könnte, dass sich ein Autor in seinen Details verliert, ist diese bei Gert Loschütz völlig unbegründet. Durch die Unmittelbarkeit der Geschehnisse fühlte ich mich zeitweise wie in einem Film. Loschütz streift hier zudem das Genre eines Kriminalromans, vermittelt durch seinen Schreibstil aber zusätzlich eine große Melancholie, die dem Genre oft fehlt.

In den folgenden Abschnitten widmet sich Erzähler Vandersee den einzelnen Figuren und Schicksalen, die unmittelbar mit dem Unglück zusammenhängen - und findet sich urplötzlich in seiner eigenen Familiengeschichte wieder. Insbesondere die schwer verletzte Carla Finck bleibt für Thomas ein Mysterium, das auf ihn eine seltsame Faszination auslöst. Warum saß Carla mit einem anderen Mann als ihrem Verlobten Richard im Zug und gab sich später gar als die Ehefrau des Verstorbenen aus?

All dies präsentiert Loschütz mit viel Gefühl und Empathie, ohne auch nur annähernd kitschig zu werden. Durchgehend strahlt der Roman eine Ernsthaftigkeit und Eleganz aus, die in einer wirklich hinreißenden Auflösung münden. Ohne etwas über das Finale verraten zu wollen, kenne ich wohl kaum ein berührenderes und traurigeres in der jüngeren deutschsprachigen Literatur.

So ist "Besichtigung eines Unglücks" für mich einer der stärksten Romane des Jahres geworden, der sowohl inhaltlich als auch formal überzeugt und mich in beiden Punkten immer wieder überraschen konnte. Ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal Ähnliches gelesen zu haben. Nachholen muss ich jetzt nur noch, weitere Romane von Gert Loschütz zu lesen, auf die ich mich jetzt schon freue.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.07.2021
Niemehrzeit
Dittloff, Christian

Niemehrzeit


ausgezeichnet

2018 sterben innerhalb von vier Monaten die Eltern des Autoren. Wie überlebt man solche Schicksalsschläge, wie geht man mit ihnen um? Darüber schreibt Christian Dittloff in seinem Buch "Niemehrzeit".

Es ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Buch geworden: bemerkenswert ehrlich, bemerkenswert persönlich, bemerkenswert berührend - und bemerkenswert tröstlich. Denn der Autor lässt die Leser:innen unmittelbar teilhaben an seiner Trauer, aber auch an den Erinnerungen, der Liebe und Freude. Dabei schafft es Dittloff, dass sein Text von einer Melancholie und Nostalgie untermalt ist, die dennoch nie kitschig wirkt.

Der Sprachstil ist zugänglich, angemessen, manchmal poetisch und verursachte bei mir in sehr vielen Momenten eine Gänsehaut. Gerade wenn man selbst seine Eltern verloren hat, ist dieses Buch ein hilfreicher und liebenswerter Begleiter. Denn so wie Christian Dittloff seinen Trost im Schreiben und Lesen sucht und findet, so erlebt man als betroffener Leser diesen unmittelbar in "Niemehrzeit" selbst.

Dittloff ist ein sensibler und empathischer Erzähler, der sich nicht in den Vordergrund drängt, obwohl es seine so persönliche Geschichte ist. Er selbst sagt gegen Ende des Buches, es gehe ihm nicht um Mitleid, doch dieser Verdacht keimt ohnehin zu keiner Zeit auf.

Es sind gerade die kleinen Momente, die mit ihrer Unmittelbarkeit anrühren. Wenn der Autor sich auf die Suche nach alten Fahrplänen begibt, um nachvollziehen zu können, in welcher S-Bahn sich seine Eltern wohl kennengelernt haben. Wenn er die Fernsehzeitung seiner Mutter durchstöbert, um zu begreifen, welche Sendung sie sich wohl vor ihrem Tod angesehen haben könnte. Oder wenn er eine "Faktenliste" über seinen Vater erstellt und dabei im ersten Punkt fast lapidar feststellt: "Mein Vater war lieb."

So ist "Niemehrzeit" ein insgesamt beeindruckendes Buch, dessen mehrfache Lektüre zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebens sicherlich lohnenswert ist. Für mich persönlich war es eine wichtige Lektüre, die lange nachwirkt und der ich viele Leser:innen wünsche.

Bewertung vom 29.07.2021
Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
Zhang, C Pam

Wie viel von diesen Hügeln ist Gold


ausgezeichnet

Die von chinesischen Einwanderern abstammenden Geschwisterkinder Lucy und Sam begeben sich im Wilden Westen des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit dem gestohlenen Pferd Nellie auf eine abenteuerliche Reise. Ihre schwere Last: eine Truhe der verstorbenen Mutter, darin die Leiche des Vaters. Doch die beiden sind nicht nur auf der Suche nach einer Begräbnisstätte...

In ihrem bemerkenswerten Debütroman "Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" erzählt die 1990 in Peking geborene C Pam Zhang eine nahezu unglaublich wirkende Geschichte, die sich komplett auf die Sichtweise ihrer jungen Protagonist:innen einlässt. Es ist nicht nur sprachlich ein Fest. Zhang schafft es auch, so grundlegende Themen wie (sexuelle) Identität, Herkunft, Heimat, Familie, Tod und Trauer miteinander zu verbinden, dass alles wie aus einem Guss wirkt. Dabei gelingt es der Autorin mehr als einmal, mit gesellschaftlichen - und literarischen - Konventionen zu brechen und die Leser:innen immer wieder zu überraschen. In poetische Beschreibungen der schrecklich-schönen Natur mischen sich in Rückblicken brutale väterliche Gewaltausbrüche. Ein Tigerschädel liegt wie selbstverständlich neben einem Bisonskelett. Ein Kapitel wird "Pflaume" betitelt, dreht sich aber um das verwesende männliche Geschlechtsteil des Vaters. Immer wieder hält Zhang den Leser:innen den Spiegel vor, spielt mit den Erwartungen und den vorgefertigten Meinungen, um in einem nächsten Kapitel alles über den Haufen zu werfen und die Geschichte aus einer völlig anderen Perspektive zu erzählen. An der Grenze zum magischen Realismus lässt Zhang Geisterstimmen in den Wind hineinfließen und verwirrt damit nicht nur Lucy.

Wo sich andere Autor:innen verheben könnten, schafft es Zhang in ihrer Mischung aus Coming-of-Age-, Abenteuer- und Familienroman fast spielerisch, die Spannung und das sprachliche Niveau hochzuhalten. Während die ein Jahr ältere Lucy die eigentliche Hauptfigur ist, hatte es mir vor allem das jüngere Geschwisterkind Sam angetan. Insbesondere im überragenden ersten Teil des Romans ist Sam so voller Wut und innerer Zerrissenheit, dass ich fast schon körperlichen Schmerz spürte und mich komplett in dieser Figur verlor.

Und auch wenn die zweite Hälfte des Romans den Vergleich mit der einzigartigen ersten verlieren mag, ist sie keinesfalls enttäuschend. Die zentrale Frage des Buches "Was macht ein Zuhause zum Zuhause?" zieht sich konsequent wie ein roter Faden durch das Geschehen, um Lucy und Sam letztlich ganz unterschiedliche Antworten darauf finden zu lassen.

Man muss sicherlich kein großer Prophet sein, um vorauszusagen, dass man von C Pam Zhang noch viel hören wird. Sämtliche amerikanischen Vorschusslorbeeren sind berechtigt, und es ist der Autorin und dem Roman zu wünschen, dass das Buch auch in Deutschland für die nötige Aufmerksamkeit sorgen wird. In diesem Zusammenhang sei auch die großartige deutsche Übersetzung von Eva Regul erwähnt.

"Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" ist ein bemerkenswertes Buch von eindringlicher Intensität. Aufregend, überraschend und mit Themen wie Rassismus, der Ausbeutung der Natur und Fragen nach der sexuellen Identität äußerst zeitgemäß - ein echtes Ereignis.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.07.2021
Zu den Elefanten
Karoshi, Peter

Zu den Elefanten


sehr gut

Kulturwissenschaftler Theo steckt mit 40 Jahren in einer Lebenskrise. Beruflich und privat scheint es keine großen Veränderungen zu geben, zudem vereinsamt er immer mehr. Gut, dass ihm im Urlaub die Idee kommt, gemeinsam mit seinem neunjährigen Sohn Moritz, eine waghalsige Reise zu unternehmen: Die beiden wollen sich - in entgegengesetzter Richtung - auf die Spuren des Elefanten Soliman begeben, der Mitte des 16. Jahrhunderts gemeinsam mit dem zukünftigen Kaiser Maximilian von Spanien aus über die Alpen nach Wien wanderte. Doch von Beginn an steht das Unternehmen unter keinem günstigen Stern...

"Zu den Elefanten" von Peter Karoshi ist eine Novelle auf sprachlich hohem Niveau, die von den Leser:innen ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit fordert, um der Handlung und den Beweggründen der Figuren folgen zu können. Zu Beginn wirkte die Sprache auf mich ein wenig sperrig, was aber gewollt ist, denn Kulturwissenschaftler Theo, der mit seinem "Reisetagebuch" gleichzeitig der Erzähler ist, kann seinen wissenschaftlichen Hintergrund eben nicht so einfach leugnen. Doch je länger die Novelle andauerte, desto mehr fand ich mich mit dieser Sprache zurecht, die irgendwann eine regelrechte Sogwirkung bei mir entfachte.

Ein großer Pluspunkt war für mich zudem die melancholische Stimmung, die dem Buch von Beginn an wie ein roter Faden folgt und bis zum bewegenden Ende auch nicht nachlässt. Protagonist Theo umweht ein gewisser Weltschmerz, zudem sorgen die berührenden Naturbeschreibungen für eine äußerst gelungene Atmosphäre.

Ohne etwas verraten zu wollen, kommt es auf der gemeinsamen Reise von Vater und Sohn zu einem entscheidenden Wendepunkt, durch den bei mir zwischenzeitlich eine gewisse Genervtheit vom Protagonisten, gepaart mit einer kleineren Lesemüdigkeit auftrat. Theo fürchtet sich vor sich selbst, vor Fremden, vor der Reise, vor dem Altern, vor dem Nicht-dazu-Gehören. Das Zentrum der Erzählung lenkt sich von der Vater-Sohn-Reise und der Soliman-Thematik zunehmend auf die Hauptfigur und dessen doch recht schwere persönliche Krise. Dies bedauerte ich, denn gerade der Blick auf die gegenläufige Reise und auf das Vater-Sohn-Verhältnis waren für mich die interessantesten Aspekte der Novelle. Zunehmend verliert sich Theo in immer unrealistischer werdenden Situationen, in denen er sich zudem auch noch konsequent falsch verhält. Dadurch weist das Buch in meinen Augen in der Mitte kleinere Längen auf.

Doch das konsequente und sehr gelungene Ende, das zudem die Mehrdeutigkeit des Titels klug vor Augen führt, hat mich letztlich wieder versöhnt. So ist "Zu den Elefanten" eine kluge Novelle, die zwar nicht alle meine Erwartungen erfüllt hat, mich aber zu keinem Zeitpunkt kalt ließ und zudem mit einigen Überraschungen aufwartet. Über die sprachliche Erhabenheit sollte es trotz einiger kleiner Fäkalausrutscher ohnehin keine Zweifel geben. Mit ihrer Nachdenklichkeit wirkte sie bei mir lange nach.

Bewertung vom 09.07.2021
Zum Sterben zu viel
Kinskofer, Lotte

Zum Sterben zu viel


ausgezeichnet

Pasing, 1922: In der Münchner Vorstadt wird der Heimatdichter Carus von Waldfels auf dem Weg zum Bahnhof ermordet. Die Leiche des erstochenen Dichters weist eine Verletzung an der Schläfe auf. Der Münchner Oberkommissär Benedikt Wurzer macht sich auf, das Rätsel um den Casanova zu lösen. Schnell findet sich mit dem Schreiner Benno Stöckl ein Verdächtiger, der zudem ein Motiv gehabt hätte: von Waldfels machte seiner Frau Agnes schöne Augen. Nach Bennos Verhaftung ist es vor allem Agnes, die den Kampf um ihren Mann nicht aufgeben mag...

"Zum Sterben zu viel" von Lotte Kinskofer ist ein historischer Krimi, der zur Zeit der Weimarer Republik spielt. Anders als die zahlreichen Berlin-Krimis aus dieser Zeit ist der Roman in München und Umgebung angesiedelt. Schon dadurch hebt er sich wohltuend aus der Masse ab, denn Kinskofer macht die großen Unterschiede zwischen Stadt- und Landleben deutlich und betont die klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Seinen besonderen Charme gewinnt der Roman auch durch den Lokalkolorit und vor allem durch den Dialekt, den die Figuren sprechen. Die Autorin spielt mit diesem Dialekt und gibt den aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammenden Charakteren dadurch eine ganz eigene Stimme.

Der Kriminalfall an sich sorgt für solide Spannung, auch wenn ich in der Täterfrage - trotz zahlreicher gelungener falscher Fährten - relativ früh auf der richtigen Spur war. Für mich stand die Suche nach dem Täter aber auch gar nicht im Vordergrund, da "Zum Sterben zu viel" viel mehr bietet. Lotte Kinskofer beweist nämlich vor allem in der Figurenzeichnung ein sehr gutes Gespür. Ihre Empathie ist bei den Armen und Schwachen, die sich spielend leicht auf die Leser:innen überträgt. Insbesondere die Frauenfiguren Agnes und Martha sorgen für bewegende Momente. Wie schwer es die Frauen zu dieser Zeit hatten, macht Agnes mit dem bitteren Ausruf "A Weib alloa is halt a Depp" gegenüber Oberkommissär Benedikt Wurzer mehr als deutlich. Trotz aller Widerstände entpuppt sich Agnes aber als große Kämpferin und als eigentliche Heldin dieses Romans, der auch damit überrascht, sich nicht auf einen, sondern gleich auf mehrere Protagonist:innen zu konzentrieren.

Die Figur des Ermittlers Wurzer ist ebenso gelungen. Der eigentlich konservative Oberkommissär entpuppt sich als Liberaler mit dem Herz am rechten Fleck, der sich bei aller Grausamkeit der Fälle seine Menschlichkeit bewahrt. Überhaupt ist es ein großes Plus des Romans, dass die Figuren stets Schattierungen aufweisen. Von den zentralen Charakteren ist - vielleicht mit Ausnahme von Agnes - keiner einem klassischen Gut-Böse-Schema zuzuordnen. Sie alle machen ihre Fehler und haben ihre Zweifel.

Als kleine Schwäche des Romans habe ich empfunden, dass die Gedanken der einzelnen Figuren zu stark ausgebreitet werden. Deutlich wird das vor allem beim Anwalt Wolf Strate. Die wohl ambivalenteste Figur des Romans wird oft von Selbstzweifeln geplagt und hadert mit sich, ob sie wohl gerade das Richtige tue. Lotte Kinskofer führt diese Gedanken sehr oft aus, dabei wären die Leser:innen auch von selbst darauf gekommen. Hier hätte ich mir mehr Vertrauen in die Leser:innen gewünscht. Hinzu kommt eine Wendung im Finale, die wohl eingebaut wurde, um die Mehrheit der Leser:innen zufriedenzustellen. Mich selbst hat diese Wendung, auf die ich inhaltlich nicht eingehen kann, ohne etwas zu verraten, verärgert.

Insgesamt ist "Zum Sterben zu viel" aber ein berührender und lesenswerter Historienkrimi, der mit seinem lokalen Charme und den bewegenden Figuren punktet. Ich gebe 4,5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 30.06.2021
Das brennende Haus
Wilder, Kyra

Das brennende Haus


sehr gut

Auch wenn der Klappentext fälschlicherweise von einer Protagonistin namens Erika spricht, folgen wir in Wahrheit der Ich-Erzählerin I, die ihren eigenen Vornamen genauso auf den Anfangsbuchstaben reduziert wie die ihres Mannes und der beiden Kinder. I ist gerade mit M, Tochter E und Babysöhnchen B von den USA in die Schweiz, genauer nach Genf, gezogen. Ihr Mann ist beruflich so stark eingebunden, dass er kaum zuhause ist. Und so ist es an I, die Zeit mit ihren beiden Kindern in der kleinen, engen Wohnung zu verbringen. Ist sie einmal draußen, versteht sie noch nicht einmal die fremde Sprache. Und so zieht sich die Erzählerin nach und nach zurück, isoliert sich so stark, dass die Grenze zwischen Mutterliebe und Wahnsinn irgendwann so schmal ist, dass sie überschritten wird...

"Das brennende Haus" ist der bemerkenswerte Debütroman Kyra Wilders, die ihrerseits mit ihrer Familie aus den Staaten in die Schweiz zog, wo sie bis heute lebt. Das Faszinierendste an ihm ist die Stimme der Erzählerin. Die Leser:innen müssen sich auf diese Stimme verlassen, wenn sie die dargelegte Handlung glauben wollen. Problematisch wird es immer dann, wenn der Roman Dinge auslässt, verschweigt - oder sogar umdeutet, wie im fast selbst wahnsinnig machenden dritten Teil.

Aufgeteilt ist "Das brennende Haus" in eben drei Teile. Während man sich im ersten Teil der Erzählerin und ihrer Familie annähert, befürchtet man im zweiten Teil das Schlimmste. Immer wieder zerfasert die Handlung, indem sie in kursiver Sprache Schritt für Schritt klar macht, wo sich die Erzählerin in diesem zweiten Teil befindet.

Und so schleicht sich mehr und mehr das Grauen ein. Die Ich-Erzählerin selbst sieht und hört in ihrem Haus plötzlich fremde Gesichter und Stimmen und sieht sich in einer besonders beeindruckenden Szene plötzlich Hunderten Frauen in grünen Kleidern ausgesetzt - weil die hübsche Assistentin ihres Mannes ein solches Kleid in der vorherigen Begegnung trug. In diesen Szenen nähert sich "Das brennende Haus" dem Horror-Genre, überschreitet die Grenzen dazu vielleicht sogar auf psychologischer Ebene.

Und auch wenn die Erzählerin im Finale versucht, das Furchtbare ungeschehen zu machen, haben sie die Leser:innen längst durchschaut. Hier gibt es nichts mehr zu beschönigen, nichts wiedergutzumachen.

Obwohl der Roman nur gut 250 Seiten aufweist, hatte ich an einigen Stellen das Gefühl, dass noch weniger sogar mehr gewesen wäre. Denn einige liebevolle Rituale, die I mit ihren Kindern durchführt, wiederholen sich doch sehr oft, genauso wie zentrale Nebenfiguren wie eine andere Mutter, die von I "Nell" genannt wird, keine große Entwicklung aufweisen.

Dennoch ist "Das brennende Haus" ein faszinierender Roman, bei dem sich das Grauen auf leisen Sohlen anschleicht und sich nicht mehr aus den Gedanken vertreiben lässt. Originell, radikal - und sehr bedrohlich.

Bewertung vom 26.06.2021
Die fremde Spionin / Die Spionin Bd.1
Müller, Titus

Die fremde Spionin / Die Spionin Bd.1


sehr gut

Im Ostberlin des Jahres 1961 erhält die 21-jährige Ria eine Stelle im Ministerium für Außenhandel. Was ihr Chef Alexander Schalck nicht weiß: Die junge Frau wurde kurz zuvor vom westdeutschen BND als Agentin engagiert. Ihr Motiv: Rache, denn mit zehn Jahren verlor sie aufgrund der Stasi nicht nur ihre Eltern, sondern wurde auch noch von ihrer jüngeren Schwester Jolanthe getrennt. Schlecht allerdings, wenn der Feind schnell Lunte wittert - und mit dem Top-KGB-Agenten Sorokin einen Mann auf sie ansetzt, der auch vor Morden nicht zurückschreckt...

Titus Müllers "Die fremde Spionin" ist der Auftakt der großen "Spionin-Trilogie", dessen Nachfolger in den nächsten beiden Jahren erscheinen sollen. Es ist ein insgesamt gelungener Auftakt, denn Müller schafft es fast spielerisch, historische und fiktive Figuren zu einer so spannenden wie unterhaltsamen Mischung zu verbinden. Doch während Schalk, Honecker und Ulbricht im wahren Leben die Strippenzieher waren, konzentriert sich der Autor vor allem auf die fiktiven Widerparte Ria und Sorokin.

Sehr positiv fand ich, dass Titus Müller die Figuren differenziert darstellt, sie mit all ihren Stärken und Schwächen präsentiert - egal, für welche Seite sie letztlich arbeiten. Bis auf den Stasi-Offizier Bernd Eickhoff, der eine von vorn bis hinten unangenehme Nebenfigur ist, gibt es bei seinen Charakteren kein Schwarz-Weiß.

Während Ria die eigentliche Heldin des Romans sein soll, bleibt ihre Figur im Vergleich zu ihrem Gegenspieler Sorokin jedoch ein wenig blass. Ich konnte ihr Handeln oft nicht nachvollziehen, sie riskiert viel zu viel. Obwohl ihr Rachemotiv so groß ist, hatte ich häufig das Gefühl, sie nimmt ihren Auftrag einfach nicht ernst genug. Viel zu vage, zu riskant, bleibt ihre Tätigkeit.

KGB-Agent Sorokin hingegen, der den Roman mit einem wunderbar ambivalenten Auftritt auch eröffnen darf, handelt - bis auf eine desaströse Ausnahme gegen Ende des Buches - stets nachvollziehbar. Die inneren Konflikte, die Zerrissenheit der Figur, die Titus Müller nicht nur bei der Geburt seines Sohnes, sondern auch beim Weinen in einem Amsterdamer Museum hervorragend herausgearbeitet hat, sind echte Höhepunkte des Romans, die den Agenten zur unbestritten spannendsten Figur machen.

Seine stärksten Momente hat "Die fremde Spionin", wenn der Roman die Haupthandlung mal ein wenig ruhen lässt. Da lässt der Autor den Blick seitenweise über die geteilte Stadt gleiten, um ganz am Ende der Szene mit einem wahren Paukenschlag in die Haupthandlung zurückzukehren. Da rattern eines Nachts zwei Züge aneinander vorbei, in denen sich zwei Kontrahenten für den Bruchteil einer Sekunde sehen könnten, wenn sie aus den Fenstern blickten. Ganz große Gänsehautmomente, von denen ich mir viele mehr gewünscht hätte.

So schritt mir die Haupthandlung dann in vielen Momenten auch zu schnell voran. Zu schnell wird Ria enttarnt, zu schnell entscheidet sie sich mal für die eine, dann für die andere Seite. Zu vage bleiben die inneren Konflikte der jungen Frau, bei denen Müller an anderer Stelle ja beweist, dass die Zeit für solche Dinge durchaus vorhanden gewesen wäre. Hier regieren die Dialoge, von denen es etwas weniger hätte geben können.

Doch insgesamt ist "Die fremde Spionin" ein lesenswerter und unterhaltsamer Historienroman geworden, der die Genregrenzen des Agententhrillers streift, ohne sich um eine Einteilung zu scheren. Gerade in diesem Jahr, in dem wir wohl noch häufig des Mauerbaus vor 60 Jahren gedenken werden, wird das Buch hoffentlich viel Aufmerksamkeit erhalten - auch bei der jungen Generation, für die die DDR und der Mauerbau aufgrund ihres Geburtsjahrs reine Geschichte sind.